Cover
Titel
Umbruch Ost. Lebenswelten im Wandel
Weitere Titelangaben
Transformation East. Lives in Transition. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung


Autor(en)
Wolle, Stefan
Erschienen
Berlin 2020: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Lorke, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Ein älterer Herr, der in Prenzlau sorgfältig die Rückseite der Verpackung einer Tiefkühlpizza studiert; bunte, in einem Chemnitzer Reisebüro ausgebreitete Kataloge verschiedener Anbieter; der restlos überfüllte Parkplatz vor der ersten ostdeutschen Niederlassung einer großen Möbelhauskette in Günthersdorf bei Leipzig; erste Döner-Buden, chinesische Restaurants oder Sex-Shops: Spiegeln sich in diesen Schnappschüssen vordergründig Konsumrausch und neue Freiheits- und Möglichkeitsräume, symbolisiert der „Umbruch Ost“ auf verschiedenen Ebenen Neuanfang und Aufbruch, aber auch harte Abbrüche. Ob Angela Merkel, die im Zuge des Landtagswahlkampfes 1994 ein von einem großen „Nein!“ dominiertes Plakat der Öffentlichkeit präsentierte, um so gegen eine Zusammenarbeit zwischen SPD und PDS zu protestieren; ob Arbeiter aus dem thüringischen Suhl, die für die Frühschicht des Nachts bis nach Nürnberg gefahren wurden; ob die bewegende Aufnahme eines sich im Hungerstreik befindlichen Arbeiters des Kalibergwerkes Bischofferode: Der Vorzug des zu besprechenden Bandes ist zweifellos die Vielfalt, Ungleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit, die er einfängt und damit die Jahre nach 1990 als einen verdichteten, kontrast-, konflikt- wie ereignisreichen Umschwung- und Möglichkeitsraum greifbar werden lässt. Dass vorrangig die lebensweltliche und alltagsgeschichtliche Ebene in Ostdeutschland beleuchtet wird, ist mitnichten neu und inhärenter Teil der (Selbst-)Historisierung jener Zeit – und doch erfährt man Neues.

„Umbruch Ost“ ist der zweisprachige Begleitband der gleichnamigen Ausstellung. Diese steht bereits seit März 2020 in verschiedenen Formaten für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zur Verfügung und ist von Stefan Wolle und der Bundesstiftung Aufarbeitung konzipiert worden. Die feuilletonistischen Texte, mal launig und ironisierend, mal nachdenklich und einfühlsam, erheben keinen Anspruch, umfängliche Kontexte zu liefern, sie sind vielmehr Appetizer für die 19 Rubriken, die sich wohlwollend von den klassischen, eher politik- oder wirtschaftshistorischen Zugriffen auf die Zeitgeschichte seit 1990 abheben. Das unbestreitbare Herzstück bilden die insgesamt 128 Fotografien verschiedener Fotografinnen und Fotografen wie Harald Hauswald, Daniel Biskup oder Ann-Christine Jansson. Ergänzt wird der Katalog durch QR-Codes, die auf zeitgenössische audiovisuelle Quellen und Zeitzeugeninterviews verlinken; Letztere basieren auf dem multimedialen Storytelling-Projekt „Mauerfall: Neu geboren 1989“ (NDR) und markieren Erfahrungsgemeinsamkeiten und allen voran -differenzen von Ostdeutschen. Die Interviews generieren damit einen intergenerationellen Dialog und sind gleichsam Aufforderung, ins Gespräch zu kommen, ob zwischen Ost und Ost, Ost und West oder zwischen Jung und Alt. Hinzu kommen zahlreiche Infografiken zur sozialen und ökonomischen Entwicklung seit 1990, etwa zur Arbeitslosigkeit, zur kommunalen Verschuldung nach Ländern, Geschlechterbildern oder Frauen in Führungspositionen, aber auch zur Entwicklung von Lebenserwartung, Einstellungen oder Vorbehalten. Diese Zahlen weisen auf allerhand Annäherungen und Angleichungen, aber auch nach wie vor existierende Unterschiede hin. Auf diese Weise gelingt ein multiperspektivischer Zugriff auf die tiefgreifenden Wandlungsprozesse, die die postsozialistische Unübersichtlichkeit und Unsicherheit geprägt haben und die in vielerlei Hinsicht bis heute nachwirken.

Die thematischen Schneisen werden jeweils mithilfe von sieben Fotografien visuell charakterisiert. Diese Herausforderung, derart vielschichtige, konfliktreiche und emotional aufgeladene Thematiken mit nur wenigen Momentaufnahmen bildlich auf den Punkt zu bringen, glückt über weite Strecken differenziert und differenzierend. Implizit erzählen diese Fotografien die vielfältigen Diskrepanzen zwischen hochfliegenden Erwartungshaltungen und konkreten Erfahrungen, ohne diese jeweils auszubuchstabieren. In der Rubrik „Endlich Westen“ werden die unmittelbaren Folgen der Währungsunion, das weitgehende Verschwinden von Ost- und der schier unaufhörliche Siegeszug von Westprodukten anschaulich durch das Bild eines Trabant-Händlers eingefangen, dessen Ware über Nacht Ladenhüter geworden ist. Unter das Rubrum „Gemeinsamkeit“ fällt die symbolträchtige Verhüllung des Reichstages durch den bulgarischen Künstler Christo vor 25 Jahren oder die Verlegung des Bundestages von Bonn nach Berlin. Doch erfolgten Vereinigungen auch auf anderen Ebenen, wie fotografisch mit dem Bundeswehrgelöbnis ehemaliger NVA-Soldaten festgehalten. Zur Herstellung der deutschen Einheit gehörte aber auch die „Aufarbeitung“ mit dem hehren, bis kontrovers diskutierten Anspruch, ein differenziertes Bild des Vergangenen zu erlangen. Unter „Aufbrüche“ fasst der Katalog vorrangig Abbrüche und Wegzüge sowie Schrumpfungs- und Vergreisungstendenzen. Zwar ist in demographischer Hinsicht regional zu unterscheiden, doch leidet das „flache Land“ im Osten ungleich stärker unter damaligen Verlusten.

Mit Verlust und Einbußen verbinden sich auch andere Bereiche: „Abwicklung“ rekurriert auf den Verlust des Betriebslebens als Anker in der Lebenswelt, was allenthalben mit einem Verlust des Selbstwertgefühls einherging. Der Übergang von einer hochgradig organisierten „Arbeitsgesellschaft“ hin zu einer risikobehafteten Marktgesellschaft war mit sozialer Unsicherheit verbunden, illustriert durch die baldige Entstehung der ersten Arbeitsämter im Osten Deutschlands. ABM, Kurzarbeit, Umschulung: All das waren plötzlich neu zu erlernende Begrifflichkeiten, was freilich nicht nur Deutsche zu spüren bekamen. Dies verdeutlicht der wichtige bildliche Hinweis auf das Schicksal der noch in Ostdeutschland verbliebenen „Vertragsarbeiter“, häufig als erste mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Unmittelbar mit diesen Abbrucherfahrungen verbunden steht der Abschnitt über die „Treuhand“: Privatisierung, daraus resultierende Proteste und andere Eruptionen, hier dramatisch durch die Einschusslöcher im Wohnhaus Detlev Rohwedders porträtiert, weisen auf einen Gegenstand, der zwar jüngst auch zeithistorisch verstärkt diskutiert wird; indes changieren die Erinnerungen und Deutungen weiterhin zwischen Rücksichtslosigkeit und Bereicherung auf der einen, Notwendigkeit und unvermeidbarer Erfordernis auf der anderen Seite.

Wie ambivalent die Kategorien jeweils in sich sind, belegt die Sektion zu „Frauen“. Gemeinhin und verkürzt als die „Verliererinnen“ der Einheit bezeichnet, eben vor allem, weil sie häufig die ersten waren, die entlassen wurden, ist bei näherem Hinsehen genauer zu unterscheiden: Nicht nur die im Katalog dargestellte brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt oder die damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend Angela Merkel, sondern zigtausende weitere Beispiele stehen für selbstbewusste Aufbrüche trotz widriger Umstände, sie verkörpern Aushandlungskämpfe auf Ebene der Gleichberechtigung, etwa bei den Diskussionen um den Abtreibungsparagraphen 218. Widersprüche und Neuerungen finden sich auch unter „Sanierung“, wenn der Weg von abrissreifen Häusern zu sanierten Fassaden nachgezeichnet, Verkehrsinfrastruktur- und weitere gigantische Investitionsprogramme oder die Entsorgung von „Altlasten“ abgebildet werden. Erwartbar folgt dann auch ein besonders wirkmächtiges Symbol des „Aufbau Ost“: der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche.

Zugewinne auf der einen, „Verluste“ (wie die Schließungen öffentlicher Bibliotheken und der Stellenabbau im Kulturbereich) auf der anderen Seite: Die Reaktionsmuster hierauf waren vielfältig und ohne „Ostalgie“ kommt folglich auch dieser Band (verständlicherweise) nicht aus – ob nun repräsentiert durch die „Ost-Schrippe“, DDR-Rockmusik oder andere Surrogate wie Ost-Messen, Ostalgie-Partys und weitere Formen soziokultureller Rückbesinnung, für die einen trotzige Selbstermächtigung der Vergangenheit, für andere Ausdruck einer dezidierten, ja bedenklichen Abgrenzung und Desintegration. Andere Modi, mit der neuen „Fremdheit“ umzugehen, sind im Kapitel „Rechtsradikalismus“ versammelt: Ob „Nationale Alternative“, die Anschläge in Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen, Hakenkreuz-Schmierereien an verfallenden Provinzbahnhöfen: All dies löste zeitgenössisch Schrecken und Ablehnung aus und findet bis heute Elemente in einer Nachgeschichte, etwa des (hier nicht thematisiertem) Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Während „Jugendkulturen“ mit Raver/innen oder Skater/innen die adoleszente Nutzung neuer Freiheitsräume vertieft, markiert „Vereint“ mit der Oderflut (1997) oder dem Elbehochwasser (2002) und den abertausenden freiwilligen Helferinnen und Helfern Spendenbereitschaft und Solidarisierung. Wichtig ist ebenfalls die Sparte „Nachbarn“, womit der Realität der geographischen Mittellage der Neuen Länder nach der EU-Osterweiterung entsprochen wird, und zwar auch mitsamt den Schattenseiten (Kriminalität, Armutsprostitution u.a.). Der letzte Abschnitt „unvollendet“ resümiert eine zwiespältige und zum Nachdenken einladende Bilanz – eine Bilanz, die sich heute manche zunutze machen, wenn sie mit Slogans wie „Wende 2.0“, „Vollende die Wende“ oder dem gekaperten Ruf „Wir sind das Volk“ in bewusster Anknüpfung an positive Erfahrungen des kollektiven Gelingens früherer Tage anzuschließen versuchen. Diese Re-Interpretation und Abschottungsformeln verheißen emotionale, semantische und symbolische Kompensation und somit Aussicht auf die Wiedererlangung von Respekt und Anerkennung. Die an weit verbreitete Unmutsgefühle anknüpfenden geschichtsklitternden Gleichsetzungen der SED-Diktatur mit der heutigen Zeit unterstreichen, wie ungemein wichtig Reflexion und historisch-politische Aufklärung über jene Umbruchsjahre sind.

Dass die Kluft 30 Jahre nach der Einheit nicht mehr allein zwischen Ost und West verläuft, sondern häufig „quer“ dazu liegt, darauf deutet die abschließende Gegenüberstellung zweier Fotografien des von Leerstand geprägten Gelsenkirchen mit dem hübsch hergerichteten Marktplatz in Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern). Ob es der Ausstellung auf diese Weise gelingen wird, auch im „Westen ein Bewusstsein für das Ausmaß der Umbruchserfahrungen […], die in der ostdeutschen Gesellschaft fortwirken“, zu entwickeln, werden die Besucherinnen und Besucher beurteilen. Gelungen sind Sichtbarmachung und erfahrungsgeschichtliche Historisierung allemal, zumal dabei weder einer Viktimisierungs- noch einer Kolonialisierungsgeschichte das Wort geredet wird, denn nicht allein Enttäuschungserfahrungen, sondern auch neue Chancen und Aufbrüche finden ihren Platz. Ob das Vorhaben auf diese Weise auch zu einer kontraintuitiven Irritation beitragen kann, um den exotisiert-fremden Osten zu „normalisieren“ und eingefahrene Gewissheiten westdeutschen (Nicht-)Wissens über den Umbruch wirklich auszuräumen, muss indes offen bleiben.

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