I.T. Berend: Economic History of a Divided Europe

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Titel
Economic History of a Divided Europe. Four Diverse Regions in an Integrating Continent


Autor(en)
Berend, Ivan T.
Erschienen
Abingdon 2020: Routledge
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
£ 120.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Falk Flade, Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien (ZIP), Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder; Falk Flade, Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien, Europa-Universität Viadrina

In seiner neuesten Monografie verbindet der renommierte Wirtschaftshistoriker Iván Tibor Berend frühere Arbeiten zur ökonomischen Entwicklung europäischer Länder mit aktuellen Fragen der europäischen Integration. In „Economic History of a Divided Europe“, das bisher nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, geht Berend historischen Ursachen ökonomischer Unterschiede zwischen europäischen Ländern und Regionen nach, die sich trotz der Harmonisierungspolitik der EU bis heute hartnäckig halten und deshalb Beachtung finden sollten.

Auf der Grundlage einer longue-durée-Betrachtung erkennt Iván Berend vier Regionen in Nordwest-, Süd-, Mittel- und (Süd-)Osteuropa, die sich durch anhaltende Einkommens- und Wohlstandsniveaus unterscheiden. Diese Einteilung deckt sich aber nur zum Teil mit anderen bekannten Kategorisierungen wie der Wohlfahrtsstaatstypologie des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen.1 Nach Berend gelang den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten der Aufstieg in die Wohlstandsklasse erst relativ spät. Grundsätzlich wurde in den heutigen Staaten des nordwestlichen Europas in einem mehrere Jahrhunderte andauernden Prozess ein Wohlstandsniveau erreicht, das durch bessere Möglichkeiten der Kapitalakkumulation und gezielte Investitionen in Wirtschaft und Bildung weiter gefestigt und ausgebaut wurde. Das andere Extrem stellen nach Meinung von Iván Berend Länder in (Süd-)Osteuropa dar, die sich über längere Zeiträume unter osmanischer und russischer Fremdherrschaft befanden und dadurch an wichtigen Entwicklungen der europäischen Neuzeit wie Reformation, Aufklärung oder Industrialisierung nicht oder verspätet teilnahmen. Dazwischen befinden sich die Länder Süd- und Mitteleuropas, die aufgrund ihrer geografischen und kulturellen Nähe zum hochentwickelten Nordwesten bessere Entwicklungschancen hätten. Iván Berend geht davon aus, dass soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren ausschlaggebend für die Konservierung der beschriebenen regionalen Differenzen sind. Damit folgt er Douglass North und dem Konzept institutioneller Pfadabhängigkeiten.2

Iván Berend zieht als Maßstab für seine Untersuchungen ganz überwiegend das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf heran. Der absehbaren Kritik am BIP als zentralem Wohlstandsmaßstab entgegnet er, dass „several examinations prove that various other factors of human development, including nourishment, housing, health, education, even water consumption, length of leisure time and traveling abroad, or satisfaction with life are closely connected to GDP levels. […] In other words, the per capita GDP index reflects general development levels quite well.” (S. 11) Aus Mangel an anderen, langfristig erhobenen Kennzahlen ist das BIP als Untersuchungsgrundlage sicherlich nach wie vor aussagekräftig. Allerdings bleiben so möglicherweise wichtige Nuancen unbemerkt, die gerade in Anbetracht der dynamischen Entwicklung der Gegenwart von Bedeutung für die Argumentation des Buches wären.

Außerdem verteidigt Iván Berend den in der Monografie zentralen Begriff „Rückständigkeit” (backwardness): „In my view, based on my very personal experience, backwardness is a harsh reality and is not a cultural prejudice or bias.” (S. 13) Möglicherweise würden jüngere Wissenschaftler eine solche Benennung vermeiden, da so auch festsitzende Vorurteile bezüglich eines kulturellen West-Ost-Gefälles in Europa mitschwingen.

Auf dieser Grundlage sucht Iván Berend Antworten auf folgende Fragen: Was ist die eigentliche Ursache der Ungleichheit zwischen verschiedenen Regionen und Ländern? Warum entwickelten sich einige Länder und Regionen zum Kern und andere zur Peripherie? Was war ursächlich für die Etablierung besserer und stabiler Institutionen in einigen Ländern und Regionen? (S. 24) Was waren die Hauptgründe für die Beständigkeit der regionalen Unterschiede? (S. 75) Interessanterweise erteilt Iván Berend dem Kommunismus als Begründung für die regionalen Unterschiede bereits in der Einleitung eine Absage: „[…] Moving beyond the inadequate explanation that early-21st-century phenomena are merely the legacies of the immediate past decades, this book addresses the much deeper roots of historical difference between European regions.” (S. 8) Diese auf den ersten Blick erstaunliche Zurückweisung der mit regionalen Unterschieden mehrere Jahrzehnte andauernden kommunistischen Episode sowie ihres Erbes als Erklärungsfaktor ist mit Sicherheit eine Reaktion des Autors auf die unzähligen Untersuchungen der letzten drei Jahrzehnte, die ausschließlich den Kommunismus als Ursache der Transformations- und Modernisierungsprobleme in Ost- und Mitteleuropa heranziehen. Tatsächlich weist Berend eine Persistenz des Wohlfahrtsgefälles nach, die weit über den kommunistischen Zeitraum hinausreicht.

Der Einleitung folgt im ersten Kapitel eine Darstellung der ökonomischen Entwicklung Nordwesteuropas, die ihre Anfänge in den Niederlanden und England der frühen Neuzeit nahm und dann im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte auf benachbarte Länder wie das absolutistische Frankreich und (das spätere) Deutschland übergriff. Nach Meinung von Iván Berend zeichnete sich diese Region durch eine einheitliche, von Reformation, Aufklärung und Rechtstaatlichkeit geprägte Kultur aus. Diese Einflüsse wirkten sich in den um diesen nordwestlichen Kern liegenden Ländern nur mittelbar aus, wobei insbesondere direkte Anrainer wie Irland, Finnland, das Baltikum oder Teile Mitteleuropas von den wirtschaftlichen und kulturellen Kontakten profitieren konnten (S. 48). Im Ergebnis unterscheidet Berend für das Jahr 1913 die vier bereits genannten europäischen Regionen, wobei er die Existenz wirtschaftlich rückständiger Gebiete im entwickelten Nordwesten sowie fortschrittlicher Räume in der Peripherie anerkennt, aber explizit aus seiner Betrachtung ausschließt.

Im folgenden zweiten Kapitel geht Iván Berend in Anlehnung an seinen longue-durée-Ansatz sowie die Zurückweisung eines grundlegenden Einflusses der kommunistischen Periode dann auf aktuelle Entwicklungen im 21. Jahrhundert ein. Der Autor konstatiert, dass einige Länder wie Skandinavien, Finnland oder Irland den Sprung in die Kerngruppe im Nordwesten schafften, während sich der Abstand zu anderen Ländern im Verlauf des 20. Jahrhunderts vergrößerte. Trotzdem sieht Berend insgesamt eine deutliche Kontinuität der ökonomischen Verhältnisse (S. 72).

Im dritten Kapitel belegt Iván Berend nochmals die Beständigkeit der entstandenen Wohlstandsgefälle und führt diese auf soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren zurück. Insbesondere die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 habe die Oberflächlichkeit der auf den ersten Blick positiven wirtschaftlichen Entwicklung in einigen Ländern insbesondere in Südeuropa aufgezeigt: „The collapse and struggle to return to financial health has made it clear that the Mediterranean-Irish region did not really belong to the European core […]. In spite of the successful catching-up process and in spite of the high level of per capita GDP, they exhibited structural-economic and social weaknesses. The PIIGS countries have lower levels of capital accumulation and domestic investments. The rapid economic growth was thus mostly generated by massive foreign capital inflow and investments, in great part from the core region.” (S. 81) Allerdings resümiert Iván Berend bereits an dieser Stelle, dass ein Aufschließen möglich sei: „Nevertheless, regional differences, though deeply rooted and slowly changing, are not cemented into history forever. Slowly working international and domestic forces may contribute to changes and elevate countries and regions from middle- and low-income peripheral status toward the advanced high-income level. Membership in the EU and closer integration with the West may contribute to the gradual economic rise of the peripheries and gradually weaken corruption, black market activity, authoritarian political tendencies and other economic-social-cultural and political characteristics of backwardness.” (S. 110) Wahrscheinlich klingt an dieser Stelle auch die persönliche Weltanschauung des Autors an, die ökonomische Entwicklung untrennbar von demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen sieht. Diese gerade nach dem Zerfall des Kommunismus weit verbreitete Sichtweise wird in den letzten Jahren allerdings weniger offensiv geäußert.

Nach einer eingehenden Analyse der vier Regionen in Kapitel 4 bis 7 fasst Iván Berend im Fazit des Buches nochmals zusammen, dass die Einkommens- und Wohlstandshierarchie in Europa über lange Zeiträume relativ stabil geblieben sei und sich in den vergangenen 150 Jahren aufgrund selbstverstärkender Effekte noch verfestigt habe. Nur wenigen Regionen und Ländern wie Skandinavien, Irland oder Estland sei der ökonomische Aufstieg aus der Zone des mittleren Einkommens gelungen. Insbesondere soziale und kulturelle Ursache würden den Aufstieg weiterer Länder der Peripherie verhindern: „The combination of persistent aristocracy with foreign rule favored the emergence of predatory states in Central and East Europe, with societies notable for their extreme degrees of income inequality and for the exploitation of their majority populations by their aristocratic or oligarchic minorities.“ (S. 259) Außerdem wagt Iván Berend unter Vorbehalt einen Ausblick. Demnach werden in den nächsten 100 Jahren einige weitere Länder zum reichen Nordwesten aufschließen. Allerdings seien dafür eine weitere stabile EU-Harmonisierungspolitik, ein nachhaltiger Institutionentransfer sowie entsprechende Innenpolitiken notwendig. Ökonomische Krisen und populistische Trends könnten diese Entwicklung jedoch gefährden.

Trotz der teilweise umstrittenen Begrifflichkeiten ist die Monografie „Economic History of a Divided Europe“ aufgrund der breiten Perspektive und des angeführten Zahlenmaterials eine lohnende Lektüre. Berend zeigt grundlegende Zusammenhänge auf und thematisiert so eine Frage, die nicht erst seit den Arbeiten Douglass Norths bewegt. Allerdings bleibt die Analyse gerade aufgrund des longue-durée-Ansatzes sowie des BIP als alleinigem Maßstab unter dem Strich doch ein eher schablonenhafter Überblick. So wird die unbestreitbar prägende kommunistische Epoche kurzerhand ausgeklammert und die dynamische Entwicklung einzelner Staaten der „Peripherie“ nicht näher beleuchtet. Insbesondere bezüglich der Ländergruppe, die im Buch als Zentrum zusammengefasst wird und erst seit 2004 Mitglied der Europäischen Union ist, scheint eine schnellere Angleichung an das nordwesteuropäische Einkommens- und Wohlstandsniveau möglich, als es der Autor prognostiziert. Die Entscheidung des Autors, die Perspektive (auf Kosten der Tiefe) eher breit zu wählen, sollte Leserinnen und Lesern vor der Lektüre bewusst sein.

Anmerkungen:
1 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, N.J. 1990.
2 Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance. The Political Economy of Institutions and Decisions, Cambridge 1990.

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