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Titel
De samhällsbesvärliga. Förhandlingar om psykopati och kverulans i 1930- och 1940-talens Sverige


Autor(en)
Berg, Annika
Erschienen
Göteborg 2018: Makadam förlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
SEK 229.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Merle Weßel, Ethik in der Medizin, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Das vorliegende Buch De samhällsbesvärliga. Förhandlingar om psykopati och kverulans i 1930- och 40-talens Sverige, übersetzt ins Deutsche Die sozial Benachteiligten. Verhandlungen um Psychopathie und Querulanz in den 1930er- und 1940er-Jahren in Schweden, verfasst von der schwedischen Ideenhistorikerin Annika Berg, nähert sich aus der Perspektive der Querulanzdiagnose dem Thema des Umgangs des schwedischen (Wohlfahrts-)Staates mit seinen marginalisierten Bürger/innen in der Zwischenkriegszeit an. An Beispielen der Korrespondenz von institutionalisierten Personen, die die Diagnose als Psychopath/in oder Querulant/in erhalten haben, zeichnet Berg den Lebensweg dieser Personen, ihre Erfahrungen in den psychiatrischen Krankenhäusern, den Umgang der Ärzt/innen mit ihnen, sowie ihren Weg zurück in die Freiheit nach. Hierzu hat Berg insbesondere Patient/innenbriefe analysiert und stellt so die Patienten und Patientinnen in den Mittelpunkt der historischen Quellenanalyse.

De samhällsbesvärliga beginnt mit einer medizin- und wissenschaftshistorischen Herleitung und Verortung der Begriffe des Querulantentums und der Psychopathie im schwedischen Kontext mit internationalen Bezügen. Für Kenner/innen der nordischen und nordeuropäischen Medizingeschichte ergibt sich hierbei ein bereits bekanntes Bild. Berg zeigt, dass die schwedische Psychiatrie stark von deutschen Vorbildern, wie Richard von Krafft-Ebing, beeinflusst wurde. Medizinische Definitionen von Querulanz, Querulantenparanoia und Querulantenwahnsinn orientierten sich weitestgehend an den deutschen Diskursen und wurden von den schwedischen Psychiatern und Psychologen, wie Alfred Petrén und Olof Kinberg, übernommen. Bereits an diesem Punkt des Buches zeigt Berg auf, dass es sich keineswegs um eine rein medizinische Diagnose handelte, sondern insbesondere soziale Faktoren, wie Geschlecht, Klasse und Sexualität, eine führende Rolle in der Diagnose einer Person als Querulant/in spielten.

Den Hauptteil des Buches bildet eine Reihe von acht Fallstudien, die exemplarisch die Geschichte von Menschen nachzeichnen, die im Rahmen einer Institutionalisierung in einer psychiatrischen Klinik unter anderem die Diagnose der Querulanz erhalten haben. Das Quellenkorpus, auf das sich Berg stützt, umfasst hauptsächlich Briefe, die die Patient/innen an ihre Ärzt/innen, aber auch an Institutionen wie den Medicinalstyrelsen (das nationale Gesundheitsamt), geschrieben haben. Die Wahl der Quellen stellt einen innovativen Zugang zu dem Thema dar. Durch den Fokus auf das Briefmaterial wird den zumeist sozial marginalisierten Personen eine aktive Stimme in ihrer Behandlung zugewiesen und sie stellen sich nicht, wie so oft, wenn ausschließlich medizinische Dokumente analysiert werden, als passive Opfer dar. Ganz im Gegenteil zeigt Berg, dass die beschriebenen Personen durchaus einen regen und nicht unbedingt passiven Austausch mit den behandelnden Ärzt/innen hatten und sich selbst aktiv um das Ende ihrer Institutionalisierung bemühten haben.

Berg gliedert die Einteilung ihrer Fallstudien thematisch, womit sich auch die Auswahl begründet. Themengebiete sind Sexualität, Klasse, Verbrechen, aber auch Geschlecht. Da ist zum Beispiel der Fall der Ester J., die in den 1920er- und 1930er-Jahren illegale Abtreibungen durchführte und daraufhin im Krankenhaus von Långholmen institutionalisiert wurde. Ihr behandelnder Psychiater war Olof Kinberg, welcher der Frau eine nur rudimentär ausgebildete Moral, Infantilismus und eine mangelhafte Handlungskontrolle attestierte, die sich unter anderem an ihrer Durchführung von Abtreibungen gezeigt habe. Sexualität, Geschlecht und Klasse spielen, laut Berg, in diesem Fall die vorherrschende Rolle in der Diagnose und folgenden Institutionalisierung von Ester J.

Sexualität und sexuelle Orientierung spielen auch eine tragende Rolle in den meisten anderen Fallbeispielen, die Berg gewählt hat, wie zum Beispiel die pädo-homosexuellen Neigungen von Carl F., der sexuelle Beziehungen zu männlichen Teenagern einging, oder der Fall des Jungenmörders Herman E. Berg verweist in diesen Fällen auf die hinlänglich und von Jens Rydström bereits 2003 diskutierte Tatsache der Ungleichbehandlung von weiblicher und männlicher Homosexualität in Medizin und Rechtswesen in Schweden (und sicherlich nicht nur dort). Als besonders stellt sich der Fall von Wilhelm G. dar, einem Professor der Universität Uppsala, der nach einem gewaltsamen Angriff auf einen Studenten im Jahre 1933 mit einer paranoiden Störung diagnostiziert und von dem Psychiater Viktor Wigert behandelt wird. Er erscheint als einer der wenigen Fälle mit einer Querulanzdiagnose, der nicht aus einem sozio-ökonomisch benachteiligten Milieu stammt.

Ansonsten gleichen sich die Fälle, die Berg ausgewählt hat, in vielen Punkten und darüber hinaus auch mit anderen Studien, die sich mit dem medizinischen Umgang von sozial Benachteiligten in Schweden beschäftigen, zum Beispiel im Rahmen von Sterilisierungen in den 1930er- und 1940er-Jahren.1 Berg argumentiert, dass die Querulanzdiagnose, die die Personen in ihren Fallstudien erhalten haben, multidimensionale Ursachen hatte, die sowohl medizinisch wie auch sozial begründet sind. Die psychiatrisch erkrankten Querulant/innen sind in der Tat zumeist soziale Querulant/innen, deren soziales Fehlverhalten, ausgehend von ihrem sexuellen Verlangen, ihren Handlungen, aber auch ihren Verbrechen, als sozial unmoralisch deklariert und dann im Sinne des Zeitgeistes medikalisiert wurde. In diesem Sinne beleuchtet Berg ein altbekanntes Thema nur aus einer leicht veränderten Perspektive. Die Medikalisierung von sozialem Fehlverhalten mit verschiedenen Schwerpunkten, wie Homosexualität, Sterilisation oder Geschlecht im frühen schwedischen (Wohlfahrts-)Staat wurde bereits oftmals betrachtet, zum Beispiel von Jens Rydström2, Mattias Tydén1, Roger Quarvsell3 oder Maija Runcis.4 Berg wählt nun den neuen Zugang über die Querulanzdiagnose, der aber darüber hinaus wenig neue Erkenntnisse bringt. Auch die Einbettung in eben dieses Forschungsfeld erfolgt nicht zureichend. Berg zieht kaum Bezüge zu den oben genannten Studien und scheint ihr Buch ausschließlich in einem psychiatriehistorischen Forschungsfeld zu verorten, ohne die sozialhistorischen Einflüsse ausreichend zu adressieren. Die geschilderten Fälle zeigen in ihrer Geschichte zum Beispiel frappierende Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Fällen, in denen insbesondere Frauen in den 1930er- und 1940er-Jahren in Schweden (zwangs-)sterilisiert wurden.4 Die von Berg erwähnten Psychiater, wie Alfred Petrén und Olof Kinberg, waren führende Köpfe in der Propagierung der Sterilisation von als sozial problematisch angesehenen Bürger/innen und anderen eugenischen Ideen und arbeiteten aktiv an der Umsetzung des schwedischen Sterilisationsgesetzes von 1934. Diese Verbindungen, insbesondere die zur Eugenik, bleiben von Berg aber gänzlich unerwähnt und es stellt sich Leserinnen und Lesern die Frage, ob dies in der Tat keine Option in der Behandlung der diskutierten Fälle und gesichteten Quellen darstellte, was sich eine Kennerin beziehungsweise ein Kenner dieser historischen Zeit kaum vorstellen kann. Auch drängt sich die Frage auf, ob die Auswahl oder ihre Beleuchtung einen gewissen Bias der Autorin zeigt, diesen Teil der schwedischen Psychiatrie- und Medizingeschichte in diesem Buch nicht zu behandeln. Die komplette Nicht-Erwähnung dieser Aspekte weist zumindest auf eine lückenhafte Bearbeitung der Quellen oder eine fehlende ganzheitliche Einbettung in den historischen Kontext hin.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Annika Bergs Buch ein lesenswerter Beitrag zur schwedischen Medizingeschichte in den 1930er- und 1940er-Jahren ist. Fachleute auf dem Gebiet der nordischen Medizingeschichte werden in dem Buch nicht allzu viel Neues entdecken, sondern vielmehr eine Bestätigung von altbekannten Thesen und Analysen finden. Als sicherlich innovativ muss angesehen werden, dass Berg die Korrespondenz der Patient/innen als Quelle heranzieht und zum Gegenstand der Analyse macht. So erhalten die Patient/innen eine Stimme und ihre Perspektiven werden in die Betrachtung aktiv miteinbezogen. Viel zu oft sind in medizinhistorischen Studien die Patient/innen zwar die Objekte, aber kommen nur selten selbst zu Wort. Allerdings bleibt die Verortung im historischen Kontext zu kurz gefasst und man hätte sich als Leser/in eine stärkere Einbettung in vorherige Forschungen, wie auch in die zeitgenössischen Diskurse, gewünscht, um ein besseres Verständnis der Relevanz und des Stellenwertes der Querulanzdiagnose im Kontext ähnlicher Diagnosen der Zeit zu erhalten. So ist das Werk vielmehr eine Aneinanderreihung von zwar interessanten, aber deskriptiven Fallstudien, denen eine vertiefende historische Einbettung verwehrt bleibt.

Anmerkungen:
1 Mattias Tydén, Från politik till praktik. De svenska steriliseringslagarna 1935–1975, Stockholm 2002.
2 Jens Rydström, Sinners and Citizens: Bestiality and Homosexuality in Sweden, 1880–1950, Chicago 2003.
3 Roger Qvarsell, Utan vett och vilja: om synen på brottslighet ich sinnessjukdom, Stockholm 1993.
4 Maija Runcis, Steriliseringar i folkhemmet, Stockholm 1998.

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