S. Prietzel: Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung

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Titel
Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung. Preußen und die Folgen des Tilsiter Friedens 1807–1810


Autor(en)
Prietzel, Sven
Reihe
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 53
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Eckert, Historisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal / SFB 948, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Wie desaströs die preußische Niederlage gegen Napoleon war, wussten schon Zeitgenossen und haben Historiker vielfach bestätigt: meist in der Teleologie einer erfolgreichen Erneuerung. Eine solche Verengung vermeidet diese instruktive Passauer Dissertation und erforscht einen immensen Souveränitätsverlust im konkreten Detail der „Friedensvollziehung“. So macht sie anschaulich, was der französische Sieg für den preußischen Staat insgesamt und für seine ganz unterschiedlich betroffenen Teile bedeutete: Zwischen den Jahren 1807 und 1810 ging es längst nicht mehr um Machtverlust, sondern um die schiere Existenz.

Das erste Kapitel legt die spezifische Herangehensweise dar: Ein in Bodin’scher Tradition vorgestellter Souveränitätsbegriff führt zur Frage, „wie Herrschaft in der politischen Verbandsform ‚Staat‘ entsteht, aufrechterhalten und verhandelt wird“ (S. 29) – als dynamisches Geschehen. So möchte die Studie erforschen, „wie es sich um die Souveränität in der Verfassungswirklichkeit Preußens unter dem Eindruck des Tilsiter Friedens verhielt und wie diese sich in der Folge wandelte“ (S. 30). Diesem Erkenntniszweck dienen vor allem Fragen nach der „Autonomie“ politischer Entscheidungsfindung, nach der Ableitung der politischen Gewalt „realiter von der Staatsgewalt“ und nach der Akzeptanz in der Bevölkerung; es seien die „wirtschaftlichen, sozialen und allgemeinen innenpolitischen Verhältnisse nach 1807 in erster Linie derivate Erscheinungen der alles prägenden außenpolitischen Situation“ (S. 31f).

Entsprechend breit ist die Quellenbasis gehalten, mit zahlreichen Editionen und vor allem mit reichhaltigen Archivalien des Geheimen Staatsarchivs sowie des Brandenburgischen Landeshauptarchivs. Aufmerksamkeit erhalten sowohl zentrale Instanzen wie Generaldirektorium und Ministerien als auch regionale bzw. lokale Institutionen wie die Provinzen oder die Polizeidirektion Berlin; besondere Bedeutung kommt der selten ausgewerteten Überlieferung der Friedensvollziehungskommission zu. Mehr hätte sich in der forschenden Praxis kaum bearbeiten lassen, wiewohl die theoretische Konzeption an weitere Quellenbestände denken lässt. Um Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung ermessen zu können, hätte die Publizistik neben den als signifikant ausgewiesenen französischen Polizeiberichten mehr Aufmerksamkeit verdient, angesichts des Themenzuschnitts zudem die zeitgenössische Staatsrechtslehre und ihr Souveränitätsverständnis; um die Heteronomie des preußischen Staates noch präziser zu erfassen, wären wiederum weitere, nicht bereits ediert Akten der Besatzer aufschlussreich gewesen.

Sodann führt das erste von vier thematischen Kapiteln konzise in die Konstellationen der napoleonischen Zeit ein, in Motive wie Konsequenzen der mannigfachen Kriegszüge und Friedensschlüsse. Es beginnt mit der preußischen Neutralitätspolitik in der Mitte der 1790er-Jahre und skizziert große strategische Linien, insbesondere, inwiefern Napoleon den Fortbestand Preußens nur noch als Verhandlungsmasse begriff, um ein Arrangement mit dem Zarenreich zu erzielen. Am Ende blieb lediglich eine „Regierung en miniature“ (S. 92) in Memel und Königsberg erhalten, die einen vor allem durch Gebietsabtretungen, Kontributionen und Wirtschaftskrise geschwächten Staat mit Interimsmaßnahmen und -institutionen zu erhalten suchte.

Wie schwer unter diesen Umständen die Wahrung der äußeren Souveränität fiel, zeigt der nächste Buchabschnitt. Er hebt mit den Verhandlungen nicht über den Frieden selbst, sondern über dessen hier zu untersuchende Umsetzung an. Zu diesem Zweck kam am 16. August 1807 erstmals die besagte preußische Friedensvollziehungskommission zusammen. Hilflos sah sich das neue Kollegialorgan der „Unerfüllbarkeit der Kontributionsforderungen“ (S. 125) ausgesetzt, die selbst russisches Insistieren nicht substantiell zu mindern vermochte; Steins Erfüllungspolitik setzte das Ministerium Dohna-Altenstein fort, Hardenberg vermochte die miserablen Bedingungen ebensowenig aus eigener Kraft zu wenden. Prompt inspirierte das spanische Vorbild diverse Ideen eines Volkskriegs, gerichtet bisweilen gegen einen als zaudernd empfundenen König – in der „Ideologie des Befreiungskampfs“ (S. 149). Sie war nicht zwingend gegen die Monarchie gerichtet, konnte indes einen „Loyalitätsbruch“ motivieren; namentlich Major Schill „bestritt die souveräne Herrschaftsgewalt des Königs“ via facti (S. 162f).

Der inneren Souveränität gilt der folgende Buchteil über das Besatzungsregime. Frankreich bediente sich zur Befriedigung seiner vorwiegend finanziellen Interessen gegebener Verwaltungsstrukturen, veränderte sie indes auch, etwa durch die (später beibehaltene) Herausnahme Berlins aus der Kurmark; Loyalität gegenüber dem Empire sollte eine Neuvereidigung preußischer Beamter schaffen, die Friedrich Wilhelm III. zunächst unter Strafe stellte, ohne sie tatsächlich zu sanktionieren. Die Verwaltung erfüllte überwiegend ihre Funktionen, nun eben zugunsten Frankreichs – bei einiger „Verwirrung“ (S. 178) der Beamten mangels Instruktionen ihrer preußischen Regierung. Administrative Alltagsabläufe vermochte die Friedensvollziehungskommission kaum zu steuern, bei allen verborgenen Bemühungen; lediglich in der Justiz, an der die französischen Besatzer wenig Interesse hatten, konnte sie vergleichsweise frei agieren. Örtliche Umstände und konkrete Amtsführung insbesondere der jeweiligen Generalzivilkommissare machten Kooperation oder Konflikt mit der Besatzungsmacht wahrscheinlicher, deren Armee „faktisch zum Souverän in den okkupierten Teilen der preußischen Monarchie“ wurde (S. 187). Darauf führt der Verfasser auch jenen Liberalisierungsdruck zurück, dessen Impulse sich teilweise mit Ideen preußischer Reformer verbanden – doch etwa an der fast alternativlosen Aufhebung von Zoll- und Handelsbeschränkungen ist abzulesen, wie beschränkt der Handlungsspielraum der königlichen Regierung und wie schrankenlos die ökonomischen Belastungen durch die Besatzungsherrschaft waren.

Enorme französische Requisitionsforderungen bewirkten einen massiven Geldabfluss, dieser wiederum auch konstitutionellen Wandel: Im Machtvakuum nach dem Tilsiter Frieden kam plötzlich den Ständen besondere Bedeutung zu. Sie übernahmen teilweise Funktionen der Finanzbehörden, spontan gebildete ständische Komitees agierten auf einmal als Verwaltungsinstanzen, sie erhoben anstelle des Staates eigene Steuern, um französische Forderungen bedienen zu können. Daraus ergaben sich politische – in Pommern trat sogar ein Landtag zusammen – Weiterungen, es kam zu Konflikten sowohl zwischen Ständen und Regierung als auch innerhalb der Stände. Außerdem behandelt der Autor – allerdings eher kursorisch – die alltägliche „Okkupationserfahrung“ (S. 217), die wohl einen Plural verdient gehabt hätte. Exzessiv waren die Belastungen selten, doch permanent bedrängend, für entlassene Staatsdiener ebenso wie für Bauern. Daraus auf eine „Politisierung“ in der Besatzungszeit zu schließen (S. 232), scheint plausibel, bedürfte aber doch der Differenzierung.

Das vierte größere Kapitel widmet sich „Souveränität und Staatlichkeit im Wandel“, zunächst hektischen Versuchen der Verwaltung, dringend benötigte Ressourcen zu mobilisieren: vielfach auf interimistische Weise, die gleichwohl einen Staatsbildungsprozess vorantrieb. Dazu gehörten neue Behörden ebenso wie der Streit um eine Nationalrepräsentation, Institutionen (etwa die gestärkten Oberpräsidenten) ebenso wie umstrittene Kompetenzauslegungen. So musste sich die Zentralregierung ständische Mitbestimmungsansprüche gefallen lassen, während sie selbst über fiskalisches Improvisieren kaum hinauskam (S. 265); zugleich sah sie sich zur Entlassung zahlreicher Beamten und zu Gehaltskürzungen gezwungen, die Finanznöte überwogen schließlich Sorgen um deren künftige Loyalität. Welche Handlungszwänge die Besatzung erzeugte, wird auch anhand des Oktoberedikts deutlich: bürgerliches Kapital zu mobilisieren, resultierte anscheinend eher aus Kapitalnot denn aus liberaler Überzeugung. Zudem hatte die Regierung mit punktueller Gegenwehr eines verarmten Volkes zu rechnen, bisweilen gelang die Steuereinziehung sogar nur mit militärischem Nachdruck. Gehäufte Prozesse wegen Majestätsbeleidigung zeigen ein Legitimitätsproblem an – umgekehrt auch der alsbald kontrovers diskutierte Repräsentationsgedanke, an den bei weitem nicht nur Stein appellierte (wiederum zum Missfallen etwa Altensteins). Letztlich erweisen sich die Provinzen und namentlich ihre ständischen Vertretungen als oftmals vernachlässigte Akteure, die wesentliche Funktionen des weitgehend ohnmächtigen Zentralstaats übernahmen und insofern die Rolle des Souveräns übernahmen. Daraus sei eine breite „Politisierung“ (S. 329ff) der Bevölkerung erwachsen, fassbar in der (indes nicht eingehend untersuchten) Publizistik oder im „Tugendbund“, beileibe nicht die einzige Verbindung seiner Art.

Anstelle eines Ausblicks auf „Konfliktlinien 1807–1848“ dürfte sich so mancher Leser ein Fazit wünschen, das weniger normativ Napoleons „hegemoniales System des Unrechts“ (S. 358) kritisiert als die zahlreichen Detailerkenntnisse der Studie bündelt. Sie schafft eine Referenz, um die oft abstrakte Rede einer fundamentalen Existenzkrise des preußischen Staates konkret zu substantiieren. So unwiderlegbar es ist, dass die Niederlage zu einem „erheblichen Legitimitätsdefizit des alten politischen Systems“ geführt hat (S. 361): Spannender sind die Bruchlinien. Wie die Monarchie „zur Projektionsfläche unterschiedlichster politischer und sozialer Erwartungen wurde“ (S. 363), hätte vielleicht eine präzisere Profilierung verdient, zudem eine andere Perspektivierung. Der Befund „einer nach innen schwachen Souveränität“ noch nach 1815 (S. 367) schreibt überzeugend gegen teleologische Deutungen an – und lädt zugleich zum Nachdenken darüber ein, ob er schon für Preußen vor der Niederlage gelten mag.

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