C. Kiene: Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus

Cover
Title
Karl Spiecker, die Weimarer Rechte und der Nationalsozialismus. Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie


Author(s)
Kiene, Claudius
Published
Berlin 2020: Peter Lang GmbH
Extent
304 S.
Price
€ 49,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Matthias Stickler, Institut für Geschichte, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Karl Spiecker (1888–1953) gehört zu den heute weitgehend vergessenen christdemokratischen Politikern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die hier zu besprechende Studie baut auf den Ergebnissen von Claudius Kienes an der Freien Universität Berlin entstandenen und von Uwe Puschner betreuten Masterarbeit auf, die von der Forschungsstelle Weimarer Republik der Universität Jena und dem Verein Weimarer Republik mit dem Hugo-Preuß-Preis 2019/2020 ausgezeichnet wurde. Für die Drucklegung wurde das Manuskript der Masterarbeit überarbeitet und erheblich erweitert, sodass im Ergebnis eine sehr beeindruckende biographische Studie entstanden ist, die wesentliche neue Erkenntnisse zur Geschichte der Zentrumspartei respektive der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) in der Weimarer Republik bzw. der frühen Bundesrepublik liefert. Spiecker war bisher überwiegend nur einschlägig forschenden Spezialisten bekannt. Detlev Hüwel charakterisierte ihn 1982 als „eine Art graue Eminenz der Politik“ und stellte fest, dass seine Aktivitäten kaum greifbar seien.1 Kurt Düwell hob im „Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland“ vor allem auf Spieckers Rolle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ab.2

Über den Menschen Karl Spiecker weiß man vergleichsweise wenig, was nicht zuletzt eine Folge der schwierigen Quellenlage ist. Das gilt vor allem für die mutmaßlich prägenden Jahre seiner Jugend. So gibt es erstaunlich wenig gesichertes Wissen über seine Studienzeit in Straßburg, Berlin und Rom, wo er offenbar Philosophie, Rechtswissenschaft, Geschichte und Archäologie studierte. Anders als viele andere Zentrumspolitiker mit akademischer Bildung war der 1888 in Mönchengladbach geborene Sohn eines Oberpostsekretärs wohl nicht Mitglied einer katholischen Studentenverbindung und hatte damit auch nicht Teil an deren damals sehr bedeutsamen Netzwerken. Wo und in welchem Fach bzw. über welches Thema Spiecker promoviert wurde, ist ebenso unbekannt wie das Jahr, in dem er dem Zentrum beitrat. Mutmaßlich muss dies noch vor dem Ersten Weltkrieg geschehen sein, weil er ab 1912 Chefredakteur der Centrums-Parlaments-Correspondenz war. Der „gelernte[] Journalist“ (S. 18) kam, nachdem er wegen einer Kriegsverletzung ausgemustert worden war, 1917 in die Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes, arbeitete also nunmehr als Medienexperte an einer Schnittstelle von Nachrichtendiensten und auswärtiger Politik. Die hierbei gemachten Erfahrungen qualifizierten Spiecker offenbar für einen Spezialauftrag in der Oberschlesienfrage. Er amtierte 1920/1921 gleichsam als deutscher Nachrichtenchef in Oberschlesien und war zuständig für die Finanzierung der deutschen Propagandaaktivitäten im Kontext der gemäß dem Versailler Vertrag am 20. März 1921 abgehaltenen Volksabstimmung über die Frage, ob Oberschlesien künftig zu Deutschland oder zu Polen gehören solle. Obgleich Spiecker aus dieser Tätigkeit, langfristig gesehen, ein durchaus wichtiges Netzwerk erwuchs, wurde ihm sein Einsatz damals nicht gedankt. Bekanntlich wurde Oberschlesien trotz einer 60-Prozent-Mehrheit für Deutschland 1922 geteilt. Die radikale politische Rechte nutzte die Tatsache, dass viele von Spieckers Aktivitäten in Oberschlesien aus Gründen der außenpolitischen Staatsraison der Weimarer Republik geheim bleiben mussten, um gegen ihn zu hetzen. Gleichzeitig beschädigten diese Kampagnen seinen Ruf auch innerhalb der Zentrumspartei, wo er ein Mann des linken Flügels war. Sie beendeten ab Mitte der 1920er-Jahre seine Parteikarriere, die, auch wegen der Förderung, die er durch Reichskanzler Wilhelm Marx erfahren hatte, vielversprechend begonnen hatte.

Spiecker war nach seiner Rückkehr aus Oberschlesien zunächst 1922/1923 Verlagsdirektor des Zentrumsorgans Germania, dann bis Anfang 1925 als Ministerialdirektor Leiter der Presseabteilung der Reichsregierung. Seither befand sich Spiecker offenbar im einstweiligen Ruhestand, was ihm eine gewisse Versorgung sicherte. Dennoch war er letztlich „in der beruflichen Sackgasse“ (S. 124). Eine von ihm selbst nach 1945 behauptete Tätigkeit im Auswärtigen Amt ist jedenfalls, so Kiene, nicht nachweisbar. Ausgerechnet der Erdrutschsieg der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 beendete diese Hängepartie. Spieckers alter Weggefährte Joseph Wirth, Reichsinnenminister im ersten Präsidialkabinett Heinrich Brüning und ebenso ein Vertreter des linken Zentrumsflügels, holte ihn zum 1. Oktober 1930 als Sonderbeauftragten zur Bekämpfung des Nationalsozialismus in sein Ministerium. Für die radikale Rechte war diese Ernennung eine Provokation, galt sie doch einem Mann, der sich bereits als ihr vehementer Gegner hervorgetan hatte. In den Jahren seines Karriereknicks hatte Spiecker in zahlreichen Organisationen Verantwortung übernommen, die gemäßigt links und stramm antinationalsozialistisch orientiert waren: 1927 gründete er die „Vereinigung Republikanische Presse“ und übernahm deren Vorsitz, 1928 wurde er Vorstandsmitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, ferner gehörte er dem Vorstand des Republikanischen Reichsbunds an und engagierte sich für den Republikanischen „Studienbund“ (S. 123); gemeint ist von Kiene hier wohl der 1922/1928 gegründete „Republikanische Studentenbund“. Spieckers Tätigkeit im Reichsinnenministerium endete bereits nach einem guten Jahr im Zusammenhang mit Wirths Entlassung als Minister.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten dauerte es nicht lange, bis Spiecker am 26. September 1933 aus dem Reichsdienst entlassen wurde. Daraufhin ging er nach Paris, wohin seine Familie ihm allerdings nicht folgte. Die beiden Söhne leisteten folglich Kriegsdienst, der ältere galt seit Januar 1945 als vermisst. Seinen Wohnsitz in Deutschland gab Spiecker Ende 1934 endgültig auf, 1939 wurde er ausgebürgert. Im Exil in Paris, London, New York und Montreal gehörte er zu den profilierten Vertretern des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Spiecker war publizistisch tätig, gehörte der 1936/1937 gegründeten „Deutschen Freiheitspartei“ (DFP) an und amtierte auch als deren Quasi-Vorsitzender. Die DFP war der Versuch, eine Art bürgerlich-demokratische Sammlungsbewegung zu gründen; sie unterhielt auch Kontakte zum innerdeutschen Widerstand. An der Abfassung der „Deutschen Freiheitsbriefe“, die im Reich verbreitet wurden und den Anschein erwecken sollten, dass die DFP dort eine Art Untergrundorganisation besitze, war Spiecker sehr wahrscheinlich maßgeblich beteiligt. Dort propagierte Ziele waren vor allem Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde sowie christliche Kultur und Tradition als Grundlage deutscher Gesinnung. Weitere wichtige Widerstandsmedien, die Spiecker initiierte und mitgestaltete, waren die Monatsschrift „Das wahre Deutschland“ und der „Freiheitssender“ der DFP.

Nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Spätsommer 1945 stürzte Spiecker sich, anders als insbesondere seine Frau es gehofft hatte, sofort wieder in die Politik. Doch gelang es ihm erneut nicht, in die erste Reihe aufzusteigen, „weil er die politischen Gegebenheiten falsch interpretierte“ (S. 258). Er gehörte zu den Wiedergründern der Zentrumspartei und wurde 1946 deren zweiter Vorsitzender, doch konnte diese nicht mehr an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Kiene weist zu Recht darauf hin, dass Spiecker die Situation 1945 ähnlich einschätzte wie die Begründer der CDU; auch ihm ging es um die Überwindung der Fragmentierung des Weimarer Parteiensystems. Aber anders als bei Adenauer, der die Trennlinie zwischen den politischen Kräften weltanschaulich identifizierte (christliche versus marxistisch-materialistische Weltanschauung), was eine Abgrenzung von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) mit einschloss, verlief sie für Spiecker entlang der Grenze „demokratisch versus antidemokratisch“. Hierbei unterschätzte er, so Kiene zutreffend, zum einen die Integrationsbereitschaft der früheren Weimarer Rechten wie auch das Integrationspotential der CDU. Spiecker betätigte sich landespolitisch in und für Nordrhein-Westfalen. Seit dem April 1948 war er dort Minister und Bevollmächtigter beim Länderrat der Bizone. Im Dezember 1948 wurde er zum Bundesvorsitzenden der Zentrumspartei gewählt, musste aber, weil er nun – zu spät – deren Fusion mit der CDU betrieb, bereits am 31. Januar 1949 wieder zurücktreten und wurde aus seiner Partei ausgeschlossen. Jetzt trat er der CDU sozusagen als Spätberufener bei und konnte, gefördert von Ministerpräsident Karl Arnold, der ebenfalls dem linken Zentrumsflügel entstammte, bis zu seinem Tode Landesminister bleiben. Eine bundespolitische Karriere blieb ihm jedoch (erneut) versagt. Sein sogenanntes „Schlesien-Netzwerk“ (S. 222), hier insbesondere das 1952 gegründete Kulturwerk Schlesien, wo er auch frühere politische Gegner wiedertraf, war für Spiecker nach 1945 nicht zuletzt deshalb wichtig, weil er dort die Anerkennung erfuhr, die ihm von anderer Seite versagt blieb. Ein bisher kaum beachteter Aspekt des politischen Lebenswerks Spieckers ist, dass er nach 1945 eine Art Mentor für Rainer Barzel war, der sich der CDU erst 1954 anschloss.

Kienes sehr gelungene Arbeit macht erst gar nicht den Versuch, Spiecker als gleichsam tragische Figur zu rehabilitieren oder zu überhöhen. Zweifellos war Spiecker aber, worauf Kiene im Anschluss an Winfried Becker mit Recht verweist, ein wichtiger Vertreter deutscher Demokratiegeschichte vor 1945, ein leider immer noch verkanntes Feld der neuesten Geschichte Deutschlands. „Eine andere Geschichte der christlichen Demokratie“ – dieser Untertitel unterstreicht, dass Karl Spieckers politisches Leben für einen alternativen Traditionsstrang christdemokratischer Politik steht. Zu der Frage, warum sich dieser nicht durchsetzen konnte, leistet Kienes gut lesbares Buch einen wichtigen Beitrag.

Anmerkungen:
1 Vgl. Detlev Hüwel, Karl Spiecker, in: Walter Först (Hrsg.), Zwischen Ruhrkontrolle und Mitbestimmung, Köln 1982, S. 145 und S. 218.
2 Vgl. Kurt Düwell, Spiecker, Carl, in: Winfried Becker u. a. (Hrsg.), Lexikon der Christlichen Demokratie, Paderborn 2002, S. 371f.

Editors Information
Published on
Edited by
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review