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Titel
Transgression und Devianz in der antiken Welt.


Herausgeber
Gilhaus, Lennart; Herrad, Imogen; Meurer, Michael; Pfeiffer, Anja
Erschienen
Stuttgart 2020: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
IX, 204 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Degelmann, Alte Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Normen und Werte spielen in allen Gesellschaften eine zentrale Rolle, denn sie tragen sowohl zur Funktion als auch Interaktion sozialer Gruppen bei. Jene sozialen Spielregeln machen Handlungen anderer für jedes einzelne Individuum erwartbarer und reduzieren dabei sowohl Kontingenz als auch soziale Komplexität; somit können gesellschaftliche Regeln des Miteinanders ein stabiles Gemeinwesen sichern. Die Betonung auf das Können verweist jedoch bereits auf die Kehrseite jener Medaille. Werden Normen immer wieder dezidiert überschritten, ist das mitunter Beginn einer Krise oder Anzeichen eines bereits schleichenden Zerfallsprozesses. Allerdings sind solche, häufig an moralische Vorstellungen geknüpften Vorstellungen nicht immer und überall konstant. An verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten sind und waren sie ganz unterschiedlich ausgestaltet, denn auch gesellschaftliche Konventionen unterliegen einem kontinuierlichen Wandel, der einzelne Facetten eines Wertekanons stärker betrifft als andere. Manchmal existieren verschiedene Inventarien sogar nebeneinander, wie etwa die Geschlechterordnung zeigt. Gerade die Veränderung eines vermeintlich festen Repertoires an sozialen Verhaltensweisen wird durch die historischen Akteure nicht selten als Transgression gebrandmarkt, denn die Zeitgenossen können nicht wie die modernen Geschichtswissenschaften aus den jeweils zu untersuchenden Zeitumständen heraustreten. Gleichwohl mag deviantes Verhalten auch zur Lösung tiefgreifender, struktureller Probleme beitragen und kann in der Retrospektive teilweise als positiv oder als Entlastung gewertet werden – etwa die Monarchisierung der res publica durch Octavian/Augustus.

Jenen Dynamiken und Folgen, weniger den Strategien von Devianz und Transgression widmet sich auch die hier anzuzeigende Publikation. Sie geht zurück auf ein interdisziplinäres Kolloquium, das sich insbesondere an Promovierende und Post-DoktorandInnen richtete. Den Auftakt macht Lennart Gilhaus als Mitglied des HerausgeberInnengremiums. Er legt einen sehr knapp gehaltenen, doch präzisen theoretischen Rahmen vor, unter dem die Fallstudien aus allen altertumswissenschaftlichen Teilgebieten zu betrachten seien. Als Orientierungspunkte dienen ihm in erster Linie das Modell sozialer Normen des Soziologen Heinrich Popitz und die auf Popitz Bezug nehmende, bahnbrechenden Studie von Christoph Lundgreen zu den „Regelkonflikten“ in der mittleren römischen Republik.1 Inwiefern dieser soziologische Entwurf dazu geeignet ist, „Wahrnehmung, Darstellung und gesellschaftlichen Umgang mit Transgressionen“ (S. 3) einzufangen, wäre zu zeigen.

Die erste Tiefenbohrung des chronologisch angelegten Sammelbandes unternimmt Beatrice Gavazza. Sie widmet sich der Darstellung des fragmentarisch erhaltenen Tragikers Agathon bei Aristophanes und Platon (hier nicht zu verwechseln mit Platon Comicus!) und fragt, wieso das effeminierte, von der Norm abweichende Äußere und Gebaren Agathons beim Komödiendichter als Transgression, beim Philosophen als legitimes Rollenverhalten bewertet wird, denn der Dichter war dem Knabenalter, in dem körperliche Mann-Mann-Beziehungen üblich waren, bereits vor Jahre entwachsen. Für Gavazza sind es die unterschiedlichen Rahmen, einmal im Theater, das andere Mal beim elitären Symposion, die eine unterschiedliche Darstellung Agathons bewirkten. Ferner schränkt sie ein, die jeweils genreüblichen Verzerrungen und Sprechpositionen vernebelten diesen Befund.

Anne Gürlach widmet sich im Anschluss dem griechischen Artemis-Kult aus archäologischer Perspektive. Für Frauen spielte die Göttin als Begleiterin eines Weges vom Mädchen zur Gattin und Mutter eine wichtige Rolle: „Die hier untersuchten Kult- und Ritualhandlungen in einem griechischen Heiligtum folgen speziellen Regeln und entsprechen demnach nicht der alltäglichen Praxis.“ (S. 38) Inwiefern die über viele Jahrhunderte gewachsene Initiationsprozedur eine deviante Handlung darstellt, erschließt sich nicht; eine aktive Beteiligung an der Polisreligion ist auch in anderen Kulten nachgewiesen, wie die Autorin selbst eingesteht (S. 37), auch wenn Frauen dabei häufig marginalisierte Funktionen einnahmen (Hydrophorien z.B.). Vor allem jedoch darf der zeitweilig invertierende und letztlich die Ordnung bestätigende Charakter von rites de passage2 nicht als Transgression missverstanden werden.

In ihrem Beitrag zur Hellenika Xenophons argumentiert Anja Pfeiffer, der griechische Historiker verfolge keine strikte Maßregel zur Verurteilung religiöser Devianz. Vielmehr passe er die Bewertung gotteslästerlichen Verhaltens an sein Narrativ an, um flexibel über die Handlungsmotive seiner historischen Akteure walten zu können. Überhaupt sei Xenophon sparsam mit der Verwendung eindeutig religiösen Frevel markierender Begrifflichkeiten wie bspw. asebeia, was den gestellten Befund unterstreicht.

Wann wer welche Norm brechen durfte, beschäftigt Imogen Herrad. Dabei untersucht sie „revolt […] as involving the violation of both rules and laws, and including a component of potential or actual violence“ in Plutarchs Spartanerviten (S. 76) des Agesilaos II., Lysander, Agis IV. und Kleomenes III. Herrard konstatiert, dass sozio-politische Umwälzung (neoterismos) stets gegen das Übel der stasis aufgewogen wurde. Gewalttätige Aktionen durch ehrenhafte Männer und auch Frauen (z.B. Agiatis) – auf keinen Fall jedoch durch das gemeine Volk – sind gerechtfertigt bis notwendig, um die tradierte Ordnung aufrechtzuerhalten.

Im Zentrum von Janico Albrechts Beitrag steht Ciceros Desakralisierung des Tribunizids, des Mordes an einem Volkstribun. Der große Redner sah sich seit der Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung stets mit dem Vorwurf konfrontiert, die Konspirateure ohne rechtliche Grundlage hingerichtet zu haben, was sein Handeln in die Nähe des Tribunenmordes rückte. Folglich suchte er nach Legitimationsstrategien, die ihm der sogenannte furor tribunicius nicht bieten konnte, denn das Konstrukt der rasenden Volkstribune hatten sich bereits seine Gegner zu eigen gemacht, wie Albrecht diese naheliegende Erklärung zu umschiffen sucht. In dieser Deutung liegt ein gewisser Reiz, weil Cicero die Sicht auf die römische Religion für diese Epoche nahezu monopolisiert hat und Albrecht nun die Position von Ciceros Rivalen aus De domo sua bzw. De haruspicum responso zu extrahieren sucht: Ein ebenso gewagtes wie spannendes Unterfangen, wie der Autor selbst einräumt.

Philipp Brockkötter führt dezidiert einen eigenen Transgressionsbegriff ein (S. 123), an dem er nachzuzeichnen gedenkt, welcher Funktion die Gewaltorgien der lucanischen Pharsalia dienen. Exzessiv deviantes Verhalten wird darin Mittel zum Zweck der Machtansprüche republikanischer Potentaten: Je grausamer, umso erfolgreicher! Dabei werden alle Hauptakteure zu Transgressoren, ob wider Willen (Pompeius), unwissentlich (Cato) oder gezielt (Caesar). Der Bürgerkrieg selbst stellt ohnehin die ultimative Transgression dar und betrifft wortwörtlich bereits Caesars Überschreitung des Rubikon. Die kaiserzeitliche Sehnsucht nach der verlorenen Republik und ihrer libertas werde gerade durch die massiven Normverstöße der Bürgerkriegszeit gemildert. Dadurch könne sich Lucan auch zu Nero verhalten, den er als Garant einer stabilen Ordnung sehe. Inwiefern sich der Kaiser im Bellum civile auch von der Grausamkeit des Octavian/Augustus bis 27 v. Chr. abzusetzen versteht, bleibt dagegen unklar, weil die Verbindung doch höchstens über den Adoptivvater besteht.

Marie Joselin Düsenberg geht der Frage nach, welcher Strategien sich Tacitus bei der Ausgestaltung seiner Frauenfiguren bediente. Dazu vergleicht sie mit Agrippina minor und Boudicca zwei formal sehr unterschiedliche duces feminae, deren Gemeinsamkeiten jedoch Aufschluss über die Vermittlung von Frauengestalten im Werk des senatorischen Geschichtsschreibers geben. Düsenberg kann nachweisen, dass Frauen in der Regel erst durch Normüberschreitung sichtbar werden; dabei besitzt Ethnizität dezidiert keine Bedeutung. In beiden Fällen betätigen sich die Frauen jedoch in genuin männlichen Sphären, nicht ohne „die Waffen der Frau“ einzusetzen, was für Tacitus gerade die abnorme, abzustellende Situation unterstreicht.
Der finale Beitrag transgrediert wiederum die epochale und fachliche Kompetenz des Rezensenten, weswegen eine kurze Paraphrase gestattet sei: Katharina Ute Mann befasst sich in kulturvergleichender Perspektive mit ästhetischen Normbrüchen, die nicht selten erhebliches Innovationspotential bargen. Dazu untersucht sie, wie in Ägypten, Griechenland und China neue Maltechnik und Farbillustration mit gesellschaftlichem Wandel einherging.

Es war weise von den HerausgeberInnen den theoretischen Rahmen nicht zu weit aufzufächern, denn kaum ein Beitrag nimmt explizit Bezug darauf, aber allen Aufsätzen ist das Bemühen um eine Konzeptualisierung von Transgression und Devianz deutlich anzumerken. Dabei wird augenscheinlich, wie breit gestreut das Phänomen über die literarische und materielle Überlieferung zum (griechisch-römischen) Altertum ist. Man wird kaum wunder daran nehmen, stellt doch der Regelbruch an sich – bei aller sozialer und kultureller Konstruktion von Normen – eine anthropologische Konstante dar, die auch antike Autoren und Künstler unentwegt umtrieb. Vor diesem Hintergrund ist das letzte Wort in Sachen Transgression und Devianz in antiken Kulturen längst nicht gesprochen.

Anmerkungen:
1 So jedenfalls sind die Anmerkungen 1 und 2 zu verstehen, die Verweise auf Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, und ders., Soziale Normen, Frankfurt am Main 2006, bzw. Christoph Lundgreen, Regelkonflikte in der römischen Republik. Geltung und Gewichtung von Normen in politischen Entscheidungsprozessen, Stuttgart 2011, enthalten.
2 Vgl. grundlegend Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt am Main 2005 (frz. 1909).

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