Dieser Band begreift sich im Wesentlichen als Handreichung, die den Einstieg in die zwischenzeitlich überaus verwickelte Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften erleichtern soll. In ihrer kurzen Einleitung rekapitulieren Ansgar und Vera Nünning noch einmal wortreich den bereits vielfach betonten „pluralistischen“ oder „polyphonen“ Charakter der Kulturwissenschaften und ziehen ihn als Rechtfertigung heran für die „multiperspektivische“ Anlage ihres Einführungsbandes, der sich in insgesamt sechzehn Kapitel gliedert. Im Anschluss an einen sehr verständlich geschriebenen, zielgruppengerechten Überblick zu „Kulturbegriffen und Kulturtheorien“ von Claus-Michael Ort finden sich ein von Roland Posner verfasster Beitrag zur „Kultursemiotik“ sowie ein Artikel von Wilhelm Voßkamp, der sich dem seit einiger Zeit viel diskutierten Thema „Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft“ widmet. Es folgen dann ein von Doris Bachmann-Medick beigesteuerter Beitrag zur „Kulturanthropologie“, ein Abriss zur „Historischen und literarischen Anthropologie“ von Harald Neumeyer, ferner ein von Moritz Baßler geschriebener Eintrag unter dem Titel „New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies“. Dem nächsten, von Astrid Erll verfassten Überblick zum Arbeitsfeld „Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen“ schließen sich ein Beitrag zum Stichwort „Kulturgeschichte“ von Ute Daniel, ein Eintrag zur „Kultursoziologie“ von Rainer Winter sowie eine von Jürgen Kramer geschriebene Übersicht mit dem Titel „Kulturpsychologie und Psychoanalyse der Kultur“ an. Peter Finke zeichnet verantwortlich für den folgenden Artikel zur „Kulturökologie“, Alois Wierlacher und Corinna Albrecht stellen gemeinsam die vermutlich als Begriff noch wenig bekannte „Kulturwissenschaftliche Xenologie“ vor und Hans-Jürgen Lüsebrink wendet sich dann dem thematisch zuweilen recht ähnlich gelagerten Arbeitsfeld „Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation“ zu. Der Beziehung von „Kulturwissenschaften und Geschlechterforschung“ geht Renate Hof nach und am Ende des Bandes trägt Siegfried J. Schmidt sein Konzept einer „Medienkulturwissenschaft“ vor.
Für die Auswahl der Artikel, von denen im Folgenden einige ausführlicher gewürdigt werden, tragen Ansgar und Vera Nünning einsichtige Kriterien vor, räumen aber das unvermeidliche Fehlen von Arbeitsfeldern ein. Vollständigkeit kann angesichts der strukturellen Offenheit kulturwissenschaftlichen Forschens sowieso nicht angestrebt werden. Die Abfolge der Beiträge wird dagegen nicht begründet, was angesichts der zu erwartenden zielgerichteten Rezeptionshaltung der BenutzerInnen nicht überraschen wird. Die einzelnen Beiträge sind durchweg von ausgewiesenen ExpertenInnen verfasst, die beinahe alle auf den von ihnen dargestellten Gebieten mit einschlägigen Publikationen hervorgetreten sind. Dies verbürgt das im Einzelnen weitgehend hohe – bisweilen zu abstrakte – Niveau des Bandes, bringt aber auch polemische Verzerrungen mit sich oder allzu programmatisch vorgetragene Selbstanzeigen. Aus dem Rahmen fallen diesbezüglich sicherlich die Artikel von Peter Finke und Siegfried J. Schmidt. Wie die meisten anderen Beitragenden bemüht sich auch Finke, die wissenschaftsgeschichtliche Tiefendimension seiner Ausführungen zu verdeutlichen. Auch ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er die komplexen Überlegungen Gregory Batesons und anderer Vertreter der Kulturökologie nicht verständlich vortrüge. Seinem Beitrag fehlt jedoch die für kulturwissenschaftliche Ansätze charakteristische selbstreflexive Dimension, die gewöhnlich vorsichtiger abwägende Darstellungsformen hervorbringt und sich mit dem von ihm gewählten sendungsbewussten Duktus nicht verträgt. Besonders eklatant zeigt sich dies, wenn er darlegt, dass die Kulturökologie „die früher oft sachfremd überhöhte Grenze zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Verwandtschaft relativiert und die falsche Reklamation des Kulturellen als einer ausschließlich humanen Errungenschaft durch ein Kontinuumsmodell ersetzt“, um dann fortzufahren: „Wer das strukturelle Erbe der Natur in der Kultur kennt, kann besser als der Ignorant nachvollziehen, dass nicht eine beliebige Kultur mit ihrer evolutionären Mutter Natur verträglich ist und zukunftsfähige Kulturen ihre natürliche Basis schonen müssen.“ (S. 276) Angesichts dieser brachialen Rhetorik wird sich an der von Finke bedauerten Marginalität der Kulturökologie vorläufig nichts ändern.
Auch Schmidt entfernt sich weit von einer handbuchgerechten synthetisierenden Zusammenschau unterschiedlicher medienwissenschaftlicher Ansätze, die in den kulturwissenschaftlichen Diskussionen derzeit tonangebend sind. Dies hängt damit zusammen, dass er einen prägnanten Begriff von „Medienkulturwissenschaft“ verwendet, der nur Raum bietet für seine eigenen konzeptionellen Überlegungen. NeueinsteigerInnen erhalten auf diese Weise eine zwar in sich schlüssige, aber dennoch eigenwillige und somit verzerrte Sicht auf die mediale Dimension kulturwissenschaftlichen Argumentierens. Hier wäre ein ähnliches Vorgehen wie das von Renate Hof gewählte ratsam gewesen. Hofs Artikel zählt – neben Moritz Baßlers anregenden und vielschichtigen Ausführungen, die hier nur erwähnt seien – überhaupt zu den Glanzstücken des Bandes, deren Lektüre auch Studierenden vorbehaltlos empfohlen werden kann. Hof hat eine besonders elegante und gewinnbringende Lösung ihrer von den Herausgebenden außerordentlich offen gehaltenen Aufgabe gefunden. Indem sie gerade das Verhältnis von „Kulturwissenschaften und Geschlechterforschung“ thematisiert, verstellt sie sich nicht den Blick auf das reichhaltige Feld der Geschlechterforschung, kann aber zugleich die für kulturwissenschaftliches Forschen grundlegende „Logik der Relation“ und Tendenz zur „Grenzauflösung“(S. 331 bzw. S. 338) umsichtig entfalten. Hof findet zudem ein gutes Gleichgewicht zwischen einer ausgesprochen hilfreichen Lektüreaufbereitung und einer konstruktiven Kritik, bei der sie auch ihre eigene Position nicht verhehlt. Schließlich gelingt es ihr, die erkenntnistheoretische Dimension der Kulturwissenschaften, in der die kulturellen und gesellschaftlichen Grundlagen der (eigenen) Wissensproduktion beständig offen gelegt werden, in einer für Studierende verständlichen Weise vorzustellen.
Harald Neumeyer wahrt dagegen die Balance zwischen kritisch distanzierter Darstellung und Polemik nur im ersten Abschnitt seines Artikels zur „Historischen und literarischen Anthropologie“, der entsprechend ausgewogener ausfällt als der zweite. Wie die meisten anderen Beitragenden präsentiert er die internationale Forschungssituation, stellt verschiedene Institutionen vor und bietet einen konzisen Abriss zu Inhalten, Methoden und Problemen der historischen Anthropologie, in dem er das nur unzureichend reflektierte Spannungsmoment zwischen dem „Menschen als Subjekt der Geschichte“ und seiner „Eingebundenheit […] in historische Prozesse“ treffsicher als Grundwiderspruch der deutschsprachigen historischen Anthropologie ausmacht. Der analog konzipierte zweite Teil ist nicht minder kenntnisreich verfasst, aber deutlich eingefärbt von Neumeyers eigener Publikationstätigkeit auf dem Feld der literarischen Anthropologie. Vermutlich nicht zuletzt deshalb fällt seine Kritik an dem ohne Zweifel mit Schwierigkeiten behafteten, aber forschungsgeschichtlich Bahn brechenden und gerade für Studierende weiterhin sehr hilfreichen Sammelband von Hans-Jürgen Schings zum Konzept des „Ganzen Menschen“ zu scharf aus. Dennoch ist seinem eingehenden Plädoyer für eine durch Diskursanalyse und New Historicism befruchtete „strikte Historisierung des Menschen“ nur beizustimmen – und seine abschließende Belobigung der Forschungsarbeiten Joseph Vogls zu den „Poetologien des Wissens“ nachdrücklich zu unterstreichen.1
Während in Neumeyers Beitrag manchmal zu klare Schneisen geschlagen werden, fehlen sie in Astrid Erlls ergiebiger Darstellung der Forschung zum kollektiven Gedächtnis beinahe vollständig. Nach einer kurzen Einleitung, in der sie den Ursachen der derzeitigen Konjunktur der Gedächtnisforschung nachgeht, stellt Erll zunächst die zahlreichen Ansätze zum kollektiven Gedächtnis in ihrer historischen Abfolge von Maurice Halbwachs bis zu den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann wohl informiert dar, um dann „Anregungen zur begrifflichen Differenzierung“ vorzutragen (vgl. S. 175ff.). Indem sie diesen konzeptionellen Zugriff bevorzugt, verspielt sie die sich bietende Gelegenheit, mit Beispielen aus ihrer eigenen Forschung oder den Veröffentlichungen des ungemein produktiven Gießener Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen“ die Zugänglichkeit ihres Artikels maßgeblich zu erhöhen und den heuristischen Wert der verschieden Ansätze anschaulich abzuwägen. Dies verwundert umso mehr, als Ansgar und Vera Nünning zum Abschluss ihrer Einleitung beredt für eine begriffliche Zurückhaltung eintreten und ein „Übermaß an Theorie“ zu Recht kritisch hinterfragen (S. 14).
Vermutlich ist Erlls Artikel nur das Symptom für ein tiefer liegendes, strukturelles Problem des begrifflich oftmals überfrachteten Bandes. Dass „bewusst darauf verzichtet“ wird, „alle Artikel in ein einheitliches Schema zu pressen“ (S. 14), führt zu zahlreichen Redundanzen, die durch Querverweise hätten behoben werden können – selbst wenn sie zugegebenermaßen auch ihr Gutes haben, da kaum jemand sämtliche Artikel durcharbeiten wird. Einige ausgezeichnete Ideen hätten durch eine sorgsamere, nicht notwendigerweise repressive Redaktion systematisiert werden und so ihrer bloß individuellen Zufälligkeit entrissen werden müssen. So erwähnen mehrere Beitragende – etwa Alois Wierlacher und Corinna Albrecht sowie Hans-Jürgen Lüsebrink – die praktischen, lebensweltlichen Aspekte der Kulturwissenschaften, die gerade für BA-Studierende mit ihren außerwissenschaftlichen beruflichen Ambitionen äußerst aufschlussreich sein können und eine größere Beachtung verdient hätten. Mehr Zutrauen in einen klug koordinierten, kollektiven Erkenntnisprozess hätte vielleicht auch originellere Präsentationsweisen zu Tage gefördert, die über ein konturierendes Fettdrucken von besonders wichtigen Wendungen, Begriffen oder Personen hinausgegangen wären. Angesichts der unüberschaubaren Vielzahl an „Turns“, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten gerade auf dem Feld der Kulturwissenschaften diagnostiziert oder eingeklagt wurden, sollte nämlich nicht unterschlagen werden, dass sie allesamt ihrer Intention nach nicht nur auf eine Revision des Gegenstandsbereichs und des Methodenspektrums der Kulturwissenschaften abzielen, sondern auch auf eine Transformation der wissenschaftlichen Darstellungsformen. Dies wird z.B. in dem Beitrag von Bachmann-Medick mit Blick auf Clifford Geertz auch vermerkt (S. 100). Einfügungen von Bildern oder Experimente in der argumentativen Anordnung konstituieren Darstellungsweisen, die zugleich einen spezifischen Erkenntnisgewinn versprechen. Es hätte dem Handbuch sicherlich gut getan, wenn solche reizvolleren Formen der Wissenspräsentation den manchmal allzu konventionellen Charakter der Beiträge aufgelockert hätten. Bei aller herausragenden Qualität im Einzelnen bleibt deshalb insgesamt festzuhalten: Für EinsteigerInnen ist dieser Band kaum mehr als eine kostspielige Enttäuschung, für Fortgeschrittene eine nicht unbedingt nötige Ergänzung und Anregung zum Weiterlesen.
Anmerkung:
1 Vgl. Schings, Hans-Jürgen (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposium 1992, Stuttgart 1994; ferner: Vogl, Joseph, Für eine Poetologie des Wissens, in: Richter, Karl; Schönert, Jörg; Titzmann, Michael (Hgg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770-1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 107-127; sowie: Vogl, Joseph (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999.