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Titel
Europa im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Cornelißen, Christoph
Reihe
Neue Fischer Weltgeschichte 7
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: S. Fischer
Anzahl Seiten
704 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Zu Europa im gesamten 20. Jahrhundert sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von angelsächsischen Synthesen entstanden und in das Deutsche übersetzt worden, zuletzt von Konrad H. Jarausch und Ian Kershaw.1 Deutsche Historiker haben zwar Synthesen zu einzelnen Zeitabschnitten des europäischen 20. Jahrhundert geschrieben. Aber kein deutschsprachiger Historiker hat sich vor Cornelißen als Alleinautor an eine Synthese des gesamten 20. Jahrhunderts europäischer Geschichte gewagt.

Cornelißen möchte anders als die bisherigen Synthesen drei „Kraftzentren“, drei grundlegende historische Bewegungsmomente dieses Jahrhunderts verfolgen: den Nationalstaat, der erst im 20. Jahrhundert seinen eigentlichen Siegeszug erreichte; die Moderne, die aus fortwährenden, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen bestand; und die Ideen und Utopien von Europa, die zwar wie im 19. Jahrhundert von Eliten ausgingen, aber über die modernen Medien im 20. Jahrhundert eine große historische Schubkraft gewannen. Das ist der rote Faden des Buches. Wie die anderen Autoren hat sich Cornelißen dabei für eine chronologische Darstellung entschieden, angesichts der tiefen Umbrüche auch kaum anders möglich. Nur in einem kurzen Anfangskapitel zieht er thematische Längsschnitte für das ganze Jahrhundert und wählt dafür die Themen Grenzen Europas, Umweltgeschichte, Sprache, Demographie und Migration. Er teilt das Buch in klassischer Weise in sieben Epochen ein.

Im ersten kurzen Teil über den Einstieg in den Niedergang des alten Europas behandelt er die Vorkriegszeit und arbeitet die tiefen sozialen und politischen Spaltungen des alten Europas, die internationalen Spannungen und den Kriegsausbruch heraus. Im zweiten Teil geht er ausführlicher auf den Ersten Weltkrieg, den nächsten Schritt im Niedergang des alten Europas ein, für ihn ein europäischer und gleichzeitig ein globaler Krieg. Der Erste Weltkrieg war europäisch, weil auf beiden Seiten der Kriegsgegner diplomatische Fehleinschätzungen beim Ausbruch des Krieges, Annexionspläne, falsche Planungen der Kriegswirtschaft, unsinnige Materialschlachten mit vielen Opfern, sinnlose Verlängerungen des Kriegs, schwere Alltagsbelastungen für die Zivilbevölkerung, Verbrechen an Zivilisten zu finden waren, ohne dass deshalb der Eigenanteil jedes Landes abgemildert würde.

Als weiteren Niedergang Europas arbeitet Cornelißen im dritten Teil über die Zwischenkriegszeit sieben Tendenzen, teils auch Gegentendenzen heraus: das Entstehen antikolonialer Bewegungen in den Kolonien trotz der ungebrochen große Selbstsicherheit der europäischen Kolonialmächte; die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der europäischen Gleichgewichtspolitik nach dem Ausscheiden des bolschewistischen Russland, der kemalistischen Türkei und später auch des faschistischen Italiens aus diesem System, wobei die Gegentrends, die internationale Zusammenarbeit etwa in der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder die neuen Europabewegungen das europäische Gleichgewicht nicht ersetzen konnten; der schrittweise Verfall der anfänglich siegreich erscheinenden Demokratien und die Spaltung Europas in Diktaturen und Demokratien; die schweren wirtschaftlichen Belastungen der Nachkriegsjahre und der Weltwirtschaftskrise; das Versagen des an sich stärker ausgebauten Wohlfahrtsstaates vor der enormen Arbeitslosigkeit, aber auch die Fehlentwicklungen der Eugenikdiskurse und der überzogene Sozialplanung von oben; die eigentlich vitale Populärkultur, die aber bald auf heftigen Widerstand stieß; und schließlich der transnationale Antisemitismus und die Laboratorien des unmenschlichen Terrors in der UdSSR, in Italien und in Spanien.

Im vierten Teil behandelt er den Tiefpunkt des Niedergangs Europas, den Zweiten Weltkrieg, Besatzungsregime und wirtschaftliche Ausbeutung, die brutale, auf die Liquidierung des Gegners ausgerichtete Kriegsführung NS-Deutschlands vor allem im östlichen Teil Europas, der Holocaust, die vom NS-Regime begonnene, von der UdSSR weiter betriebenen ethnischen Umsiedlungen mit vielen Toten, auch die europäischen Raumordnungspläne des NS-Deutschland und Italiens.

Im danach folgenden fünften Teil über den Wiederaufbau von den späten 1940er- bis zu den 1960er-Jahren behandelt Cornelißen zuerst noch die oft blutigen politischen Säuberungen in Europa nach dem Kriegsende und die ebenfalls schon direkt nach Kriegsende einsetzende Entkolonialisierung, dann den Kalten Krieg in den internationalen Beziehungen, die Durchsetzung des sowjetischen Systems im östlichen Teil und der parlamentarischen Demokratie im westlichen Teil Europas, das lange Wirtschaftswunder in beiden Teilen Europas bis zu den frühen 1970er-Jahren, den gemeinsamen gesellschaftlichen Wandel in den Städten, im Konsum, und in der staatlichen sozialen Sicherung, schließlich die Europäisierung von oben, die europäische Integration im westlichen Europa, und die Europäisierung von unten, die Lebensstilrevolution durch die kommerziell bestimmte Populärkultur. Im sechsten Teil befasst sich Cornelißen mit den 1970er- und 1980er-Jahren, mit der neuen Phase des Kalten Kriegs und der europäischen Integration, mit den Veränderungen der politischen Kultur und dem Ende der südeuropäischen Diktaturen, mit dem Ende des hohen Wirtschaftswachstums und den Folgen für die Gesellschaftsstruktur und für den Wohlfahrtstaat, mit der Bildungsexpansion und der weiteren Europäisierung von unten.

Im siebten Teil behandelt Cornelißen Europa nach dem Kalten Krieg, zuerst die Revolution von 1989 und ihre Auswirkungen auf die europäischen Integration, dann den als ersten Krieg auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wahrgenommenen Bürgerkrieg in Jugoslawien, die Veränderungen der politischen Kultur in Ost- wie Westeuropa, die wirtschaftliche Transition, den globalen Rückgang der europäischen Wirtschaft, die Immigration, die Zunahme von sozialer Ungleichheit, das Wachstum der Großstädte, die Postmoderne.

In der Zusammenfassung nimmt Cornelißen seine drei Grundlinien wieder auf: In seinen Augen wird der Nationalstaat weiterhin als wichtigste Abwehrinstanz gegen die Globalisierung gesehen und er gewinnt seine Sakralität weiterhin aus einer engen Verbindung mit der Religion. Er sieht die Europäische Union aber doch als neuartigen Akteur in zuvor nationalstaatlichen Kernbereichen, in der wohlfahrtstaatlichen Sicherung und als Rechtsgemeinschaft, auch wenn ihr ein legitimierender Gründungsmythos (S. 576) fehlt. Trotz der wirtschaftlichen Umbrüche der Moderne sieht der Autor Europa nicht in der Globalisierung aufgehen: „Die Geschichte gibt bis in das 21. Jahrhundert die Konturen einer Weltregion zu erkennen.“ (S. 581)

Cornelißen schreibt nüchtern, präzise, differenziert, anspruchsvoll, ideenreich und pointiert. Jedes durchstrukturierte Kapitel lässt sich sofort in der Lehre einsetzen. Cornelißen sieht die Geschichte Europas in ihrer ganzen Breite, schreibt Sozialgeschichte wie Militärgeschichte, Geschichte der internationalen Beziehungen wie der politischen Kultur und der Wirtschaftsgeschichte mit klugen Einschätzungen. Seine Synthese ist nicht aus einem rein westeuropäischen oder gar deutschen Blick geschrieben. Man merkt dem Buch die direkte Erfahrung von Aufenthalten nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Ostmitteleuropa und in Südeuropa an, seit 2017 als Direktor des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient. Obwohl Cornelißen den Nationalstaat als ein „Kraftzentrum“ Europas ansieht, schreibt er europäische Geschichte nicht als Addition von nationalstaatlichen Darstellungen, wie man es in älteren deutschen Geschichten Europa findet. In jedem Kapitel arbeitet er transnationale europäische Tendenzen heraus, stellt gemeinsame europäische Entwicklungen den nationalen Besonderheiten gegenüber. Europäisierung entwickelte sich für ihn nicht allein durch europäische Technokraten und Politiker von oben, sondern auch von unten aus der Gesellschaft. Cornelißen verzichtet auf zwei Dinge: Er entwickelt kein explizites neues Narrativ Europas wie Mark Mazower in eher pessimistischer Weise2 und Jarausch in eher optimistischer, für den amerikanischen Leser gedachten Weise. Die Erzählung seiner Synthese, Niedergang Europas bis zum Zweiten Weltkrieg, Rückkehr zu Wohlstand und Eigenständigkeit nach 1945, liegt freilich nicht weit weg von Jarausch und unterscheidet sich von der „Achterbahn“ Ian Kershaws. Ähnlich wie andere Europa-Bände der Neuen Fischer Weltgeschichte verzichtet Cornelißen darüber hinaus darauf, eine Weltgeschichte Europas zu schreiben, also Europa durchgängig mit anderen Weltregionen zu vergleichen und die Verflechtungen mit anderen Weltregionen zu verfolgen. Nur für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg wirft er globalhistorische Blicke auf Europa. Im Ganzen beeindruckt diese mutige, dicht geschriebene, erfahrungsgesättigte, Distanz und Engagement verbindende Synthese.

Anmerkungen:
1 Konrad H. Jarausch, Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018; Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914–1949, München 2016; ders., Achterbahn. Europa 1950 bis heute, München 2019.
2 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.