W.A. Schabas: Der Genozid im Völkerrecht

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Titel
Der Genozid im Völkerrecht.


Autor(en)
Schabas, William A.
Erschienen
Anzahl Seiten
792 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhad-Karls-Universität Tübingen

Als der französische Anwalt Jacques Vergès, der Klienten wie Klaus Barbie und Slobodan Milošević verteidigt hat und sich nun um ein Mandat für Saddam Hussein bemüht, dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ Ende Februar 2004 ein Interview gab, sprach er den bemerkenswerten Satz: „Ich glaube, wir leben in der vielleicht schlimmsten Epoche der Geschichte. Wir nähern uns der größtmöglichen Barbarei. Der Völkermord ist zur Gewohnheit geworden.“1 Nach der Lektüre von William A. Schabas’ bemerkenswertem Buch zu „Genozid im Völkerrecht“ kann man dem nicht nur zustimmen, sondern auch verstehen, wie es im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu dieser Barbarisierung kam und welche Anstrengungen unternommen wurden und werden, um Völkermord zu ächten.

Der Begriff Genozid, den der jüdische Jurist Raphael Lemkin 1944 angesichts der Schrecken von Auschwitz prägte, bezeichnet nach der UN-Völkermordkonvention von 1948 die „Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Wer die Berichterstattung über das Ruanda-Tribunal, den Internationalen Jugoslawien-Gerichtshof in Den Haag oder auch die Kontroverse um die Auslieferung des ehemaligen chilenischen Staatsoberhauptes Augusto Pinochet verfolgt hat, ahnt jedoch, dass es bis heute keine gängige Praxis zur Umsetzung der Konvention gibt. Andererseits zeigt Schabas’ Studie auch, dass 50 Jahre nach Verkündung der Konvention und nicht zuletzt nach den Erfahrungen der Staatengemeinschaft mit den Völkermorden in Jugoslawien und Ruanda das Postulat aus Artikel eins, „die Verhütung und Bestrafung von Völkermord“, erstmals Beachtung findet. Nun wird immerhin das Bemühen erkennbar, den Staaten für den Begriff Völkermord verbindliche und juristisch präzise Definitionen an die Hand zu geben.

Schabas, der an der National University of Galway in Irland humanitäres Völkerrecht lehrt, orientiert sich an den Artikeln der Völkermord-Konvention, um Stück für Stück den Forschungsstand zu den einzelnen Punkten darzustellen, Literatur und Rechtsprechung auch anhand eigener juristischer Analysen gegenüberzustellen und den Einfluss der Politik auf die Anwendung des Völkerrechts zu verdeutlichen. Dieser Zugang gliedert die Arbeit übersichtlich; er erlaubt es dem Historiker wie dem Juristen, sich schnell und umfassend zu Teilaspekten zu informieren. Schabas gelingt der große Wurf, die beiden Disziplinen zusammenzuführen und rechtshistorisch brillant zu durchdringen. Sein Buch ist mehr als ein juristischer Kommentar, und es ist gleichzeitig mehr als eine politikgeschichtlich orientierte Studie über die Schwierigkeiten, dem Völkerrecht angesichts vielschichtiger Interessen verschiedenster Staaten zum Durchbruch zu verhelfen.

Wie gerade die politischen Implikationen die Umsetzung des Rechts be- und verhinderten, kann Schabas aus eigener Anschauung berichten. Als Berater von Nichtregierungsorganisationen bereiste er Ruanda, um Augenzeugen zu befragen, Beweise zu sichern und bei der Exhumierung von Massengräbern zugegen zu sein. Schabas beschreibt die Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, die ersten Vertreibungen als Vorboten eines Völkermords zu verstehen und wirksam gegen sie zu intervenieren; eindrücklich zeigt er die Lücken im Völkerrecht auf, die es zu schließen gelte. Schabas fordert, der Sicherheitsrat müsse seine Bereitschaft demonstrieren, notfalls eine gewaltsame humanitäre Intervention zu veranlassen, wie es im ersten Entwurf der Resolution von 1947 auch formuliert worden war. Individuelle staatliche Initiativen gegen drohenden Genozid ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats lehnt er jedoch deutlich ab. Nach dieser Definition wäre die Intervention im Kosovo von 1999 eine illegale Unternehmung der beteiligten Staaten gewesen (unter anderem auch Deutschlands) – ein Urteil, gegen das man angesichts der Schreckensnachrichten der damaligen Berichterstattung besonders in moralischer Hinsicht Bedenken vorbringen kann.

Dies ist ein Beispiel für die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Opfergruppen oder „des Weltgewissens“ auf der einen Seite und den realen strafrechtlichen Möglichkeiten auf der anderen. Bereits 1945 in Nürnberg wurde deutlich, dass „Sühne“ für begangene Verbrechen von der moralischen Forderung nach Gerechtigkeit oder Bestrafung zwar motiviert, aber nicht determiniert werden kann. Strafbar ist nach positivistischem Rechtsverständnis nur, was sich gegen geltende Gesetze ereignet hat. Schabas bleibt, und das wird an dieser Stelle ganz klar, im Rahmen der juristisch festgelegten Grenzen. Als Jurist muss er eine Erweiterung der Völkermorddefinition ablehnen, wie sie beispielsweise Opfergruppen verlangt haben, die als Oppositionelle von lateinamerikanischen Diktaturen verfolgt wurden, oder Angehörige derjenigen, die von den Roten Khmer als „Klassenfeinde“ ermordet worden waren. Dies vermeide Abgrenzungsprobleme, denn politische Gruppen sind – im Gegensatz zu nationalen Minderheiten – keine stabilen Opfergruppen. Dennoch sind auch solche Diskussionen weitere Schritte auf dem Weg zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Völkermord, die letztendlich die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag erleichtert haben.

Für den Zeithistoriker besonders aufschlussreich ist Schabas’ Analyse des so genannten „Befehlsnotstandes“, rechtlich als „Nötigungsnotstand“ bezeichnet. Genau wie die Nürnberger Prozesse von 1945 bis 1949 hat sich der Jugoslawien-Gerichtshof immer wieder mit der Frage beschäftigt, inwieweit ein Handeln auf Befehl aus Angst vor Gefahr für das eigene Leben den Täter von der strafrechtlich relevanten Beteiligung am Völkermord entbindet oder nicht. In Nürnberg und in den anderen bekannten Nachkriegsprozessen wurde dazu unterschiedlich geurteilt. Die historische Forschung hat inzwischen herausgearbeitet, dass kein Fall innerhalb der Wehrmacht bekannt geworden ist, bei dem eine Weigerung zum Ausführen eines Mordbefehls die Erschießung des Befehlsverweigerers nach sich gezogen hätte. Nachdem die Jugoslawien-Prozesse dem Thema zu neuer Aktualität verholfen haben, wurde am Fall des serbischen Generals Erdemovic schmerzlich deutlich, dass es nach wie vor keine juristisch bindende Definition dazu gibt – mit dem Ergebnis, dass Erdemovic seiner Bestrafung entging. Zu fragen ist deshalb, wer für Völkermord verantwortlich zu machen ist, wenn sich die obersten Führungspersonen beispielsweise durch Selbstmord entzogen haben, wie dies nach 1945 der Fall war. Schabas’ Antwort darauf ist sehr ernüchternd, denn die allgemeine völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates für völkerrechtswidrige Handlungen, zu denen neben Kriegsverbrechen auch der Genozid zählt, drückt sich lediglich in der Pflicht zur Wiedergutmachung aus. Ob und wie sich daraus eine Strafgerichtsbarkeit ableiten lässt, ist nach wie vor ungeklärt und gehört zu den vielen definitorischen Aufgaben des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Das Hamburger Institut für Sozialforschung, das die deutsche Übersetzung in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat, setzt mit Schabas’ Buch eine Tradition guter Fachwerke zum Thema Genozid fort, die meist von Juristen (auch) für Historiker, Soziologen und Politologen geschrieben wurden. Unter der Ägide Gerd Hankels und Gerhard Stubys erschien bereits 1995 der Sammelband „Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen“, der die Kontroversen zum Thema erstmals unterschiedlich ausleuchtete.2 2003 legte Hankel zudem eine Studie zu den Leipziger Prozessen nach dem Ersten Weltkrieg vor.3 Zusammen mit der historischen Fachliteratur zu den Nürnberger Prozessen oder Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert4 kann sich jeder Interessierte nun ein detailliertes Bild von den Schwierigkeiten machen, die die Umsetzung des Rechts bis heute behindern. Dem Urteil der „Frankfurter Rundschau“, zu Schabas’ „Handbuch des Schreckens“ gebe es „derzeit nichts Vergleichbares“,5 kann man sich aus fachlicher Sicht nur anschließen.

Anmerkungen:
1 „Auch im Herzen des Ehrenmannes gibt es eine Hölle“, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 9, 27.02.2004, S. 33f., hier S. 34.
2 Hankel, Gerd; Stuby, Gerhard (Hgg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995.
3 Hankel, Gerd, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003.
4 Vgl. besonders Ueberschär, Gerd R., Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999; Ders.; Wette, Wolfram (Hgg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001.
5 Meier, Horst, Vertreibung und Zerstörung, in: Frankfurter Rundschau, 22.12.2003, S. 13.

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