Cover
Titel
Berufsbildung. Entwicklung des Schweizer Systems


Autor(en)
Wettstein, Emil
Erschienen
Bern 2020: hep verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michael Geiss, Forschungsstelle "Bildung im Arbeitsleben", Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die berufliche Aus- und Weiterbildung gehört zu den Feldern, die in der bildungsgeschichtlichen Forschung seit jeher wenig Beachtung finden. Während zu Kindergärten, Elementarschulen und höherer Bildung oder der Entwicklung pädagogischer Ideen und Reformbewegungen zahlreiche Sammelbände, Überblickswerke oder gar Handbücher vorliegen, scheint die Berufsbildung kaum der historischen Erforschung wert.

Wer sich in einer systematischen und vergleichenden Perspektive für die Geschichte der Berufsbildung interessiert, bleibt derzeit, neben älteren Studien1, auf die jüngeren, historisch orientierten Arbeiten zur politischen Ökonomie des Bildungswesens angewiesen.2 Doch auch diese basieren letztlich auf informierten Überblicksdarstellungen oder quellengesättigten Einzelfallstudien.3

Allein schon deshalb ist es erfreulich, dass Emil Wettstein nun eine kurze, aber durchaus gehaltvolle Darstellung der historischen Entwicklung der schweizerischen Berufsbildung vorgelegt hat. Historikerinnen und Historikern, die sich in den letzten drei Jahrzehnten mit der schweizerischen Berufsbildung beschäftigt haben, ist Wettstein schon länger bekannt. Seine 1987 publizierte kommentierte Chronik zur Geschichte der Berufsbildung dient vielen bis heute als unverzichtbares Hilfsmittel, um sich einen Überblick zu verschaffen.4 Das nun vorgelegte Buch bringt die ältere Chronik in eine zeitgemäße Form, greift neuere Forschungsergebnisse auf und wird zudem ergänzt durch einen frei zugänglichen Materialienband, der die Recherchen Wettsteins als eine Art digitaler Zettelkasten enthält.5

Das Buch selbst gliedert sich in zwei größere Abschnitte. Der erste zeichnet die Entwicklung der schweizerischen Berufsbildung chronologisch nach. Der zweite greift insgesamt 33 Themen auf und vertieft diese in historischer wie systematischer Hinsicht. Zwei entgegengesetzte Pole strukturieren die Darstellung: Zum einen blickt Wettstein aus Sicht der Industrie, der kaufmännischen Berufe und des Handwerks auf die Entwicklung der Berufsbildung. Auch die Ausbildungsbemühungen in der Landwirtschaft oder dem Gesundheitssektor finden Erwähnung. Zum anderen thematisiert Wettstein die regulatorischen Anstrengungen der Kantone und der Bundesbehörden im Bereich des Lehrlingswesens. Damit vermeidet er es, die Geschichte der beruflichen Bildung allein aus ökonomischer oder aus politischer Perspektive zu erzählen. Vielmehr wird deutlich, dass auf Seiten der Privatwirtschaft widerstreitende Interessen vorhanden waren und auch bei den staatlichen Behörden nicht immer alle an einem Strang zogen.

Auf knappem Raum wird die Entstehung beruflicher Qualifizierungsregime zunächst aus der Kulturgeschichte der Menschheit hergeleitet. Eine vormoderne Form der Selbstregulierung der Berufsbildung findet sich dann bei den Zünften, wo es galt, die nachfolgende Generation auszubilden, aber auch dafür zu sorgen, dass die Konkurrenz vor Ort nicht zu groß würde. Die Wurzeln des heutigen Systems der schweizerischen Berufsbildung liegen aber, so ließe sich Wettsteins Darstellung zuspitzen, in den Kämpfen zwischen Industrie und Gewerbe um eine angemessene Organisation des Kapitalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert. Während das Gewerbe, also das Handwerk und der regionale Handel, in den 1880er-Jahren mehr Protektionismus verlangte, arbeitete die exportorientierte Industrie auf einen möglichst freien Zugang zum Weltmarkt hin. Dieser Konflikt, von einer Wirtschaftskrise befeuert, stellte in der Schweiz den Startpunkt des Ringens um eine umfassend regulierte Berufsbildung dar. Statt nämlich durch Zollschranken Importe zu verhindern, wie es das heimische Gewerbe verlangte, bestand die Einigung der wirtschaftlichen Interessenvertretungen und der staatlichen Behörden letztlich darin, stattdessen die Konkurrenzfähigkeit der schweizerischen Unternehmen durch eine forcierte Qualifizierungsoffensive zu stärken. Der Bund subventionierte fortan die berufliche Bildung – durchaus bemerkenswert in einem Land, in dem es bis heute 26 kantonale Schulgesetze gibt.

Wettstein zeigt auf, dass die zentralen Konfliktlinien in Fragen der Berufsbildung nicht einfach zwischen Kapital und Arbeit oder zwischen öffentlichen Behörden und Privatwirtschaft verliefen. Auch zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren, zwischen großen, exportorientierten Unternehmen und kleinen, auf den Binnenmarkt zielenden Betrieben, bestand keineswegs Einigkeit darüber, inwiefern die Berufsbildung überhaupt öffentlich reguliert werden sollte. So arbeitete der konservative schweizerische Dachverband des Gewerbes stetig darauf hin, dass der Staat nicht nur die Wirtschaft stärker regulierte, sondern den Betrieben in Fragen der Lehrlingsausbildung größere Verpflichtungen auferlegt würden. Die Konflikte von Gewerbe und Industrie begleiteten dann auch die Vorbereitungen für das erste nationale Berufsbildungsgesetz, das 1930 verabschiedet wurde, und selbst noch die erste Revision des Gesetzes von 1963. Eine andere Dynamik wiederum hatte das kaufmännische Bildungswesen, wo die Zusammenschlüsse junger Kaufleute in Form von Vereinen bereits im 19. Jahrhundert eigentliche Bildungsclubs gewesen waren. In der zentralen Interessenvertretung der Angestellten, dem heutigen Kaufmännischen Verband, spielte die berufliche Aus- und Weiterbildung entsprechend über das ganze 20. Jahrhundert eine große Rolle. Die Verbände des Gewerbes, der Kaufleute und der Industrie übernehmen bis heute parastaatliche Aufgaben – und sichern sich auf diese Weise einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der schweizerischen Berufsbildung.

Wettstein weist wiederholt darauf hin, dass die staatlich regulierte Berufsbildung vor der letzten Jahrtausendwende nicht das gesamte Feld des beruflichen Lernens abdeckte. Bis heute ist es deshalb unmöglich, einen umfassenden statistischen Überblick über die Entwicklung der Berufsbildung in der Schweiz im 20. Jahrhundert zu erhalten, da die nicht regulierten Professionen von den Behörden gar nicht erst erfasst wurden. Dies betrifft nicht nur die nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe, zu denen sich Wettstein in seinem Buch wiederholt äußert, sondern auch die ebenfalls frauendominierten sozialen und erziehenden Berufe, also etwa die Soziale Arbeit oder die Kinderbetreuung, die im Buch leider keine Beachtung finden.

Die Geschlechterordnung der beruflichen Bildung wird aber in einem gesonderten Abschnitt des Buches durchaus thematisiert: Die Geschichte der staatlich regulierten Berufsbildung war in der Schweiz in großen Teilen die Geschichte der männlichen Berufsbildung. Abgesehen von einigen Ausnahmen, etwa dem Verkauf, der Schneiderei und dem Friseurwesen oder auch den angeseheneren kaufmännischen Tätigkeiten, blieben die Berufsfelder, in denen Frauen im 20. Jahrhundert in einem nennenswerten Umfang ausgebildet wurden, häufig privat organisiert. So lag die gesamte Entwicklung und Stabilisierung der Qualifikation im Bereich der Kinderbetreuung in der Hand von Fachverbänden oder kirchlichen Trägern.6 Für die nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe zeichnete das Schweizerische Rote Kreuz verantwortlich. Diese Situation änderte sich erst in Folge der Revision der Bundesverfassung Ende des 20. Jahrhunderts. Jetzt endete die Zeit der allein gewerbeorientierten öffentlichen Förderung der Berufsbildung.

Das Buch eignet sich nicht nur als Überblicksdarstellung, sondern auch als Nachschlagewerk zu zahlreichen Einzelaspekten der Geschichte der Berufsbildung in der Schweiz. Wer möchte, lernt beispielsweise etwas zum Kuriosum der sogenannten Monopolberufe, die allein in staatseigenen Unternehmen erlernt werden konnten und die eine ganz eigene Geschichte haben. Es gibt Kapitel zu Begabtenförderung, der Qualifikation im Bereich der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien oder der landwirtschaftlichen Berufsbildung. Auch Weiterbildung, die sogenannte höhere Berufsbildung und die Hochschulen werden thematisiert.

Wettstein betont im Vorwort, dass er nicht als Fachwissenschaftler, sondern als historisch interessierter Praktiker schreibe. Deshalb ist es bemerkenswert, dass er auch die neuere Forschungsliteratur zumindest in Teilen berücksichtigt und dem historischen Phänomen der Berufsbildung durchaus einige sinnvolle Strukturierungen, vor allem zu branchen- oder berufstypischen Pfaden, abringt. Dort jedoch, wo er an den beschriebenen Entwicklungen selbst als Zeitzeuge oder als Akteur beteiligt war, die Forschungsliteratur dünn gesät oder die historische Entwicklung in die Gegenwart reicht, finden sich dann leider einige unnötige Positionierungen, die einem sorgfältigeren Lektorat durchaus zum Opfer hätten fallen dürfen. Auch wird im Text mit problematischen Quellenbegriffen oder zeitgenössischen Einschätzungen mitunter etwas unvorsichtig umgegangen. Zuletzt hat der Verlag merkwürdigerweise das Literaturverzeichnis in den Materialienband ausgelagert, obwohl im Buch nicht nur auf die Einträge des digitalen Zettelkastens, sondern auch auf einzelne wissenschaftliche Publikationen verwiesen wird.

Das schmälert den Wert dieser knappen und ausgesprochenen informativen Gesamtdarstellung der Geschichte der schweizerischen Berufsbildung kaum. Das Buch wird in den nächsten Jahren die erste Adresse sein für all diejenigen, die sich über die Organisation und Entwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Schweiz informieren möchten. Und es stellt für vergleichende Arbeiten und zukünftige bildungshistorische Untersuchungen eine hilfreiche Ausgangsbasis bereit.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Jürgen Schriewer, Intermediäre Instanzen, Selbstverwaltung und berufliche Ausbildungsstrukturen im historischen Vergleich, in: Zeitschrift für Pädagogik 32 (1986), S. 69–90; Wolf-Dietrich Greinert, Berufsqualifizierung und dritte industrielle Revolution: eine historisch-vergleichende Studie zur Entwicklung der klassischen Ausbildungssysteme, Baden-Baden 1999; Cedefop, Towards a History of Vocational Education and Training (VET) in Europe in a Comparative Perspective. Luxembourg 2004. Als Ausnahme, die die Regel bestätigt: Esther Berner / Philipp Gonon (Hrsg.), History of Vocational Education and Training in Europe. Cases, Concepts and Challenges, Bern 2016.
2 Zur vergleichenden, historisch orientierten politischen Ökonomie der Berufsbildung vgl. Kathleen Thelen, How Institutions Evolve. The Political Economy of Skills in Germany, Britain, the United States, and Japan, Cambridge 2004; Marius Busemeyer / Christine Trampusch (Hrsg.), The Political Economy of Collective Skill Formation, Oxford 2012.
3 Siehe etwa Patrick Emmenegger / Lukas Graf / Alexandra Strebel, Social versus Liberal Collective Skill Formation Systems? A Comparative-Historical Analysis of the Role of Trade Unions in German and Swiss VET, in: European Journal of Industrial Relations 26 (2020), S. 263–278.
4 Emil Wettstein, Die Entwicklung der Berufsbildung in der Schweiz, Aarau 1987.
5 Emil Wettstein, Berufsbildung. Entwicklung des Schweizer Systems. Materialienband, Bern 2020, https://www.hep-verlag.ch/download.php?p=11871&down=materialband_berufsbildung_akt030620.pdf.pdf (11.12.2020).
6 Michael Geiss / Johannes Westberg, Why Do Training Regimes for Early Childhood Professionals Differ? Sweden and Switzerland Compared, in: European Educational Research Journal 19 (2020), S. 544–563.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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