Béatrice Durand hat mit „Cousins par alliance“ ein Buch verfasst, das nicht nur detailliert über Alltag und Denken in Deutschland informiert, sondern auch vieles Unbekannte, Ungesagte, Verschleierte oder Verdrängte der französischen Deutschenwahrnehmung auf den Punkt bringt. Ihr Buch ist eine hervorragende Mentalitätsstudie, die den eigenen kulturellen „gap“ zwischen französischer Sozialisation und einer in über fünfzehn Jahren gewachsenen, intimen Kenntnis des Gegenstands nutzt, um sowohl über die „fremden“ und mystifizierten Deutschen zu berichten, als auch die Logik, Motive und Botschaften französischer Argumentationen zu analysieren. Ihr polemisches Anliegen ist, den grassierenden historisierenden Vorstellungen vom gegenwärtigen Deutschland eine Ethnografie der „mentalités quotidiennes“ gegenüberzustellen, die beobachtet bzw. beschreibt und erst im zweiten Schritt nach Ursprüngen und Hintergrund fragt. Über die Unmöglichkeit, Realität „neutral“ zu sehen, ist Durand sich im Klaren. Intelligent angewendetes Mittel ist daher die produktive Erkenntnis, die dem Aufprall, dem Aufeinanderstoßen verschiedener kultureller Erfahrungen folgt.
Dieses Prinzip des „epistemologischen Schocks“ verinnerlicht das Gadamersche „Zwischen“, dessen Unüberwindbarkeit Bedingung und Grenze des Verstehens bedeutet, und es wendet es permanent nach außen. Primäres Unverständnis, Brüche, bleiben die Voraussetzung, und weiteres Ziel ist eben nicht, wie in der älteren hermeneutischen Tradition, die Erfahrung der „Sinnentfremdung“ (Gadamer) ganz hinter sich zu lassen. Essentieller Teil der kulturanthropologischen Herangehensweise ist vielmehr das Anerkennen des Anderen als solchem und ein hohes Maß an Selbst-Reflexion.1 Sie unterscheidet „Cousins par alliance“ positiv von zahllosen, vorgeblich objektiven, bis auf wenige Ausnahmen (Hugues, Brigouleix) aber parteiischen und argumentativ enttäuschenden Deutschland-Büchern.2 „Cousins par alliance“ präsentiert von einer sowohl selbstkritischen wie jede Kultur in der anderen spiegelnden („miroir“) Warte aus die hiesige Lebenswirklichkeit im Überblick, angereichert durch Anekdoten und Beispiele, mit Aussicht auf die Geschichte Deutschlands, Frankreichs und Europas. Systematisch werden weite Bereiche des Alltags und der kulturellen Formierung durchgegangen: Erziehung, Bildungssystem, Pädagogik, Nahrung/Essen, Konversation, Freizeitverhalten, Familie, Privatsphäre, Körperbewusstsein und medizinische Behandlung, Feierlichkeiten, Verhalten in der Öffentlichkeit, Verhältnis zu Regierung und Administration, politische Kultur und Natur. Da die Autorin von ihren persönlichen Erfahrungen ausgeht, bilden die Familie sowie das Arbeits- und Freizeitverhalten der durch die 1968er Ereignisse geprägten Generation, d.h. der „grünen Mittelschicht“, den Schwerpunkt. Der Umgang mit älteren Menschen, auch die Alterspolitik werden nicht eigens thematisiert, ebensowenig Charakteristika anderer sozialer Schichten oder Gruppen das Prinzip des epistemologischen Schocks wäre dann tatsächlich nicht anwendbar gewesen.
Zentrale Erkenntnis ist der Unterschied des deutschen zum französischen Individualismus. Der deutsche Individualismus zielt laut Durand auf das Ideal einer autonomen, dabei gruppen-, konsens- und demokratiefähigen Persönlichkeit. Der französische Individualismus praktiziert und zelebriert den Widerstand gegen eine als feindlich empfundene, starre Obrigkeit, fordert gerade diese aber als stabilisierende, Sicherheit gebende „autorité extérieure“ wieder ein. Die deutsche Praxis steht von der Geburt über Struktur und Unterrichtsformen der Schule und Hochschule bis hin zu den Freizeitaktivitäten von Schülern und Erwachsenen im Zeichen des Respekts, der Entdeckung und der Förderung individueller Eigenheiten, welche stets in Einklang mit den Bedürfnissen und Forderungen der Gesellschaft zu bringen sind. Individuum und Gruppe sind daher in ein dauernd auszutarierendes weniger hierarchisches Verhältnis zu bringen. Schon früh werden spezifisch demokratische Verhaltensweisen erlernt (Toleranz, Gesprächsfähigkeit usw.). Die Vorteile des deutschen Individualismus für den Einzelnen werden dabei erheblich durch die Nachteile der hohen Ansprüche an die Eltern in den Jahren der Kindererziehung zunichte gemacht. Insbesondere für Frauen vermindert sich die Chance auf Umsetzung genau dieses Ideals der persönlichen Entfaltung. Das liegt am Arrangement aus jahrelanger Exklusiv-Betreuung im eigenen Heim, „unzuverlässigen“ Schulen und beträchtlichen Anforderungen an die zusätzliche sportliche und musikalische Ausbildung der Kinder von den psychologischen Implikationen ganz zu schweigen (sehr schön hierzu die Passagen über das fatale Gebot, sein Kind nicht „abzugeben“).3 Der unterschiedliche Umgang mit Körper und Medizin, geschildert auch am Beispiel der Geburt, schließt sich hier an: in Frankreich stark technologisiert und am Medikament orientiert, in Deutschland dem einzelnen Patienten zugewandt, im Trend der natürlichen Heilkunst und „Ganzheitlichkeit“. Dem Vorurteil des inkarnierten Fleißes und der unerschütterlichen Arbeitssamkeit widerspricht Durand unter Verweis auf die Arbeitszeitmodelle in Deutschland und Frankreich, auf die Statistik und eine Reihe einprägsamer Episoden, u.a. zur Weigerung der Deutschen, mehr Zeit als nötig am Arbeitsplatz zu verbringen und zur nur allmählichen Verabschiedung der Franzosen von der Vorstellung, bis in den frühen Abend hinein im Büro präsent sein zu müssen.
Durand operiert über die Kontrastierung situativ erfahrener Differenzen hinaus mit der kontextuellen, auch für deutsche Leser sehr erhellenden Erläuterung von Schlüsselbegriffen der deutschen Werteordnung, darunter „Selbstfindung“, „Bildung“, „Vergangenheitsbewältigung“, „Betroffenheit“, „Mitläufer“. Insbesondere entkräftet sie die Hauptthese der meisten französischen Deutschland-Studien, das deutsche Gebaren sei direkt aus einem verallgemeinerbaren NS-Verhalten ableitbar bzw. darin sei das typisch deutsche Wesen erst in seiner eigentlichen Wirklichkeit zu Tage getreten (man denke an die bekannte Traditionslinie „Teutonen - Luther/Protestantismus - Romantik - Nationalismus - Nationalsozialismus“). Aus dieser Sicht gelten die als ungesund betrachtete „deutsche Liebe zur Natur“ oder die übertriebene Mutter-Kind-Symbiose als kollektivpsychologisch verankerte Konditionierungen aus der Zeit des „Dritten Reichs“. Wo Durand nicht darauf pocht, dass gerade umgekehrt viele Wertvorstellungen und Verhaltensweisen als Gegenreaktionen zur NS-Vergangenheit entstanden sind, erörtert sie andere Gründe für die Differenz zu Frankreich, darunter die der Entwicklung postindustrieller Gesellschaften. Im Übrigen verweigert sie sich dem simplifizierenden Gebrauch der Hypothese der Existenz transhistorischer Charaktermerkmale und bemüht sich, ihre französischen Leser für kulturelle Alterität generell zu sensibilisieren.
Dass die Darstellung fremder Kulturen Hand in Hand mit Betrachtungen zur eigenen Gesellschaft geht, trifft auch für „Cousins par alliance“ zu. Durand schildert nicht nur konzise und amüsant das deutsche und französische Alltagsleben. Sie geht außerdem hart mit der kulturellen und politischen Egozentrik einiger französischer Intellektueller ins Gericht, besonders den Vertretern der „exception française“ und den Verteidigern der Unterscheidung von „société civile“ und „république“, einer Unterscheidung in welcher sich tendenziöse Terminologie und Ideologie raffiniert verschlingen.4 In seltener Offenheit wird hier das nach wie vor nicht reflektierte Autostereotyp, in Frankreich denke man rational und luzide („cartésien“) womit den anderen implizit Emotionalität und Irrationalität unterstellt wird, für falsch, ja lächerlich erklärt.5 Durands Kritik am kulturellen Zentralismus in Frankreich und an der Position, britische und deutsche Demokratie als Brutort partikularer Egoismen und damit als Vorstufe gesellschaftlicher Unordnung und Regellosigkeit zu interpretieren wohingegen allein die französische République die Stabilität des Gemeinwohls garantiere mündet schließlich in zukunftsweisende Vorschläge zu einem neuen zivilbürgerlich getragenen und zwangsläufig multikulturellen Europa.
„Cousins par alliance“ bezeugt, dass der Blick auf die deutschen Verhältnisse von außen meist schärfer ist als der eigene, speziell wenn er zu differenzierter Interpretation führt.6 Aus der Perspektive einer deutschen Leserin sei allerdings angemerkt, dass in diesem Buch der Wunsch, deutsches Verhalten und Denken den Franzosen verständlich, ja sympathisch zu machen, manchmal zu einem allzu positiven Urteil verleitet: Gibt es nicht gerade in jener „grünen Mittelschicht“ und ihrer ökologischen und ganzheitlich ausgerichteten Aufgeklärtheit neue Zwänge, die beispielsweise technologiefreundliche Entscheidungen behindern, Nahrung und Essen ideologisch über Gebühr befrachten und den bzw. die Einzelne/n in Argumentationsnöte bringen, wenn er/sie sich gegen homöopathische Behandlungsweisen oder „natürliche“ Geburtsformen ausspricht? Umgekehrt hat das französische Individualismus-Modell durchaus Vorteile, z.B. was die politische Wachsamkeit und Widerständigkeit der Bürger betrifft. Vielleicht ist es sinnvoll, der Verschlingung von Konsens, Konflikt und Individualität in modernen Gesellschaften einmal genauer nachzugehen. Mit Sicherheit von Interesse wäre, eine „ethnologische“ Studie wie diese auf weitere soziale Schichten auszudehnen. Denn „Cousins par alliance“ schlägt nicht nur einen neuen Ton der Deutschland-Darstellung an, sondern bringt auch die Fremdheitsforschung ein gutes Stück weiter. Es gehört der kulturwissenschaftlichen Methode, der Scharfsinnigkeit und der Aufbereitung wegen in jede deutsch-französische, wenn nicht jede interkulturelle Bibliothek.
Anmerkungen:
1 Zur Kulturanthropologie und zur Fremdwahrnehmung im interkulturellen Bereich vgl. Bachmann-Medick, Doris, Einführung, in: Dies. (Hg.), Kultur als Text - Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1996; Wierlacher, Alois; Albrecht, Corinna, Kulturwissenschaftliche Xenologie, in: Nünning, Ansgar; Nünning, Vera (Hgg.), Konzepte der Kulturwissenschaften - Theoretische Grundlagen, Ansätze, Perspektiven, Stuttgart 2003; Lüsebrink, Hans-Jürgen, Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation, in: ebd.
2 Hugues, Pascale, Le bonheur allemand, Paris 1998; Brigouleix, Bernard, Pour en finir avec l’Allemagne, Paris 1998 ; Negativbeispiele: Nuss, Bernard, Les Enfants de Faust - Les Allemands entre ciel et enfer, Paris 1995; Delmas, Philippe, De la prochaine guerre avec l’Allemagne, Paris 1999; Meyer, Michel, Le démon est-il allemand? Paris 2000.
3 Vgl. auch Vinken, Barbara, Die deutsche Mutter - Der lange Schatten eines Mythos, München 2001.
4 Debray, Régis, Le code et le glaive - Après l’Europe, la nation? Paris 1999; Debray, Régis, Tous azimuts - L’Europe stratégique, Paris 1989; Ferry, Luc, Le Nouvel Ordre écologique, Paris 1988 ; Vgl. auch Brigouleix’ ironische Vorführung der Konnotation von „République“ in: Pour en finir avec L’Allemagne, S. 50f.
5 Vgl. zum cartesischen Autostereotyp: v. Treskow, Isabella, Der romantische Deutsche - verträumt, sensibel, gefährlich. Zu historischen und semantischen Aspekten eines ambivalenten französischen Stereotyps, in: Recherches germaniques, 31 (2001); v. Treskow, Isabella, Deutsche und französische Grenzüberschreitungen. Tradierung und interaktive Entstehung der Stereotypen von savoir-vivre und deutscher Inniglichkeitm, in: Französisch heute 32, 3 (2001).
6 Ein anderes Beispiel differenzierter Außenwahrnehmung: Pelus-Kaplan, Marie-Louise, La Hanse, un héros collectif germanique? in: Mémoires du passé germanique, Revue de l’Association „Histoire au Présent“ 55/56 (2000).