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Title
Kultur: Ein Netz von Bedeutungen. Analysen zur symbolischen Kulturanthropologie


Editor(s)
Steger, Florian
Published
Extent
232 S.
Price
€ 30,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Christian Klein, Berlin

Kaum jemand dürfte ernsthafte Bedenken hegen, wenn man Kultur als ein „Netz von Bedeutungen“ bezeichnet. Gab es früher nur Spinnen-, Einkaufs-, Straßenbahn- oder soziale Netze, so hat sich der Bereich dessen, was man als Netz bezeichnet, im Computer-Zeitalter sprunghaft erweitert. Wo der Begriff „Netzwerk“ zu den häufigsten Metaphern der Beschreibung von Gedächtnisstrukturen avanciert, ist die Vorstellung vom Internet als „Weltgehirn“ nicht abwegig – die Grenzen zwischen Inhalten und Strukturen verwischen. Warum sollte also eine Definition von Kultur als „Netz von Bedeutungen“ dem Alltagsverständnis widersprechen? Doch Florians Stegers Kulturbegriff, der dem von ihm herausgegebenen Sammelband den Titel gibt, ist nicht allein auf die Konjunktur einer Metapher zurückzuführen. Vielmehr ergibt er sich aus der Zugangsweise, die Herausgeber und Autoren gewählt haben und die konsequenterweise aus dem Untertitel des Bandes abzulesen ist: Wo „Analysen zur symbolischen Kulturanthropologie“ angekündigt werden, kann Clifford Geertz nicht weit sein. Aus Geertz’ Konzept der „dichten Beschreibung“ leitet sich denn auch der Ansatz des Bandes ab. Nach Geertz ist Kultur jenes selbst gesponnene Bedeutungsgewebe, in das der Mensch verstrickt ist. Die Beschaffenheit der Fäden, den Aufbau oder die Dynamik des Netzes zu analysieren, ist Aufgabe der symbolischen Kulturanthropologie.

Ursprünglich auf ein gemeinsam von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes ausgerichtetes Forschungskolloquium in München zurückgehend, basiert der Band, so Steger im Vorwort, auf der Überzeugung, „daß die Erforschung des Kulturbegriffs in engem Zusammenhang mit Aufklärungen über die Natur der Menschen steht“ (S. 7). Der Mensch sei ein Mängelwesen und seine Kulturleistungen, so Steger weiter, seien Versuche, diese Mängel zu kompensieren (ebd.). Zunächst setze sich der Mensch mit den natürlichen Gegebenheiten auseinander und bringe Leistungen hervor, die seine Lebensbedingungen verbesserten. Erst in einem zweiten Schritt, bei dem man sich intellektuell mit den Veränderungen kritisch auseinandersetze, würden Kulturleistungen hervorgebracht (S. 8). Kulturelle Identität sei dementsprechend nicht allein ein historisches Produkt, sondern auch ein soziales Konstrukt – erst im Wechselspiel sozialhistorischer und gesellschaftlicher Veränderungen sei sie zu erfassen. Hierzu müssten, so Steger weiter, kulturelle Leistungen betrachtet werden, „die durch einen komplexen Prozess hervorgebracht, in der Praxis des Umgangs mit ihnen transferiert und schließlich als Modus ihrer Reproduktion transformiert werden. Kulturen können demnach als Systeme von Bedeutung definiert werden, die semiotisch lesbare Darstellungsformen repräsentieren.“ (S. 8) Das klingt nicht nur kompliziert, sondern ist auch anspruchsvoll, ließen sich auf diesem Wege doch Fragen nach dem Umgang verschiedener Gesellschaften mit ähnlichen Problemen klären, wobei gerade den Unterschieden in der Bewältigung dieser Probleme besonderes Gewicht zukäme. Ein Ansatz, der nicht nur zeitliche Dimensionen und Fächergrenzen, sondern auch kulturelle Gräben zu überwinden verspricht. Es geht darum, den jeweiligen Bedeutungen von Kultur nachzugehen und zu erklären, unter welchen Bedingungen diese zustande kommen und über welche Zeichen und Symbole sie wie zu dechiffrieren sind. Kulturgeschichte, wie sie Steger versteht, ist vor allem eine Frage nach der gesellschaftlichen Symbolproduktion: Über Rituale und Gesten sollen Handlungen entschlüsselt werden (S. 12). Unter Zuhilfenahme von Geertz’ Konzept der „dichten Beschreibung“ soll diese Entschlüsselung möglich sein. Dabei steht hier – wie bei der textwissenschaftlich arbeitenden Kulturwissenschaft insgesamt – nicht die detaillierte (empirische) Beobachtung und Aufzeichnung kultureller Daten im Vordergrund, sondern die semiotische Erforschung kultureller Prozesse der Selbstauslegung. Kultur wird dabei als Text, d.h. als lesbare Zeichenfolge und interpretierbarer Handlungszusammenhang verstanden. Nur indem analysiert wird, wie und auf welcher Grundlage Menschen Handlung als Zeichen übersetzen, so die Prämisse, wird Kultur zugänglich.

Dass man sich, sobald man einer theoretischen Position besonderes Gewicht beimisst, der Kritik aussetzt, ist auch Steger bewusst – zumal Geertz’ Position nicht unumstritten ist, worauf Steger explizit verweist (S. 13). Doch haben sich die Beiträgerinnen und Beiträger dafür entschieden, den Vorwurf des theoretischen und methodischen Reduktionismus in Kauf zu nehmen, um die Vergleichbarkeit ihrer Studien zu gewährleisten. Eine Entscheidung, die angesichts der Diversität der Untersuchungsgegenstände durchaus zu begrüßen ist.

Der Band gliedert sich in vier Abteilungen: 1. Kulturelle Selbstverständnisse, 2. Identität als kulturelles Konstrukt, 3. Räume kultureller Symbolsysteme und 4. Lesbarkeit kultureller Handlungen. Die Grenzen zwischen den Abteilungen des Sammelbandes sind dabei fließend. Den ersten Teil eröffnet ein Beitrag des Münchener Literaturwissenschaftlers Gerhard Neumann über „Traum und Traumdeutung“, in dessen Zentrum die „Transformation kulturellen Selbstverständnisses um 1800“ steht. Ausgehend von einem Text Jean Pauls untersucht Neumann, in welchem Maße der Traum kulturelle Entwicklungen mitbestimmt. Der Wechsel vom Verständnis des Traums als eines transzendenten, von außen gesteuerten Geschehens hin zu einer Vorstellung, die den Traum als aus dem Unbewussten heraustretendes inneres Geschehen begreife, bestimme, so Neumanns These, die Veränderung des kulturellen Selbstverständnisses in Europa um 1800 (vgl. S. 26). Im zweiten Beitrag dieses ersten Teils beleuchtet Marcus Pyka das Reisen als Phänomen der kulturellen Selbstvergewisserung unter besonderer Perspektive: „Das Judentum in der Welt des XII. Jahrhunderts und der Reisebericht (Sefär Mass’ôt) des Benjamin von Tudela“. Pyka geht davon aus, dass dieser gut erhaltene Text keine Nacherzählung einer Fernreise sei, sondern eine bewusst gestaltete Schilderung jüdischen Lebens um 1170 (S. 56f.). In der Verknüpfung von Erlebnissen aus der eigenen Kultur mit solchen aus der bereisten bemühe sich der Autor „um ein Gesamtbild jüdischen Lebens zu seiner Zeit, im Kontext des jeweiligen nicht-jüdischen Umfelds“ (S. 71).

Im zweiten Teil des Bandes widmen sich zwei Beiträge der Frage nach der Herausbildung von Identität – was freilich nebenbei auch in Pykas Beitrag Thema ist. Birgit Schlachter befasst sich in ihrem Aufsatz „Die fragmentarische Identität. Eine kulturanthropologische Lektüre von Régine Robins ´L’immense fatigue des pierres’ im Spannungsfeld des Quebecer Identitätsdiskurses“ mit fiktionalen und theoretischen Texten der 1939 geborenen Franko-Kanadierin. Dabei legt Schlachter besonderes Augenmerk auf Robins Umgang mit ihrer jüdischen Vergangenheit und betont, dass Robins Identitätskonzept dabei nur im Wechselspiel von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs zu verstehen ist (S. 81). Hintergrund dieser Überlegungen ist der Wandel in der Identität der Einwohner Quebecs, die sich bis 1980 aus ihrem Selbstbewusstsein als frankophone Bevölkerung speiste und erst dann allmählich ein positives Verständnis für partikulare Identitäten entwickelte. Hieraus leitet Robin ihr Konzept der „fragmentarischen Identität“ (S. 81f.) ab: Identität sei nichts Homogenes, Fixierbares, auf das sich der Mensch berufen könne, verdampfe aber auch nicht gänzlich im dynamischen Prozess seiner Entwicklung – so Robins These aus dem Jahre 1994 (S. 82). Worin genau sich dieser Ansatz von früheren Überlegungen beispielsweise Paul Ricoeurs unterscheidet, bleibt offen. Der zweite Beitrag dieser Abteilung verfolgt den Suchprozess nach einer männlichen Identität. Bettina von Jagow und Florian Steger analysieren unter dem Titel: „Übergangsriten Zur Konstruktion von Männlichkeit am Beispiel der Orpheus-Mythe“, wie im Medium fiktionaler Rede das Geschlechterverhältnis bestimmt und über die Bedingungen der Herausbildung reflektiert wird. In Auseinandersetzung mit einem Gedicht Ingeborg Bachmanns zeigen die Autoren im Anschluss an die Fokussierung des antiken Mythos, wie die dort vorgegebene Sozialisation angesichts historischer Umwälzungen in der deutschen Nachkriegsliteratur problematisiert wird. Der Mythos wird so erkennbar als „kulturelles Narrationsmuster, das im Medium der Fiktion Geschlechterbeziehungen durchspielt, um zwischen Wirklichkeit und Imagination Liminalität zu begehen“ (S. 112).

Der dritte Teil besteht aus dem Beitrag von Simon D. Schweitzer über „Momente der Tradition und Innovation der spätägyptischen Religion“ sowie dem Aufsatz von Florian Steger „Der kulturelle Ort des Heilens – Die Koexistenz medizinischer Kulturen im Imperium Romanum“. Schweitzer versteht im Anschluss an Jan Assmann Religion als kulturelles Phänomen und will die Möglichkeiten der Sinnstiftung vor dem Hintergrund kultureller Transformation beleuchten (S. 117). Im Zentrum stehen Fragen wie: Welche kulturellen Phänomene wurden im Zuge der Entwicklung der ägyptischen Kultur verändert, und warum nur bestimmte? Steger führt aus, dass die medizinische Heillehre der römischen Kaiserzeit sowohl vom altorientalischen wie auch vom hellenischen Kulturkreis beeinflusst war, und fragt, wie sich diese Koexistenz auf die Alltagskultur auswirkte (S. 137).

Im abschließenden vierten Teil untersucht zunächst Hubertus Büschel unter dem Titel „Vor dem Altar des Vaterlandes Verfahren ritueller Sakralisierung von Monarch und Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts“ die Modifizierung der religiösen Liturgie und ihre Funktion bei der Inszenierung des Monarchen als volksnahem König. Im Zentrum steht hier die kulturelle Transformation von einem religiösen zu einem säkularstaatlichen Bereich, die sich über Riten und Kulte vollzieht. Wie entwickelt sich die Tradition der Nationalfeste, die Werte des Bürgertums ebenso aufgreift wie religiöse Gewohnheiten der breiten Masse (S. 163)? Bettina von Jagow beschreibt in ihrem Artikel „Kulturraum: Körper. Der klassische Tanz in 19. und 20. Jahrhundert“, Funktion, Inszenierung und Medialisierung des Körpers im Rahmen der kulturellen Handlung Tanz. „Der Körper“, so von Jagows These, „wird zur Schaltstelle der Diskussion um kulturelle Kategorien und zeigt sich als das Medium der Kristallisation, Subversion oder Dekonstruktion kulturellen Wissens“ (S. 185). Nicht zuletzt die Verleihung des Leibniz-Preises der DFG an „die erste deutsche Professorin für Tanzwissenschaft“, Gabriele Brandstetter, im Jahre 2003 hat die Bedeutung des Tanzes und zugleich seine Vernachlässigung durch die Wissenschaft vor Augen geführt. Von Jagows Beitrag sollte auch in dieser Hinsicht besondere Beachtung zuteil werden. Dem Initiationsritual der ostdeutschen Jugend widmet sich Wilma Kauke-Keçeci in ihren Ausführungen zur „Kulturkonstitution durch Ritualtexte – Am Beispiel der semiotischen Analyse der ostdeutschen Jugendweihe“, wobei sie überprüfen will, wie hierdurch kulturelle Bedeutung geschaffen, ausgedrückt und tradiert wird (S. 207).

Stegers Sammelband ist ein interessanter Versuch, die Tragfähigkeit einer theoretischen Position im Rahmen ihrer Anwendung zu zeigen. Konsequente Skeptiker von Ansätzen, die ungeachtet der geografischen und historischen Bedingungen überall nutzbringend anwendbar sein sollen, mögen weiter zweifeln. Clifford Geertz-Fans und solchen, die es werden wollen, sei der Band hingegen ebenso empfohlen, wie jenen, die sich über die verschiedenen Facetten dessen, was Kultur sein kann, informieren wollen. Eines dürfte am Ende der Lektüre des Bandes jedenfalls allen klar sein: Kultur ist ein Netz von Bedeutungen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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