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Titel
Solidarität mit Schwierigkeiten. Das Bremer Koordinationsbüro der polnischen Gewerkschaft Solidarność und das Engagement Bremens für Polen in den 1980er Jahren


Autor(en)
Ritter, Rüdiger
Erschienen
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Konrad Sziedat, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München

Es war inmitten einer Zeit tiefgreifender „Umbrüche in die Gegenwart“, als eine Gruppe Danziger Solidarność-Aktivist/innen 1981 in Bremen strandete: Die Iranische Revolution, die Wahl Thatchers in Großbritannien, die Öffnung Chinas Richtung Westen, aber auch die Geburt des Neologismus „Zivilgesellschaft“ im Deutschen signalisierten, dass die Welt sich bereits im Übergang zu den 1980er-Jahren deutlich veränderte, bevor 1989/90 die Systemkonfrontation zu Ende ging und einem (vermeintlich?) postideologischen Zeitalter Platz machte.1 Auch die Gründung der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung „Solidarität“ in Polen, die in der Rückschau vielen als Anfang vom Ende kommunistischer Herrschaft im östlichen Europa gilt, fiel in diese Umbruchszeit. Doch zunächst reagierte die polnische Führung mit Gewalt: Im Dezember 1981 verhängte General Jaruzelski das Kriegsrecht, um die Solidarność zu zerschlagen. Die Danziger Aktivist/innen, die sich zu diesem Zeitpunkt in Bremen aufhielten, blieben dort, um ein „Informations- und Koordinationsbüro“ zur Unterstützung der polnischen Gewerkschaftsbewegung zu gründen. Diesem Büro, das nur knapp zwei Jahre bestand, hat Rüdiger Ritter nun erstmals eine ausführliche Untersuchung gewidmet. Denn bislang existierten dazu wenige empirische Erkenntnisse, obwohl es für die Geschichte nicht nur Bremens, sondern auch der bundesrepublikanischen Entspannungspolitik, der deutsch-polnischen Beziehungen, des Übergangs zur Demokratie im östlichen Europa und ihrer Erinnerungskultur von Interesse ist.

Ritters Studie ist minutiös recherchiert und ungemein detailreich. Auf reicher Quellenbasis setzt sie sich mit zwei konträren erinnerungspolitischen Narrativen auseinander. Den einen Pol markiert dabei die innerhalb Bremens kultivierte Deutung, die (wenn auch kurze) Existenz des Büros belege die „Leistungsfähigkeit“ (S. 290) der „Bremer Variante der Entspannungspolitik“ (S. 17). Diese habe sowohl mit offiziellen Stellen als auch mit Dissident/innen aus dem „Ostblock“ zusammengearbeitet und so zur Überwindung der europäischen Teilung beigetragen. Den anderen Pol bilden Vorwürfe im heutigen Polen, das rasche Ende des Büros beweise dessen Bedeutungslosigkeit – oder spreche, schlimmer noch, für eine Geheimdiensttätigkeit der Büromitglieder. Damit führt die Studie mitten hinein in die politischen Auseinandersetzungen um das Erbe der Solidarność.

Um beide Erzählungen zu überprüfen, hat Ritter Unterlagen aus 18 Archiven in Deutschland und Polen ausgewertet, darunter Partei-, Bewegungs-, Kirchen- und Geheimdienstarchive. Ausgiebig recherchiert hat er in den reichhaltigen Beständen der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Zudem hat er mit einstigen Büromitgliedern und zahlreichen Unterstützern in Bremen und der ganzen Bundesrepublik gesprochen oder korrespondiert. Auf dieser Grundlage versucht er, einem „integrierenden Verständnis der Solidarność-Unterstützung als gemeinsame deutsch-polnische Aktion“ (S. 287) näherzukommen. Dies lässt sich zunächst als Beitrag zu einer blockübergreifenden Verflechtungsgeschichte der Opposition gegen den Staatssozialismus einordnen.2 Doch auch für die Erforschung der langen Geschichte der „Wende“ und die Frage nach (Ko-)Transformationen im westlichen Europa erweist es sich als anschlussfähig.3

So entsteht im ersten, weitaus längeren Teil des Buches ein detailliertes Panorama der Bremer Reaktionen auf die Gründung der Solidarność, auf die Ankunft der Danziger Gewerkschafter und auf die Gründung des Koordinationsbüros. Filigran fächert Ritter die Positionierungen unterschiedlichster politischer und gesellschaftlicher Player zwischen Ablehnung und Unterstützung auf. Bemerkenswert ist dabei die Breite der Untersuchung, die von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) über den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) bis zum Ring Christlich-Demokratischer Studierender, von der Bremischen Bürgerschaft über die Deutsch-Polnische Gesellschaft (DPG) bis hin zu „Solidarität mit Solidarność“ reicht. Dadurch gelingt es ihm, Rivalitäten und Meinungsverschiedenheiten, aber auch Kooperationen innerhalb der Stadtgesellschaft aufzuzeigen, die sich häufig auf übergreifende nationale und internationale Konstellationen beziehen lassen. So finden sich in Bremen jene Auseinandersetzungen innerhalb des linken Spektrums, der jungen grünen Partei und der Friedensbewegung wieder, die auch auf Bundesebene den Übergang zu den 1980er-Jahren prägten. Gleichzeitig beleuchtet Ritter mit der Arbeiterkammer eine spezifisch Bremer Einrichtung, die gemeinsam mit DPG, DGB, Landesregierung und weiteren Akteuren die Einrichtung des Büros ermöglichte. Auch den Umstand, dass Bremen bereits seit 1976 eine Städtepartnerschaft mit Danzig unterhielt, bezieht Ritter kenntnisreich ein. Ausführlich schildert er zudem den Einsatz des Bremer Bürgermeisters Hans Koschnick – ebenso wie die Rolle des Kölner Emigranten Andrzej Chilecki, der als einer der „schärfsten polnischen Kritiker“ (S. 217) des Büros aufgetreten sei. In diesem widerspruchsvollen Umfeld sei das Büro, so Ritter, letzten Endes auch an seiner eigenen „Ineffektivität“ gescheitert. Bremens Engagement für die Aktivist/innen könne somit allenfalls als „einer der sozusagen indirekten Ansatzpunkte“ (S. 292) der deutsch-polnischen Annäherung seit den 1980er-Jahren gelten.

Ritters profunde Darstellung der westdeutschen Reaktionen ergibt ein äußerst detailliertes und vielschichtiges Bild unterschiedlichster Umgangsweisen, das weit über den engeren Bremer und deutsch-polnischen Rahmen hinausweist. Neueren Forschungen, etwa zur Cultural Diplomacy im Kalten Krieg4, fügt das Buch damit interessante Aspekte hinzu. Manche Einordnungen hätten freilich noch abgewogener ausfallen können, so das Label „linkssozialistisch“ (S. 83) für die Komitees und Initiativen „Solidarität mit Solidarność“, die vielmehr eine zumindest auf Bundesebene äußerst heterogene Unterstützerschaft aufwiesen. Überhaupt bleiben die jeweiligen Kontextualisierungen und Einbettungen in größere Zusammenhänge zuweilen etwas blass. So macht Ritter zwar deutlich, wie konträr und oftmals wenig treffend die Bilder blieben, die sich westdeutsche Beobachter/innen von der Solidarność machten. Weniger erfährt der/die Leser/in jedoch darüber, woher diese Bilder rührten, aus welchen Hintergründen und Prägungen sie resultierten.

Einen zweiten, deutlich kürzeren Teil seines Buches widmet Ritter der Frage nach möglichen Geheimdienstkontakten der Büromitglieder. Dazu rekonstruiert er zunächst, woher schon zeitgenössisch erhobene Vorwürfe rührten, die Aktivist/innen hätten die Sache der Solidarność verraten. Auslöser sei das Bestreben einiger Büromitglieder gewesen, nach dem Ende des Kriegsrechts wieder nach Polen zurückzukehren, wobei sie auf die polnischen Behörden angewiesen waren. In diesem Kontext schildert Ritter ausführlich die Methoden des polnischen Geheimdienstes bei der Rekrutierung von Agenten und bei der Ausnutzung ihrer Informationen. Aus den Geheimdienstakten schließt er, dass bei einigen Aktivist/innen zwar Anwerbeversuche unter Ausnutzung persönlicher Zwangslagen stattgefunden hätten. Belege für eine Agententätigkeit ließen sich jedoch nirgends finden. Überhaupt müsse man den Akten mit Vorsicht begegnen und deren Angaben nicht für vorschnelle politische Schlussfolgerungen verwenden, sondern quellenkritisch hinterfragen und kontextualisieren.

Auch wenn Ritters Ausführungen zuweilen etwas kleinteilig wirken, erlaubt das von ihm akribisch recherchierte und sorgfältig ausgebreitete Material hochinteressante Einblicke und ergibt in seiner Gesamtheit ein Bild, das Widersprüche sichtbar macht, anstatt sie narrativ zu begradigen. Dabei bettet Ritter die Tätigkeit des Bremer Büros empirisch tiefer in den westdeutschen als in den polnischen Kontext ein, bezieht seine Befunde allerdings umgekehrt deutlicher auf die polnische als auf die deutsche Erinnerungskultur. Gewinnbringend ist die von ihm geforderte differenzierte Auseinandersetzung mit der komplexen Gemengelage der frühen 1980er-Jahre in beiden Fällen.

Insofern illustriert sein Buch exemplarisch, wieviel sowohl in der Transformationsgeschichte als auch bei der Erforschung etwa der Entspannungspolitik und der sozialen Bewegungen noch zu ergründen ist – und wie sperrig die Empirie allzu schlichten Narrativen entgegenstehen kann. Der Band stellt damit eine instruktive Lektüre nicht nur zur Geschichte Bremens und des dortigen Solidarność-Büros dar, sondern liefert einen Mosaikstein zum besseren Verständnis einer Scharnierzeit, deren Bedeutung immer stärker in den Blick kommt.

Anmerkungen:
1 Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 8–32, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2012/4421 (11.12.2020); vgl. ausführlicher ders., Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019; zu den Anfängen des deutschen Neologismus „Zivilgesellschaft“ in diesem Kontext Konrad Sziedat, Erwartungen im Umbruch. Die westdeutsche Linke und das Ende des „real existierenden Sozialismus“, Berlin 2019, S. 193–207.
2 Vgl. etwa Robert Brier (Hrsg.), Entangled Protest. Transnational Approaches to the History of Dissent in Eastern Europa and the Soviet Union, Osnabrück 2013.
3 Vgl. Kerstin Brückweh, Die lange Geschichte der „Wende“. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989, in: Deutschland Archiv, 08.09.2020, https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/314982/die-lange-geschichte-der-wende (11.12.2020), und den Bereich „Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte“ am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (https://www.ifz-muenchen.de/forschung/transformationen-in-der-neuesten-zeitgeschichte/projektuebersicht/, 11.12.2020). Vgl. auch Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.
4 Vgl. etwa Sonja Großmann, Falsche Freunde im Kalten Krieg? Sowjetische Freundschaftsgesellschaften in Westeuropa als Instrumente und Akteure der Cultural Diplomacy, Berlin 2019; siehe die Rezension von Benedikt Tondera für H-Soz-Kult, 09.09.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49944 (11.12.2020).

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