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Titel
Letzte Orte. Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42


Herausgeber
Hecht, Dieter J.; Raggam-Blesch, Michaela; Uhl, Heidemarie
Erschienen
Anzahl Seiten
261 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Akim Jah, Arolsen Archives, International Center on Nazi Persecution

In dem Sammelband „Letzte Orte“ werden in 13 wissenschaftlichen Beiträgen die Deportationen der Jüdinnen und Juden aus Wien während der Zeit des Nationalsozialismus in den Blick genommen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Organisation der Transporte und auf den Bedingungen in den vier Sammellagern, in denen die Transporte in die Ghettos und Vernichtungslager in den Jahren 1941 bis 1942 vorbereitet und organisiert wurden und die, wie die Herausgeber:innen schreiben, „im kollektiven Gedächtnis praktisch nicht präsent“ sind (S. 8). Grundlage der Texte sind zum Teil bislang unbekannte Quellen, unter anderem aus den in Jerusalem überlieferten Beständen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). Ergänzt werden die Beiträge durch Auszüge aus Interviews mit Überlebenden, faksimilierte Dokumente sowie dem – teilweise erstmaligen – Abdruck von historischen Fotos.

Wien hat im Zusammenhang mit der Erforschung der Deportationen im Nationalsozialismus in zweierlei Hinsicht eine über die Regionalgeschichte hinausgehende Bedeutung. Zum einen war die Stadt Ausgangspunkt von mehreren frühen Transporten, die bereits vor Beginn der systematischen reichsweiten Deportationen im Herbst 1941 zusammengestellt wurden. Zum anderen war in Wien der Eichmann-Vertraute Alois Brunner vor Ort für die Organisation der Transporte zuständig. Seine äußerst gewaltsame Vorgehensweise wird in der Forschungsliteratur mitunter als „Wiener Methode“ bezeichnet, die sowohl prototypisch für Brunners Tätigkeiten an anderen Orten im deutsch beherrschten Europa als auch für die Vorgehensweise bei der Zusammenstellung der Transporte insgesamt gewesen sei. In Wien, das als alleiniger Abgangsort für die Deportationen aus ganz Österreich diente, wurden allein zwischen Februar 1941 und Oktober 1942 mehr als 45.000 Menschen deportiert.

Das Buch beginnt mit einer knappen, aber instruktiven Darlegung des jüdischen Lebens in Wien am Vorabend der Deportationen von Dieter J. Hecht und Michaela Raggam-Blesch. In einem weiteren Beitrag gehen die beiden Autor:innen auf die Sammellager und die Deportationen aus Wien ein. Im Kern handelt es sich dabei um eine überwiegend auf bekannte Forschungsliteratur sowie auf Quellen stützende Skizzierung der Deportationen, angefangen mit der Verschleppung von über 1.500 Menschen nach Nisko im Oktober 1939 und den Deportationen im Februar und März 1941 in verschiedene Orte des Generalgouvernements. Bei beiden Aktionen handelte es sich um lokal begrenzte Maßnahmen, wobei die zuletzt genannten Transporte „bereits in jenen Organisationsstrukturen durchgeführt [wurden], die bei den reichsweiten großen Deportationen ab Herbst 1941 zur Anwendung kommen sollten“ (S. 24). Im Herbst 1941 begannen die systematischen Transporte, die von Alois Brunner als Leiter der sogenannten Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die in dieser Hinsicht die Rolle der Stapoleitstellen und Stapostellen im Altreich einnahm, organisiert wurden. In einer detaillierten Rekonstruktion vollziehen Hecht und Raggam-Blesch „die Wege in die Vernichtung“ nach, indem sie insbesondere auf die „Einberufung“ in die Sammellager und auf die unangekündigten Abholungen (das „Ausheben“) eingehen. Zudem beschreiben sie die sogenannten „Kommissionierungen“, bei denen die Transporte zusammengestellt wurden, sowie den Abtransport zum Bahnhof. Dabei gehen die Autor:innen auch auf die erzwungene Mithilfe der IKG ein. So mussten Mitarbeiter:innen der Gemeinde die Betroffenen auffordern, sich in einem Sammellager einzufinden.

Eleonore Lappin-Eppel thematisiert in einem gleichfalls instruktiven Beitrag die Situation in den vier zu unterschiedlichen Zeiten betriebenen Sammellagern, einschließlich der dortigen Strukturen und das Prozedere, das die gefangen gehaltenen und für eine Deportation vorgesehenen Menschen durchlaufen mussten. Wie in vergleichbaren Lagern an anderen Orten war für „die Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs […] ausschließlich jüdisches Personal zuständig“ (S. 81). Für die wenigen Überlebenden indes, so Lappin-Eppel, „hatte das Sammellager keinen hohen Erinnerungswert […], so schlecht die Lebensbedingungen dort waren, waren sie doch nicht vergleichbar mit dem Grauen, das mit der Deportation begann“ (S. 77).

Besonders interessant ist der Text von Michaela Raggam-Blesch zu den „Mischehefamilien“, der den Blick auf die Zeit nach Abschluss der großen Deportationen im Oktober 1942 richtet. Zu der kleinen heterogenen Gruppe von Menschen, die nach den NS-Gesetzen als jüdisch definiert waren und sich noch in Wien aufhielten, gehörten vor allem Jüdinnen und Juden, die mit Nichtjuden verheiratet und daher von einer Deportation geschützt waren. Diese Gruppe bildete zu dieser Zeit den Großteil des sogenannten Ältestenrates, der unter Gestapo-Aufsicht stehenden Nachfolgeorganisation der IKG. Dieser war nun auch für die Menschen zuständig, die nach den NS-Gesetzen zwar als jüdisch galten, sich jedoch selbst nicht als solche verstanden. Raggam-Blesch beschreibt die Konfliktfelder innerhalb des „Judenrates“ und seinen Zwangsmitgliedern und zeigt anhand von mehreren Biographien, wie bei einem Wegfall der bestehenden Ehe die Deportation drohte.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit den frühen Deportationen im Februar und März 1941 in das Generalgouvernement (Walter Manoschek), mit Mitarbeitern der IKG (Dieter J. Hecht sowie Gabriele Anderl), mit der – in weiten Teilen in der Forschung bereits seit langem bekannten – Geschichte der Täter der Zentralstelle (Markus Brosch), der Hausgeschichte der vier Sammellager (Dieter J. Hecht und Michaela Raggam-Blesch) sowie mit den sogenannten U-Booten, also den untergetauchten Jüdinnen und Juden, die versuchten, den Deportationen zu entgehen. Insgesamt, so stellt Brigitte Ungar-Klein, die Autorin dieses Betrages, fest, lebten mehr als 1.600 Menschen in einem Zeitraum zwischen März 1938 und Kriegsende in einem Versteck, wovon lediglich zwei Drittel überlebten (S. 173).

Zwei Texte beziehen sich auf die Zeit nach der Befreiung. Eva Holpfer skizziert knapp die justizielle Verfolgung der Mitarbeiter der „Zentralstelle“ in der Nachkriegszeit und Heidemarie Uhl geht auf die „Wiederentdeckung“ der nach dem Krieg vergessenen Orte der Deportationen in Wien ein. Dabei beschreibt sie die Diskussion um die Erinnerung an die Shoah, die in den Jahren nach dem Krieg von der wiedergegründeten IKG getragen wurde und im öffentlichen Gedächtnis der Stadt ansonsten eine Leerstelle bildete. Erst seit den 1980er-Jahren wurden an den Orten der vier ehemaligen Sammellager Gedenktafeln angebracht, 2006 wurden sie als Stationen eines „Weges der Erinnerung“ einbezogen; in der Malzgasse 16 wurde 2018 ein Lichtzeichen errichtet. Am ehemaligen Aspangbahnhof, der Bahnhof, an dem die Deportationstransporte in den Jahren 1941 und 1942 abgefertigt worden waren, wurde 2017 nach jahrzehntelanger Diskussion ein Mahnmal eingeweiht, das an die Deportierten erinnert.

Mit der vorliegenden Publikation liegt nicht nur eine umfassende und instruktive Übersicht über die Geschichte der Deportationen aus Wien, sondern auch über die Nachgeschichte, die historischen Orte sowie über die bislang hierzu erschienene Literatur und über die einschlägigen Quellen vor. Besonders positiv hervorzuheben sind die im Buch mehrfach vollzogenen Perspektivwechsel, die den Blick immer wieder auf die Situation der Betroffenen richten, etwa durch den Abdruck von Auszügen aus Interviews mit oder Erinnerungen von Überlebenden.

Der Fokus auf die lokale Dimension der Verfolgung und auf den im Detail rekonstruierten Ablauf der Transporte ist dabei nicht nur für die Wiener Lokalgeschichte interessant. Er trägt auch zur Erforschung der Deportationen im Nationalsozialismus insgesamt bei. Einerseits, weil es zu vielen Städten kaum Quellen gibt, die den Ablauf der Deportationen dokumentieren. Andererseits, weil die vorliegenden Skizzierungen Vergleiche zu anderen Städten und parallelen, aber auch asymmetrischen Entwicklungen und Ereignissen, möglich machen. Dabei ist insbesondere an Berlin und die Organisation der dortigen Transporte sowie den Umgang mit den in „Mischehe“ lebenden Jüdinnen und Juden zu denken. Zugleich zeigt der Band aber auch die Desiderate, die innerhalb der Deportationsforschung weiterhin bestehen, etwa in Bezug auf das Verhalten und die Mitwirkung der Mehrheitsgesellschaft bei der Vorbereitung und Durchführung der Deportationen sowie beim Umgang mit dem zurückgelassenen Eigentum.

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