V. Rosen-Prest: La Colonie huguenote de Prusse de 1786 à 1815

Titel
La Colonie huguenote de Prusse de 1786 à 1815. La fin d'une diaspora?


Autor(en)
Rosen-Prest, Viviane
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Decker, Abteilung Pfälzische Geschichte, Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde

Die offiziell 124 Jahre (1685–1809) in Preußen existierende, mit eigener Rechtsprechung und Verwaltung ausgestattete Körperschaft der „Französischen Kolonie“ bildet einen zentralen inhaltlichen Bezugspunkt der Historiographie des deutschen Refuge. Tendenziell im Schatten früherer Abschnitte hugenottischer Migration und Etablierung stehend, fand und findet die Spätphase der Kolonie um 1800 bislang lediglich in Einzelaspekten Forschungsniederschlag – wie z.B. Ursula Fuhrich-Gruberts vergleichender Aufsatz über Réfugiés und Emigrés in Berlin1 oder das entsprechende Kapitel von Martin Fontius zur Integration der hugenottischen Intellektuellenelite ins deutsche Geistesleben im von ihm mitherausgegebenen Sammelband Franzosen in Berlin.2 Eine wirkliche Überblicksdarstellung zur administrativen und soziokulturellen Verfasstheit der Französischen Kolonie in jener Ära lag bislang nicht vor. Die Schließung dieser Forschungslücke hat sich nun die neue Monografie von Viviane Rosen-Prest zum Ziel gesetzt.

In Anlehnung an das Koselleck’sche Konzept der „Sattelzeit“ wird hier ein prozessorientierter Ansatz verfolgt, dessen engerer Untersuchungszeitraum sich vom Tod König Friedrichs II. 1786 bis zum Ende der Befreiungskriege 1815 erstreckt. Die Autorin nimmt die Gesamtheit der Kolonieangehörigen in den Fokus, was gleichermaßen Réfugiés-Nachfahren und Nicht-Refugiés umfasst. Eine zentrale, wenn auch nicht ausschließliche Rolle nehmen Fragen kultureller Identität ein: der Grad der Frankophonie, Kirchenmitgliedschaft oder die psychologische Beziehung zu Frankreich als dem Land der exilierten Ahnen. Die im Buchuntertitel anklingende Ausgangsthese geht für die Réfugiés-Nachfahren der vierten Generation von einer noch keineswegs abgeschlossenen Assimilation in die übrige preußische Gesellschaft aus. (S. 24) Gleichzeitig soll die geografische, demografische wie ökonomische Entwicklung nicht nur der Berliner, sondern auch der immer noch zu wenig erforschten französischen Landkolonien (S. 18f.) untersucht werden. Schlussendlich versteht sich das Werk nicht als reine „histoire huguenote“ (S. 24), sondern möchte seinen Untersuchungsgegenstand in die größeren Linien preußischer Geschichte einbetten. Dieses umfangreiche Erkenntnisinteresse ist zweifelsohne angebracht, aber auch ambitioniert.

Die flüssig geschriebene Darstellung, welche sich maßgeblich auf Quellenbestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz sowie des Archivs der Französischen Kirche zu Berlin stützt, besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil liefert eine historische Standortbestimmung der Französischen Kolonie in den circa letzten dreißig Jahren ihrer Existenz. Das Panorama umfasst dabei einen Abriss der administrativen Fundamente (Privilegien) innerhalb des preußischen Staatsverbands vor dem Hintergrund von dessen Peuplierungspolitik, wie auch geografische Verteilung, Bevölkerungsentwicklung und Anzahl der Kolonien (1800: 42, S. 47). Etwas gewagt scheint es in diesem Rahmen, die 1768, also vor dem Untersuchungszeitraum, im Rahmen einer königlichen Umfrage festgestellte geringe Mobilität der französischen Koloniebürger ohne spätere Vergleichsdaten auch für die „décennies suivantes“ anzunehmen (S. 49–53, Zitat S. 50). Weiterhin thematisiert werden das Kolonieinstitutionengefüge oder die sich in Abstufungen vollziehenden Akkulturationsprozesse („deutsch-französische“ Ehen). Ebenso kommt die Bedeutung des 1772 erlassenen Wahlbürgerrechts für die demografische Struktur der Kolonie(n) zur Sprache und wird der Stellenwert hugenottischer Gewerbetätigkeit realistisch in den gesamtwirtschaftlichen Kontext Preußens eingeordnet. Den ersten Teil beschließt eine auf der ausgewerteten Mitgliederliste 1803 basierende, instruktive Bestandsaufnahme der landesweit größten französischen Kolonie Berlin in ihrer Spätphase. Der zweite Teil steht im Zeichen der kulturellen und politischen Umbrüche, mit denen sich die Minderheit der Refugiés-Nachfahren an der Schwelle zum 19. Jahrhundert konfrontiert sah. Das Spektrum reicht hier vom dynamischen Geistesleben der Berliner Klassik, über die identitäre Herausforderung durch die Französische Revolution und als traumatisch empfundene napoleonische Herrschaft bis zur von klerikalem Widerstand begleiteten Auflösung der Französischen Kolonie im Rahmen der preußischen Reformgesetzgebung 1809 bis 1812. Diesbezüglich kann Rosen-Prest überzeugend darlegen, dass jene Auflösung nicht – wie mitunter verkürzt in älterer Forschungsliteratur zu lesen – mit der Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. vom 30. Oktober 1809 abrupt erfolgte, sondern vielmehr in einem dreijährigen Prozess vonstattenging (S. 371, 389). Die Untersuchung endet mit einem kurzen Blick auf die Ära der Befreiungskriege, in denen sich einerseits zahlreiche Hugenottennachfahren als Freiwillige meldeten, andererseits Französisch als Liturgie- und Unterrichtssprache angesichts eines wachsenden deutschen Nationalgefühls bzw. Nationalismus immer mehr unter öffentlichen Legitimationsdruck geriet.

Das zweifache Verdienst des Werks liegt in der tieferen Ausleuchtung bislang von der Forschung eher marginal oder gar nicht berücksichtigter Aspekte des wechselhaften Koloniealltags um 1800 und der differenzierenden Neubewertung vermeintlicher Gewissheiten der preußischen Hugenottenhistoriographie. Zwar finden sich über weitere Strecken der Argumentation keine grundlegend neuen Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Fundamentalprozesse, welche Kirche und Verwaltung der Réfugiés prägten – z.B. Akkulturationsphänomene wie französisch-deutscher Sprachwandel oder die generelle demografische Stagnation der Kolonien. Dessen ungeachtet gelingt es der Autorin aber, die auf vielschichtige Ursachen zurückgehende institutionelle Langlebigkeit der Französischen Kolonie entgegen aller Widersprüche und sozialen Problemlagen anschaulich zu erklären. So zeigen die Ausführungen zu den Akkulturationsfacetten den Differenzierungsbedarf der im Forschungsdiskurs noch präsenten These der Dichotomie einer um 1800 weitgehend assimilationsresistenten französischen Elite und der breiten Masse bereits assimilierter Koloniebürger. (S. 115–152) Tatsächlich lassen sich in Landkolonien wie Strasburg in der Uckermark oder dem westfälischen Minden erhebliche Widerstände gegen die Einführung des Deutschen als Unterrichts- und Liturgiesprache belegen. Neben symbolischen Identitätsfragen speisten sich diese nicht zuletzt aus der Angst vor dem Verlust der staatlichen Privilegien.

Im Kapitel zum Wahlbürgerrecht (S. 153–184), welches den vorher vereinzelten Beitritt von Personen ohne refugierte Herkunft zur französischen Gerichtsbarkeit endgültig legalisierte, wird die zweifache Zäsurwirkung jenes Gesetzes verdeutlicht: Zunächst trug es zur existentiellen Stabilisierung vieler vom Mitgliederschwund geplagter Kolonien bei, was eine 1800 durchgeführte Umfrage des Französischen Oberdirektoriums unter ihren Richtern bestätigte. (S. 174–182) Gleichzeitig änderte es jedoch die demografische Zusammensetzung jener Kolonien, durch ein Anwachsen ihres deutschsprachigen oder, im Fall der Berliner Emigrés in den 1790er-Jahren, auch ihres katholischen Anteils. Mit großem Gewinn liest man im zweiten Teil die Abschnitte zur napoleonischen Zeit (S. 329–370), in welcher sich die Réfugiés, von denen traditionell keine geringe Zahl in der preußischen Armee diente, nach dem Katastrophenjahr 1806 mit dem kollektiven moralischen Zusammenbruch und konkret der bis 1808 andauernden Besetzung Berlins durch französische Truppen arrangieren mussten. Insbesondere die kontroverse Vermittlerrolle des von Napoleon eingesetzten Comité administratif, dem vier Koloniemitglieder angehörten, wird hier in bislang ungekannter Ausführlichkeit dargestellt.

Die zentrale Frage, ob die Aufhebung der Französischen Kolonie deckungsgleich mit dem Ende der hugenottischen Diaspora in Preußen ist, beantwortet die Autorin negativ. Sie konzentriert sich weniger auf die Brüche in der Akkulturationsgeschichte der Réfugiés als auf die Kontinuitäten. Hier wird unter anderem auf das nicht bestreitbare, teils bis in die Gegenwart reichende Überleben der französischen Kirchen mitsamt ihrer Erziehungs- und karitativen Einrichtungen verwiesen. (S. 433f.) Ob man allerdings allein nach den Fundamentalumbrüchen der Jahre 1789 bis 1814, mit ihren im Buch selbst skizzierten Integrationsschüben, ernsthaft vom Fortbestehen einer kohärenten hugenottischen Minderheit in Preußen sprechen sollte, bleibt dennoch zu diskutieren.

Dieser und andere Einzelkritikpunkte sind in der Gesamtbeurteilung des empfehlenswerten Werks allerdings nachrangig. Viviane Rosen-Prest hat eine fundierte, kritische und umfassende Studie vorgelegt, die viel Neues bietet und künftig als Standardwerk gelten dürfte.

Anmerkungen:
1 Ursula Fuhrich-Grubert, „Refugierte“ und „Emigrierte“ im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zur Konstruktion von kultureller Identität einer Migrationsbewegung, in: Thomas Höpel / Katharina Middell (Hrsg.), Réfugiés und Emigrés. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1997, S. 111–134.
2 Martin Fontius, Die Integration ins deutsche Geistesleben. Die französische Kolonie in den letzten Jahrzehnten ihrer Existenz, in: Ders. / Jens Häseler (Hrsg.), Franzosen in Berlin: über Religion und Aufklärung in Preußen. Studien zum Nachlass des Akademiesekretärs Samuel Formey, Basel 2019, S. 457–504.

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