Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Hrsg.): Object Links

Cover
Titel
Object Links. Dinge in Beziehung


Herausgeber
Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit
Reihe
Formate – Forschungen zur Materiellen Kultur 1
Erschienen
Anzahl Seiten
207 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedemann Yi-Neumann, Institut für Ethnologie und Ethnologische Sammlung, Universität Göttingen

Der vorliegende Sammelband, den Historiker/innen und Archäolog/innen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) vorgelegt haben, ist der erste Band der neuen Reihe „Formate – Forschungen zur Materiellen Kultur“ des Böhlau Verlags, die sich als neue Plattform für historisch-interdisziplinäre Perspektiven der materiellen Kulturforschung etablieren möchte.1 Der Band versteht sich als ein Beitrag zur materiellen Kulturforschung, der ausgehend von Objektbezügen den gesellschaftlichen Stellenwert des Materiellen anhand seiner Verlinkung herausarbeiten will, d. h. anhand von materiellen Praktiken, symbolischen Zuschreibungen und Dingverständnissen (vgl. S. 9). Die Verlinkung von Objekten ist einerseits ein empirisch beschreibbares Phänomen, andererseits aber auch eine Form der geschichtswissenschaftlichen Methodik von Archäolog/innen und Historiker/innen, Dingverweise entlang des Materiellen wie des Textlichen zu rekonstruieren.

Der Band nimmt „Objektgesellschaften“ Niederösterreichs, genauer gesagt der Donauregion hauptsächlich zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, in den Blick. Den konzeptuellen Ausgangspunkt bilden dabei gegenwärtige Ansätze des „Materiality Turns“ (auch als „material turn“ bezeichnet) aus den Sozialwissenschaften, der Gesellschaften anhand ihrer Dinglichkeit untersucht. Das IMAREAL-Team möchte damit die Textzentriertheit der Geschichtswissenschaft um eine materielle Perspektive ergänzen (vgl. z. B. S. 156) sowie klassische Objektkategorien anhand der Untersuchung ihrer Verbindungen überschreiten (vgl. S. 15).

Schon die Struktur des Bandes offenbart, dass dieser in intensiver Zusammenarbeit entstanden ist. Nach einer gelungenen Einleitung, die das Vorhaben theoretisch verortet, wird ein “making of“ präsentiert, das Einsichten in den gemeinsamen Arbeitsprozess, etwa in Form von Methodenworkshops, gewährt. In diesem Zusammenhang wurde auch das "Begriffsforum" (S. 21-24), eine Sammlung gemeinsam erarbeiteter theoretischer Begriffe, erstellt. Die empirischen Kapitel des Bands umfassen detaillierte Beiträge, die aufschlussreiche Einblicke in die Zusammenhänge und Komplexität spätmittelalterlicher materieller Konfigurationen liefern. Objektrepräsentationen, die Herrschaftsansprüche legitimieren sollen, weisen aufschlussreiche Objektumdeutungen und Perspektivenverschiebungen auf, wie etwa am Beispiel der dargestellten Besitztümer in der Topographia Windhagiana einer emporstrebenenden Niederadelsfamilie (Beitrag von Thomas Kühtreiber) gezeigt wird. Des Weiteren ist zu erfahren, dass Brücken bis heute prägende Infrastrukturen darstellen und dass diese darüber hinaus als eigenständige Rechtspersonen und Vermögenseigentümer/innen fungierten (Beitrag von Elisabeth Gruber), eine Perspektive, die so manch gegenwärtigem Paradigma materieller Kultur erstaunlich nahekommt. Ferner eröffnet dieser Band auch Einsichten in gesellschaftliche Organisation, Nahrungsverteilung und Ungleichheit (Beitrag von Sarah Pichlkastner) sowie anhand von Schreibinventarlisten (Beitrag von Ingrid Matschinegg) Erkenntnisse über die Verbreitung der Verschriftlichung als gesellschaftliche und administrative Praxis. Außerdem geht es um die Verdinglichung lüsterner Geistlicher als unterhaltsame Ständekritik im Textgenre der Mären (Beitrag von Gabriele Schichta).

Allerdings ist die Frage der Verlinkung keineswegs so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Abgesehen von Heike Schlies bildreichem Beitrag über (u. a.) objektbiografische und konstellative Links zwischen Altären und Leuchtern des einstigen Goldschmiedezentrums Klosterneuburgs sind die meisten der in diesem Band untersuchten „Dinge“ nicht einfach als historische Artefakte „vorhanden“. Häufig handelt es sich dabei um Dingrepräsentationen, wie Kupferstiche, Kartografien, Inventarlisten oder kunstvolle Kirchenmalerei, die wiederum selbst historische Objekte darstellen. Verbindungen werden demzufolge nicht nur zwischen Objekten und Materialien untersucht, sondern auch (teils quantitativ) zwischen auf Ikonenbildern dargestellten Objekten (Beitrag von Isabella Nicka), aber auch zwischen Kunststilen und Textgattungen, denen ganz eigene Verbindungen, Konstellationen und Dingauffassungen innewohnen.

In gegenwärtigen Forschungen zur materiellen Kultur wird eine zunehmende globale Menge und Abhängigkeit von Dingen konstatiert2, was die Relevanz des Sammelbandes zu bestätigen scheint. Aus theoretischer Perspektive kann die Frage gestellt werden, welchen spezifisch neuen Beitrag der vorliegende Band mit dem Begriff „Object Links“ leistet. Von Netzwerken und deren „Interobjektivität“3 bis hin zu „Meshworks“4 oder „Inbetweenness“5 sind zahlreiche Paradigmen entstanden, die das „Dazwischen“, etwa zwischen Menschen und Dingen, zum Ausgangspunkt gemacht haben. Interdisziplinär wird gegenwärtig auch das Konzept der „Connectivity“ diskutiert, bei der neben Verbindungen auch die Prozesshaftigkeit des Materiellen im Zentrum steht.6

Die Publikation hat nicht das Ziel, ein neues, umfängliches Paradigma im klassischen Sinne vorzulegen. Die eigentliche Leistung des Bandes besteht darin, sozialwissenschaftliche materielle Kulturtheorie für das Feld der mittelalterlichen Geschichtswissenschaften zu adaptieren und konsequent anzuwenden. Was dieses Buch wohl von vielen anderen Sammelbänden unterscheidet, ist die kontinuierliche und kreative Kooperation der Autor/innen. Diese ermöglicht einerseits die Entwicklung eines beachtlichen gemeinsamen Vokabulars und durchaus auch vielversprechende neue Begrifflichkeiten, wie z. B. das Begriffspaar „Objektvergesellschaftung“ und „Objektgesellschaft“ (S. 23), welches gesellschaftliche Materialität relational sowohl als Prozess als auch als Entität zu fassen sucht. Die im Begriffsforum gesammelten Terme sind mittels Pfeil-tags im Text gekennzeichnet und fungieren auch als eine Art Glossar. Andererseits gestattet die enge Kooperation eine stringente Anwendung dieses Vokabulars als analytisches Werkzeug und eine enge Verflechtung der Beiträge. „Object Links“ ist eine Publikation, in der methodisch äußerst kreativ und empirisch präzise transformative spätmittelalterliche Dingverbindungen herausgearbeitet werden. Die Objektverlinkung ist dabei auch ein gelungener Ausdruck für die historische Forschungspraxis selbst.

Das IMAREAL-Team verweist selbstkritisch auf grundlegende Herausforderungen des verfolgten Ansatzes im Kontext des 14. bis 17. Jahrhunderts. So konnten im Forschungsprozess Beispielobjekte und Kontexte, die sich für fruchtbare methodische Analysen eignen, nur unter großem Aufwand identifiziert werden (S. 17). Dies deutet auf zwei Aspekte hin: Erstens auf die generelle Schwierigkeit, Verlinkungen und materielle Praktiken mit langem zeitlichem Abstand aufgrund einer eingeschränkten Objekt- und Quellenlage zu erheben. Dies ist nur anhand von meist aus Herrschaftssicht gut dokumentierten Objektgesellschaften möglich und erschwert etwa eine Dokumentation von Nichteliten deutlich. Doch neben der empirischen stellt sich zweitens auch die paradigmatische und methodische Frage nach der textfokussierten Forschung der Geschichtswissenschaften selbst, welche den Blick auf Objektlinks erschwert (vgl. S. 79, 102). Beide Aspekte zeigen verschiedene Herausforderungen und Grenzen des Ansatzes als historisches Forschungsunterfangen auf.

Das Verdienst des Bandes besteht, zusammenfassend betrachtet, in einer innovativen Adaption und stringenten Anwendung des „Materiality Turns“ für die Geschichtswissenschaften. Der Blick auf die Verknüpfung von Gegenständen erlaubt es, historische Zusammenhänge neu zu denken und diese auch methodisch auf ungekannte Weise zu fassen. Expert/innen mit Hang zur bewegten Geschichte Niederösterreichs, ihrer materiellen Konfigurationen und Hinterlassenschaften, sei der Band mit seinen fundierten und detaillierten Beiträgen, die durchaus auch Dingbezüge zu gegenwärtiger Machtpolitik, Fakes, Skandalen und sozialer Ungleichheit zulassen, ausdrücklich empfohlen.

Anmerkungen:
1 Ein weiterer Band ist kürzlich zur Archäologie von Burgen erschienen: Christina Schmid, Ergrabene Kontexte. Interpretationen archäologischer Fundzusammenhänge auf Burgen (Formate – Forschungen zur Materiellen Kultur 2), Wien 2020.
2 Vgl. Ian Hodder, Where Are We Heading? The Evolution of Humans and Things, New Haven 2018.
3 Bruno Latour, Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität, in: Berliner Journal für Soziologie 11,2 (2001), S. 237–252.
4 Tim Ingold, Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, London 2011.
5 Paul Basu, The Inbetweenness of Things. Materializing, Meditation, and Movement between Worlds, London 2017.
6 Philipp Schorch / Martin Saxer / Marlen Elders (Hrsg.), Exploring Materiality and Connectivity in Anthropology and Beyond, London 2020.

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