Title
Galen. A Thinking Doctor in Imperial Rome


Author(s)
Nutton, Vivian
Series
Routledge Ancient Biographies
Published
London, New York 2020: Routledge
Extent
224 S.
Price
£ 23.99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Lutz Alexander Graumann, Sektion Kinderchirurgie, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax-, Transplantations- und Kinderchirurgie, UKGM GmbH, Standort Gießen, Justus Liebig Universität Gießen

„Wenn man mir glauben will, der ich nicht den geringsten Grund habe, die Unwahrheit zu sagen, mich jedoch ärgere, daß berühmte Männer in ihren Büchern sich gewaltig geirrt haben, so will ich berichten, was ich durch lange Erfahrung in meinem ganzen Leben erkannt habe, und zugleich die Götter als Zeugen dafür anrufen.“1

Dieses Zitat charakterisiert sehr treffend Art und Weise des bedeutenden antiken Vielschreibers, Arztes, Sprachforschers und Philosophen Galen von Pergamon (129 – ca. 210). Als nunmehr vierte Biographie in der Routledge-Serie erscheint die langerwartete über Galen von Vivian Nutton, selbst hochgeachteter, mittlerweile 77jähriger Emeritus und lebenslanger Galenforscher.2 Sie schließt sich als jüngste und als „definitive, allumfassende“ angepriesene Biographie an die in den letzten Jahren erschienenen Galen-Biographien.3

Nach einer kurzen Einführung (S. 1–6) folgen 6 inhaltlich abgeschlossene, originelle Teilkapitel. Beginnend mit „Galen dem Griechen“ (S. 7–30) skizziert Nutton Galens Jugend in der kleinasiatischen, griechisch geprägten Metropole Pergamon, seine exzeptionell breite und lange medizinische Ausbildung mit mehrjährigem Aufenthalt in Alexandria, seine erste öffentliche Berufung zum Gladiatorenarzt in Pergamon bis ins Jahr 162. Es folgt der Lebensabschnitt „Galen der Römer“ (31–51) mit den bekannten autobiographischen Daten Galens: seine Ankunft in Rom, intensive Netzwerkbildung, öffentliche Auftritte und medizinische Erfolge bis ins Jahr 165. Hier beginnt für Galen ein vierjähriges Interludium wieder in seiner Heimatstadt Pergamon. Darauf folgt im Jahr 169 die Berufung zum kaiserlichen Hofarzt und schließlich sein zweiter Aufenthalt in Rom bis zu seinem Tod.

Nach diesen prägnant präsentierten Lebensetappen Galens steigt Nutton in die inhaltliche Exegese mit Galens Werk ein, beginnend mit dessen bemerkenswerter Beobachtungsgabe hinsichtlich seiner Zeit, seiner Patienten und seiner Umwelt („Galen the observer“, S. 52–75). Interessanterweise beginnt er dies mit dem Hinweis auf Ludwig Friedländer (1824–1909), dessen enzyklopädische Sittengeschichte Roms in vielen Detailfragen auf unzähligen Aussagen Galens beruht.4

Anschließend beleuchtet „Galen der Denker“ (S. 76–97) die Aktivitäten Galens als eigenständiger Philosoph, wie er auch von seinen intellektuellen Zeitgenossen wahrgenommen wurde und erst in jüngerer Zeit wieder etwas mehr gewürdigt wird.

Das nächste Kapitel, „Galen der Arzt“ (S. 98–131), bildet den ersten Hauptteil dieser Biographie Nuttons5, der die wesentlichen Bestandteile von Galens breit aufgestellter medizinischer Lehre strukturiert zu erklären vermag: ärztliche Deontologie („der gute Arzt“), medizinische Diagnose, spezielle Pulslehre (Sphygmologie) mit Galens beharrlicher vitalistischer Fehlinterpretation, Ätiologie (Ursachenlehre) und Therapie, Pharmakologie sowie Diätetik („lifestyle“). Auf die Fülle an medizinischen Details, die Nutton hier darstellt, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Galens medizinische Praxis und Theorie ebnete vielen Ärzten noch lange Zeit nach ihm den Weg (S. 112).

Das Interesse an der Person und vor allem am medizinischen Werk Galens ist seit der Antike ungebrochen, unterlag und unterliegt dabei gewissen Zeittrends.6 Dieser sogenannte „Galenismus“ ist Thema des folgenden Kapitels „Galen der Geist“ (S. 132–156), aufbauend auf die zahlreichen Vorarbeiten Nuttons. War Galen noch für seine Zeitgenossen (Alexander von Aphrodisias, Theodotus dem Schuhmacher, Clemens von Alexandria, Origines) eher wegen seiner philosophischen Werke in unmittelbarer Erinnerung, beginnt die erste medizinische Rezeption etwa im 4. Jahrhundert mit Oreibasios von Pergamon und Gargilius Martialis. Hieran schließt sich die Rezeptionsgeschichte im mittelalterlichen Byzanz (dort mit mehreren Filterprozessen der überlieferten Schriften, S. 135–136) und in der islamischen Welt an, in der die galenische Medizin eine Lehrgrundlage für Jahrhunderte und Galen selbst zur Legende wurde (S. 139–140). Die mittelalterliche westliche, elitäre universitäre Medizin, begann ab etwa 1270 einen novellierten Galenismus als Grundlage ihrer Lehrmedizin zu entwickeln, in Form von lateinischen Übersetzungen einiger Traktate (Rückübersetzungen aus dem Arabischen), da das originale Griechisch vielfach nicht mehr gelesen werden konnte (S. 141–142). Die „zweite“ medizinische Geschichte Galens beginnt dann in der Renaissance mit den ersten Drucken einiger seiner aus dem griechischen Original ins Lateinische neu übersetzten Werke (1490) sowie der ersten Ausgabe fast aller erhaltenen Schriften auf Griechisch 1525–26 in Venedig, wiederum als Grundlage revidierter oder gänzlich neuer Latein-Übersetzungen (S. 144).7 Die Anatomie, zunächst über die neugelesenen anatomischen Sektionen Galens, rückte ins Zentrum medizinischer Curricula (S. 146–147). Vor allem mit Vesalius‘ neuer Anatomielehre (De humani corporis fabrica, Basel 1543) wurden indes zahlreiche Schwächen der galenischen Anatomielehre offenbar, da diese inhaltlich zu größeren Teilen eine Tieranatomie (Makaken) abbildete, wenngleich Nutton nuanciert diese bis heute noch übliche revolutionäre Darstellung Vesals etwas zu glätten versucht („Replacing Galen“, S. 147–151). Galen verschwand allmählich aus der medizinischen Lehre und wurde Forschungsgegenstand der Altphilologie, im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg insbesondere im deutschsprachigen Raum. Das medizinische und philologische Interesse war bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund vielerlei Zeitströmungen noch sehr rege, ebbte aber bis in die 1980er zusehends ab, so dass Nutton damals als einer der wenigen Interessierten beim ersten internationalen Galensymposium 1979 die Teilnehmerzahl noch problemlos überschauen konnte.8 Ganz im Gegensatz zur heutigen Situation, in der die Beitragsdichte zu Galen derart hoch geworden ist, dass ein Gesamtüberblick für den Einzelnen fast nicht mehr erreichbar ist. Sogar heutige Mediziner zeigen wieder vereinzelt Interesse, billigen Galen in seinem eigenen Kontext das bestmögliche medizinische Können zu, oder wie Nutton selbst feststellt (S. 152): „Er mag zwar falsch gelegen haben, war aber sicherlich kein Tor“.

Die Biographie wird mit einer umfangreichen Zusammenfassung beschlossen (S. 157–165): Nuttons Meinung nach sind Galen und der Galenismus schwerlich zu trennen. Die Entstehung seines unglaublich großen Werkes, Ausdruck siebzig Jahre energiereicher, fruchtbarer Schriftstellerei, sind heute noch erstaunlich, aber zuweilen auch schlicht furchtbar zu nennen, wegen seiner unzähligen textuellen Wiederholungen (die altbekannte Wilamowitz-Kritik an Galen als ein „Seichbeutel“); andersherum sind diese Manierismen durch den gut rekonstruierbaren Entstehungskontext mündlicher Präsentation (gerade berufstypisch als antiker Lehrer und Redner) und das Diktat an einen professionellen Schreiber (inklusive Fehlen eines professionellen Lektors) heute rational erklärbar. Wichtigstes Argument für Galens Besonderheit ist der tiefe, nachhaltige Eindruck seiner erhaltenen Werke auf die Nachwelt (arabische Medizin, mittelalterliche Universitätsmedizin und Renaissance). Da fast alle Informationen über ihn rein autobiographischer Natur sind, bleibt die objektive historische Bewertung Galens, der zu seiner eigenen Zeit anscheinend eher ein Außenseiter war und dennoch sogar zum Elitearzt in Rom aufsteigen konnte, relativ schwierig. Der Verlust zahlreicher Werke anderer vielschreibender Ärzte zu Galens Lebenszeit erschwert jedweden Vergleichsversuch, so dass Nutton richtigerweise betont, dass Galen nicht immer so einzigartig gewesen sein mag, wie es gerade dessen Rhetorik suggerieren möchte (S. 163). Nuttons nüchternes Resümee: Galen lädt mit seiner egozentrischen, polemisch-provozierenden Art als Autor nicht unbedingt zu einer leidenschaftslosen Analyse ein. Was bleibt, sei das Bild eines „weitdenkenden Arztes von unbestrittenem Genie“.

Alle Kapitel enthalten jeweils einen eigenen, umfangreichen Kommentar mit mehr als 100 Anmerkungen pro Kapitel, summa summarum einen Apparat von 1035 Anmerkungen. Im Anhang findet sich ein brauchbarer Index der Titel und wissenschaftlichen Abkürzungen (fast) aller Galenwerke (S. 166–174), welcher den bisherigen Standard von Hankinson9 nochmals verbessert und aktualisiert. Hierauf folgt ein umfangreiches Literaturverzeichnis, einerseits (S. 175–176) bestehend aus Editionen von Galenwerken im Corpus Medicorum Graecorum (CMG), andererseits (S. 176–201) mit Sekundärliteratur inklusive Nicht-CMG-Editionen und Übersetzungen. Diese Bibliographie ist eine wahre Fundgrube mit Literatur von 1500 bis 2020.10 Ein Index (S. 202–209) beschließt das Buch. 14 Abbildungen, die selten so oder gar nicht in anderen Galenbiographien präsentiert werden, runden den positiven Eindruck ab.11 Wenig gibt es zu bemängeln: Im Text finden sich Hinweise auf einige Inschriften und Schriftzitate, deren Herkunft nur über die jeweils angegebene Sekundärliteratur gefunden werden kann. Es gibt kaum Hinweise auf digitale Informationsquellen, auch nicht auf das Online-Angebot des Corpus Medicorum Graecorum (http://cmg.bbaw.de).

Auch wer vielleicht bisher aufgrund der riesigen Textmenge des Corpus Galenicum und der sehr disparaten Forschung zu Galen eine gewisse Scheu gegenüber der Beschäftigung damit entwickelt hat, wird sich nach Lektüre dieser imposanten, empathischen Biographie Nuttons nicht völlig der Faszination durch diese beeindruckende antike Persönlichkeit und ihr Werk entziehen können.

Anmerkungen:
1De bonis malisque succis (Bon.Mal.Suc.; „Gute und schlechte Säfte der Nahrungsmittel“, um 182 entstanden) 1,14 (Kühn 6,755,7-12 = CMG V,4,2, 392,14-20; ed. Helmreich 1923 = Ieraci Bio 1987,69 mit ital. Übersetzung S.17-18), hier zitiert in der deutschen Übersetzung aus: Werke des Galenos, Band IV. Übersetzt von Erich Beintker und Wilhelm Kahlenberg, Stuttgart 1952, S.74.
2 Übersicht seiner Publikationen in: Laurence M.V. Totelin / Rebecca Flemming (Hrsg.), Medicine and Markets in the Graeco-Roman World and Beyond. Essays on Ancient Medicine in Honour of Vivian Nutton, Swansea 2020, 187–199. Siehe auch seine hörenswerte CMG-Lecture “Galen: Lives and Legends” vom 22.05.2012: http://cmg.bbaw.de/veranstaltungen/cmg-lecture-on-ancient-medicine.
3 Heinrich Schlange-Schönigen, Die römische Gesellschaft bei Galen. Biographie und Sozialgeschichte. Berlin 2003; Véronique Boudon-Millot, Galien de Pergame. Un Médecin Grec à Rome, Paris 2012; Susan P. Mattern, The Prince of Medicine, Galen in the Roman Empire, Oxford 2013; Annie Verbanck-Piérard / Véronique Boudon-Millot / Danielle Gourevitch (Hrsg.), Au Temps de Galien. Un médecin grec dans l’Empire Romain, Paris 2018. Die zuweilen immer noch, auch von heutigen ärztlichen Kollegen, zitierte Kurz-Biographie von George Sarton, Galen of Pergamon, 1954 (mit nur 112 Seiten!) ist inhaltlich längst überholt und findet sich konsequenterweise auch nicht mehr in Nuttons Literaturliste.
4 Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine. 4 Bände (ursprünglich 3), zahlreiche Neuauflagen und Nachdrucke, Leipzig 1862–71.
5 Mit allein 252 Anmerkungen!
6 Siehe: Petros Bouras-Vallianatos / Barbara Zipser (Hrsg.), Brill’s Companion to the Reception of Galen, Leiden 2019, mit meiner Rezension: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28250.
7 Die in diesen Drucken aus dem 16. Jahrhundert enthaltenen imaginären Illustrationen von Galen prägen das bis heute bestehende Galen-Bild, welches gerade „zur Verwirrung von Unachtsamen“, wie Nutton hintersinnig bemerkt (S. 145), von (meist ärztlichen) Zeitgenossen als echte Darstellungen von Galen immer noch platziert werden.
8 Vivian Nutton (Hrsg.), Galen. Problems and Prospects. A Collection of Papers Submitted at the 1979 Cambridge Conference. London 1981.
9 Robert J. Hankinson (Hrsg.), The Cambridge Companion to Galen. Cambridge 2008, S.391– 403.
10 Mit allein 49(!) eigenen Titeln von Nutton sowie fünf Verweisen auf noch nicht erschienene Publikationen. Bibliographische Ergänzungen: Florian Steger, Asklepios. Medizin und Kult, Stuttgart 2016. Zu modernen Galen-Romanen: Tessa Korber, Der Medicus des Kaisers, Zürich 2001. Fehlerliste (vor allem in der Bibliographie): S. 95, Anm.54: „see Delacy 1988“ (DeLacy 1988); S. 126, Anm. 50: „Siegel 1970“: nicht in der Bibliographie enthalten (Rudolph E. Siegel, Galen on Sense Perception. His Doctrines, Observations and Experiments on Vision, Hearing, Smell, Touch and Pain, and Their Historical Sources. Basel 1970; S. 179: Brockmann, C. (nicht „Brockman“); S. 179: Canalis / Ciavolella (Andreas Vesalius and the Fabrica in the Age of Printing) ohne Jahresangabe (2018); S. 183: Georges, T., „Ephesos. Die antike Metropol“ (Metropole); S. 186: I[vo] Israelovitch, nicht “U.”; S. 195: Röhr, J. (1923), Der „okkullte“ Kraftbegriff (okkulte).
11 So beispielsweise die fantasievollen Galen-Darstellungen in einem illustrierten, spätmittelalterlichen Galen-Manuskript (Sächsische Staatsbibliothek Dresden Db92-93; Abbildung 4.1 und 5.2).

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