H.-U. Wehler: Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts

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Titel
Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays


Autor(en)
Wehler, Hans-Ulrich
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Hans-Ulrich Wehler war stets ein streitbarer und umstrittener politischer Historiker. Über Jahrzehnte formulierte und verfocht er das sozialdemokratische Profil der neueren sozialhistorischen Schule. Heute aber sind die Fahnen nicht mehr fest geschlossen. Wehler selbst ist konservativer geworden und die Jüngeren setzen sich in verschiedene Richtungen von ihm ab. Sein Schüler Paul Nolte historisiert die Historiker der alten Bundesrepublik1 und reklamiert eine neokonservative „Generation Reform“. Wehlers neuere Publikationen geraten bei der mittleren Generation in die Kritik. So kritisierte Ludolf Herbst in der bei H-Soz-u-Kult veröffentlichten Rezension vom 23. Oktober 2003 den vierten Band von Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“ scharf wegen dessen starker Betonung der „charismatischen“ Qualitäten Hitlers. Herfried Münkler verriss den hier anzuzeigenden Essayband in der FAZ vom 7. Oktober 2003, indem er den Oberlehrergestus ironisch wendete und abschließend meinte: „Vor Wehler muss gewarnt werden.“ Ist es wirklich so schlimm?

Es gibt bereits eine stattliche Reihe von Essaysammlungen Wehlers, die „die Teilnahme an wissenschaftlichen Kontroversen mit der Intervention in tagespolitischen Fragen“ (S. 7) ähnlich verbinden. Die beiden Enden der neuen Sammlung, die Wehler nun aufeinander bezieht, sind der Nationalsozialismus einerseits und die aktuelle Spannung von Nationalismus und Internationalisierung andererseits. Wehlers Blick auf den Nationalismus und Nationalsozialismus wurde dabei durch neuere Publikationen wieder geschärft. So publizierte er 2001 eine knappe Überblicksdarstellung „Nationalismus“2 und 2003 den vierten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“3, der von 1914 bis 1949 führt. Mit einem pointierten zusammenfassenden Artikel zur „totalitären Revolution“ des „nahezu omnipotenten“ und „charismatischen Führers“ und „Volkstribuns“ Hitler (S. 222ff.), der nach dem „Blitzkrieg in Polen“ bei freien Wahlen, so Wehlers „Gedankenspiel“, wohl „95 %, wenn nicht gar alle Stimmen für sich gewonnen“ (S. 23) hätte, endet denn auch die Essaysammlung, die mit einem Beitrag „Wehrmacht und Nationalsozialismus“ eröffnet. Das zentrale Thema der neuen Sammlung, die dadurch ihren eigenen Akzent gegenüber dem vierten Band der „Gesellschaftsgeschichte“ hat, ist die Anwendung der Nationalismuskritik auf die Gegenwart. Sie signalisiert dabei Betroffenheit, Skepsis und Lernbereitschaft. „Ich war gerade dreizehn“, schreibt Wehler im eröffnenden Beitrag, „als das ‚Dritte Reich’ zusammenbrach, ein begeisterter Pimpf nach dem Wehrertüchtigungslager, wo Winnetou und Old Shatterhand endlich ernsthaft weitergespielt wurden. Der Zufall der Geburt sorgte dafür, dass ich nicht drei Jahre älter war und daher auch nicht, wie die beiden letzten Jahrgänge unseres Gymnasiums, zur Waffen-SS eingezogen wurde. Wie hätte man sich dort verhalten?“ (S. 29)

Scharf betont Wehler einleitend die „Affinität von Nationalsozialismus und Wehrmachtführung“ (S. 13), die „Übereinstimmung der Grundauffassung und Ziele“ (S. 19) und den relativ leichten und widerstandslosen Übergang vom „Revisionskrieg“ zum „geplanten Vernichtungs- und Rassenkrieg“ (S. 24). Der zweite Beitrag „Vertreibung im 20. Jahrhundert“ stellt die Massenvertreibungen in Osteuropa und Ostdeutschland in den Kontext der Vertreibungen vor und nach 1933. Eine sich anschließende Rezension von Jörg Friedrichs Buch über den Alliierten Bombenkrieg gegen Deutschland bemängelt dann die fehlende Einbettung in den historischen Kontext sowie die „unverhohlene sprachliche Gleichstellung mit dem Horror des Holocaust“ (S. 39).

Das sind die historischen Hintergrunderfahrungen, vor denen Wehler die neueren Entwicklungen betrachtet. Es finden sich hier Beiträge zur „Selbstzerstörung der EU durch den Beitritt der Türkei“ und zum „Amerikanischen Nationalismus“ und Irakkrieg nach dem 11. September 2001, in drei weiteren Abteilungen folgen dann sieben Beiträge zur neueren deutschen Gesellschaftsgeschichte sowie zahlreiche Rezensionen. Der direkte Anschluss der Essays zur aktuellen internationalen Lage an die einleitenden Beiträge zum Nationalsozialismus scheint mir dabei nicht glücklich. Nahe liegender wäre es gewesen, chronologisch zu verfahren und die Beiträge zur neueren deutschen Gesellschaftsgeschichte anzuschließen. Stattdessen wählte Wehler den harten Kontrast, Beiträge zur „Selbstzerstörung der EU“ und zum amerikanischen Nationalismus an die Beiträge zum Nationalsozialismus anzuschließen. Besonders heikel ist hier der Essay zur „Selbstzerstörung der EU durch den Beitritt der Türkei“, der in verschiedener Hinsicht dissonant klingt. Die Argumentation ist konservativ: Wehler dreht die Beweislast um und verlangt starke Gründe für den Beitritt der Türkei. Nach der Osterweiterung sei der Beitritt einfach zu riskant. Muslimische Minderheiten erwiesen sich überall als „nicht assimilierbar“ (S. 48). Der Fundamentalismus sei auf dem Vormarsch, Erbakan vermutlich ein „Wolf im Schafspelz“ (S. 44). Die EU sei kein „Samariterverein“; es sei „politischer Masochismus“, sie in die EU zu holen. Der Islam sei ein „militanter, expansionslustiger Monotheismus“ (S. 61), der stark expandiert. Wehler lässt hier die sprachlichen Nuancen und die Kontextualisierung vermissen, die er bei Friedrich einforderte. Fundamentalistische Traditionen entdeckt er auch im amerikanischen Nationalismus mit dessen „Externalisierung des Bösen“ (S. 58), den Wehler auf den puritanischen „Auserwähltheits- und Sendungsglauben“ (S. 58) zurückführt. Gegen die neuen Lehren vom „gerechten Krieg“ empfiehlt er die Rückbesinnung auf Clausewitz. Recht überraschend schließt er noch eine scharfe Kritik am Juniorprofessor und an „Bulmahns Berufsverbot“ (S. 71ff.) an, das mich, den Rezensenten, auch getroffen hat, weshalb ich Wehler hier auch gerne zustimmte, wären da nicht Töne im Kontext der Sammlung, die mir missfallen. Oder soll der Fundamentalismus der gemeinsame Nenner sein, der Nationalsozialismus und Amerikanismus, Islamismus, Europäisierung und Universitätsabbau miteinander verbindet? Ist Bulmahns Berufsverbot der letzte Ausläufer des Zeitalters der Ideologien und Extreme?

Weniger problematisch als die bunte Zusammenstellung der ersten Abteilung ist die zweite Abteilung von Essays zur Entwicklung der deutschen Gesellschaft. Sie ist das positive Gegenstück zur Fundamentalismuskritik. Wehler betont hier den sozialhistorischen Fortbestand des Bürgertums und politischen Fortbestand der normativen „Zielutopie“ der „bürgerlichen Gesellschaft“ und „Zivilgesellschaft“. Herzstück ist ein längerer Essay zum deutschen Bürgertum nach 1945, der die „Persistenz und Kontinuität des Bürgertums“ (S. 102) sowie neue „Strukturen der sozialen Ungleichheit“ (S. 107) nach 1945 betont und sich hier mit den Analysen Paul Noltes berührt. Während Nolte aber in „Generation Reform“ zwischen Sein und Sollen munter trennt und die normative Geltung der Bürgerlichkeit auch bei bestehenden sozialen Ungleichheiten einfordert, blickt Wehler nicht derart forsch nach vorne, sondern reinigt seine Zielutopie der „Zivilgesellschaft“ in weiteren Essays zur Aktualität Preußens, zum deutschen „Sonderweg“, zum Nationalismus und „Aufbruch des Militärs in die Moderne“ sogleich von den geschichtlichen Hypotheken des Nationalismus und Militarismus. Er beschließt die zweite Abteilung dann mit einem kurzen Rückblick „Das 20. Jahrhundert wird Geschichte“. Eine klare institutionelle Vision steht hier nicht. Der Nationalstaat mit seinem Homogenisierungswahn sei nicht vorbildlich. Eine politische Einheit Europas sei nötig (S. 122), eine Überdehnung der EU aber selbstzerstörerisch. Ein Export des westlichen Wachstumsmodells könne einen „ökologischen Kollaps“ (S. 142) auslösen.

Wehlers Sammlung ergänzen noch zwei Abteilungen von Rezensionen, die nur kurz gestreift seien. Mit Niethammer problematisiert Wehler eingangs das „Plastikwort“ „Identität“. Dann verreißt er eine Nationalgeschichte (Henning Köhler) und bilanziert eine Hitler-Serie, bevor er das „Duell“ mit der Kulturgeschichte erneut4 aufnimmt und die Zuversicht äußert, „Impulse aus der kulturwissenschaftlichen Debatte flexibel aufzunehmen“ (S. 177). Dafür steht schon Wehlers Referenzautor Max Weber, mit dem er eine letzte Gruppe kleinerer Rezensionen einleitet, mit einer negativen Bilanz der DDR-Geschichtswissenschaften endend, an die die zusammenfassende Erinnerung an Hitlers „totalitäre Revolution“ anschließt.

Die einzelnen Stücke dieser Sammlung sind nicht sehr wichtig. Überraschende neue und eingehende Analysen finden sich nicht. Auch das methodische Handwerkszeug ist nicht weiter geschärft und differenzierter gehandhabt. Die Interventionen zur Türkei, zum Islamismus und zum amerikanischen Nationalismus sind polemisch überspitzt und argumentativ wenig originell, und auch die zusammenfassenden Skizzen zum deutschen Nationalismus und zur deutschen Gesellschaftsgeschichte muss man nicht erneut lesen. Zweifellos aber stellt Wehlers Essay-Sammlung ein Dokument zum politischen Denken der Historiker der „alten Bundesrepublik“ (Paul Nolte) dar. Manche Bemerkungen hätten früher vielleicht zu einem veritablen Historikerstreit gereicht, bei der der junge Wehler gegen den heutigen in den Ring gestiegen wäre. Doch selbst die politische Munition zündet heute kaum mehr.

Anmerkungen:
1 Dazu vgl. Nolte, Paul, Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine ‚lange Generation’, in: Merkur 53 (1999), S. 413-432; Ders., Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München 2004.
2 Wehler, Hans-Ulrich, Nationalismus, München 2001.
3 Wehler, Hans-Ulrich, Deutschen Gesellschaftsgeschichte Band IV: 1914-1949, München 2003.
4 Dazu vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998.

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