W. Prigge (Hg.): Bauhaus Brasilia Auschwitz Hiroshima

Titel
Bauhaus Brasilia Auschwitz Hiroshima. Weltkulturerbe des 20. Jahrhunderts: Modernität und Barbarei


Herausgeber
Prigge, Walter
Reihe
Edition Bauhaus 12
Erschienen
Berlin 2003: Jovis Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Redaktion Zeitgeschichte-online, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Was haben die ägyptischen Pyramiden, der Kölner Dom und Auschwitz gemeinsam? Alle drei Stätten gehören zum Weltkulturerbe der UNESCO. Der Kulturbegriff der UNESCO ist also nicht auf positive Zeugnisse der Menschheitsgeschichte beschränkt, sondern mit dem umfassenderen Anspruch verbunden, auch die Ambivalenzen des kulturellen Erbes zu berücksichtigen. Dies ist ohne Zweifel sinnvoll, denn eine Gleichsetzung von „Kultur“ mit dem „Schönen, Wahren, Guten“ wäre anachronistisch: „Wie die Pyramiden oder die Akropolis ist Auschwitz ein Faktum, ein Signum des Menschen. Die Vorstellung vom Menschen ist von nun an untrennbar mit der einer Gaskammer verbunden.“1 Freilich ist das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO eher marginal vertreten – nur 10 von insgesamt etwa 700 Architektur- und Landschaftsdenkmälern repräsentieren bislang das 20. Jahrhundert. Von diesen zehn Stätten wiederum hat Walter Prigge, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Bauhaus Dessau, vier sehr gegensätzliche für nähere Betrachtungen ausgewählt: das Bauhaus, Auschwitz, Hiroshima und Brasilia.2

Jedem der genannten Orte sind fünf bis sieben Essays gewidmet. Einleitend schreibt der Herausgeber über den „Gedächtnisraum des 20. Jahrhunderts“ im Allgemeinen, der „als Reflexionsraum von Modernität und Barbarei“ zu verstehen sei (S. 21). Während das Bauhaus und Brasilia „Gedächtnisorte kultureller Modernität par excellence“ seien, müsse man Auschwitz und Hiroshima als „Gedächtnisorte moderner Barbarei par excellence“ bezeichnen (S. 12). Das Buch solle sie „in nichtkausaler historischer Nachbarschaft“ präsentieren (S. 21). Um sich vorab über die administrativen Rahmenbedingungen des Weltkulturerbes zu informieren, setzt man die Lektüre am besten mit dem Anhang fort (Babette Scurrell, Zwischen Kultur und Politik. Dokumente zum Weltkulturerbe, S. 303-315). Ein Aufnahmeantrag für das Weltkulturerbe muss vom Staat des jeweiligen Orts gestellt werden, d.h. die Nominierung ist zunächst ein innerstaatliches und dann ein zwischenstaatliches Politikum. Aus historiographischer Sicht ist bedauerlich, dass das Weltkulturerbe-Komitee meist nur Ergebnisprotokolle anlegt und über den Gang der Verhandlungen Stillschweigen bewahrt – die Diskussionen um die Aufnahme eines Orts sind daher lediglich rudimentär nachvollziehbar (S. 304). Immerhin gibt es relativ detaillierte Beurteilungskriterien; verlangt wird vor allem „outstanding universal value“ (S. 315).

Das 1919 gegründete, 1925 nach Dessau vertriebene und 1932 auf nationalsozialistischen Druck geschlossene Bauhaus gehört seit 1996 zum Weltkulturerbe. Es war der „vielleicht letzte Versuch in der Geschichte der Moderne, eine Einheit der Kultur im Sinne ihrer Ausdrucks-, Denk- und Gestaltungsform zu entwerfen“ (so Regina Bittner, S. 61).3 Dem Schutz der UNESCO unterstehen mehrere Gebäude, zum Beispiel Henry van de Veldes Weimarer Kunstgewerbeschule von 1904/05 und das Dessauer Schulgebäude von 1926. Andere wichtige Bauhaus-Zeugnisse blieben hingegen unberücksichtigt – so etwa das Dessauer Arbeitsamt und die Siedlung Dessau-Törten. Wie Werner Möller erläutert (S. 79-86), lässt eigentlich erst das Gesamtensemble bestimmte hierarchische Gesellschaftsbilder erkennen, die für das Bauhaus charakteristisch waren. In einem ausgezeichneten Beitrag fragt Walter Prigge, wie heute mit Walter Gropius’ Wohnhaus zu verfahren sei, das während des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt und 1956 grundlegend verändert wurde (S. 87-94). Prigge unterscheidet Kanonisierung, Ästhetisierung, Historisierung und Aktualisierung; er plädiert für die letztgenannte Option und schlägt zur zeitgemäßen Neubestimmung der Bauhaus-Idee einen Wettbewerb vor.

Der ehemalige Lagerkomplex von Auschwitz steht bereits seit 1947 unter nationalem Denkmalschutz und wurde 1979 in das Weltkulturerbe aufgenommen. Hanno Loewy liefert eine sehr informative Skizze zum Umgang mit dem Gelände und zur Geschichte der dortigen Konflikte, wobei er die Vielschichtigkeit des Orts als „Friedhof“, „Museum“ und (beanspruchtem) „Ort der Versöhnung“ hervorhebt (S. 112-121, hier S. 119). Wolfgang Sofsky betrachtet die Lagerexistenz der Häftlinge aus soziologischer Perspektive als „Nahraum des Terrors“, was indes zu etwas unhistorischen Aussagen führt, weil die Entwicklungsphasen des KZ-Systems vernachlässigt werden (S. 122-129). Susanne Heim beschreibt – zum Teil in expliziter Kritik an Sofsky – „die vielfältigen Beziehungen zwischen Lager und Stadt oder besser Region“ (S. 130-139, hier S. 130). Sie erwähnt auch eine überraschende Verbindung zwischen Auschwitz und dem Bauhaus: Fritz Ertl, seit 1940 Abteilungsleiter für Hochbau in der Zentralbauleitung des Lagers, hatte 1928–1931 am Bauhaus Architektur studiert (S. 132). In einem philosophisch orientierten Aufsatz argumentiert Michael Schäfer gegen die von Zygmunt Bauman vertretene Sicht, dass sich die NS-Verbrechen in direkter Konsequenz aus den Denk- und Handlungsprinzipien der Moderne ergeben hätten (S. 151-159).

Im Abschnitt über Hiroshima ist vor allem der Beitrag des amerikanischen Politologen William Lanouette lesenswert, der „Gründe und Hintergründe des Bombenabwurfs“ diskutiert (S. 187-195). Der Streit, ob die Atombombe den Krieg verkürzt und damit insgesamt Leben gerettet oder aber vorrangig den machtpolitischen Interessen der USA gedient habe, begann bereits 1947 und reicht bis in die Gegenwart: 1995 musste eine Ausstellung des Smithsonian Institute auf Druck von Veteranenverbänden geändert werden (Enola-Gay-Kontroverse), und 1996 protestierten die USA gegen die Aufnahme Hiroshimas in das Weltkulturerbe (die aber gleichwohl beschlossen wurde). Der Friedensforscher Bernhard Moltmann kennzeichnet das Atomzeitalter als eine Phase relativer Stabilität – einer Stabilität indes, die mit hohen materiellen und immateriellen Kosten verbunden gewesen sei (S. 179-186). Gern hätte man mehr Konkretes über Hiroshima selbst erfahren, insbesondere darüber, wie die Japaner mit den Folgen des nuklearen Infernos umgegangen sind. Selbst nähere Informationen zum eigentlichen Objekt des Weltkulturerbes, dem Friedensdenkmal „Genbaku Dome“, fehlen leider.

Besonders spannend ist schließlich der Teil über Brasilia. Der Stadtkern, der so genannte Plano Piloto, wurde 1956–1960 unter Leitung von Lúcio Costa und Oscar Niemeyer errichtet; seit 1987 zählt er zum Weltkulturerbe. Wie besonders der Essay von James Holston verdeutlicht, war Brasilia Ausdruck einer ungeheuren Gestaltungseuphorie: Zusammen mit der modernen Stadt, ja gerade mittels ihrer Geschichts- und Kontextlosigkeit, sollte „ein neues Volk“ entstehen (S. 253-274, hier S. 255). Dies erforderte 36-Stunden-Tage („zwölf [Stunden] bei Tag, zwölf bei Nacht und zwölf durch Enthusiasmus“; S. 257), doch konnte die totale Planung dennoch nicht gelingen. Improvisatorische „Bastelei“ (S. 253) und die Reproduktion sozialer Ungleichheit waren unvermeidlich. Der Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm, der auf strukturelle Ähnlichkeiten von Brasilia und Ost-Berlin hinweist, kritisiert daher mit Recht die „Ästhetik der Überwältigung“ (S. 275-284, hier S. 283).

Für ein vertieftes Nachdenken über die widersprüchlichen Potentiale der Moderne bietet der Sammelband zahlreiche Anregungen, wenn man sich von der etwas hermetischen Sprache mancher Autoren nicht abschrecken lässt und einige unergiebige Beiträge rasch überblättert. Sehr ansprechend ist, dass der Einleitung und den vier größeren Abschnitten jeweils eine Serie von Schwarzweißfotos vorangestellt ist, die einen ästhetischen Einstieg in die Problematik leisten. So erhält das Werk auch den Charakter eines Kunstbuchs (wobei die Typografie der Texte indes nicht allzu lesefreundlich ist). Bedauerlicherweise findet sich innerhalb der einzelnen Beiträge kein Bildmaterial, was das Verständnis der Erläuterungen zur Architektur und Stadtplanung teilweise erschwert.

Insgesamt trägt der Band dennoch dazu bei, einen Kulturbegriff zu formulieren, der den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gerecht wird: „Was bleibt, wenn Kultur und Ausgrenzung, oder sage man Kultur und Barbarei, nicht mehr als notwendige Antagonismen gedacht werden können? Wohl nichts anderes, als in einem Akt zweiter, also über sich selbst aufgeklärter Naivität, auf diesem Antagonismus zu beharren. Das Werkzeug dieser zweiten Naivität kann nur Bildung sein, die in letzter Konsequenz mit der Freiheit des Menschen konfrontiert, sich so oder so zu entscheiden.“4

Anmerkungen:
1 So Georges Bataille in einem Aufsatz vom Mai 1947, zit. nach Traverso, Enzo, Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg 2000, S. 324.
2 Diese Reihenfolge entspricht dem Aufbau des Buchs und der historischen Chronologie. Warum im Titel eine andere Reihenfolge gewählt wurde, ist nicht ersichtlich.
3 Zum engen Ineinandergreifen von Bauhaus-Geschichte und Bauhaus-Mythos siehe auch Baumhoff, Anja, Das Bauhaus, in: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte II, München 2001, S. 584-600; S. 724f.
4 Knigge, Volkhard, Kultur und Ausgrenzung: Zur Geschichte des KZ Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar, in: Koch, Gertrud (Hg.), Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung, Köln 1999, S. 201-229, hier S. 214.

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