E. Henschke: Akademiker im Dritten Reich vor und nach 1945

Cover
Titel
Rosenbergs Elite und ihr Nachleben. Akademiker im Dritten Reich vor und nach 1945


Autor(en)
Henschke, Ekkehard
Erschienen
Köln 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunnar Take, Forschungsabteilung, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Das Amt Rosenberg konstituierte sich Anfang 1934 in Nachfolge des 1928 gegründeten „Kampfbunds für deutsche Kultur“ und sollte dem Reichsleiter Alfred Rosenberg die umkämpfte Rolle als nationalsozialistischer Chefideologe verschaffen. Beabsichtigt war eine „kulturpolitische Revolution“ (S. 92) auf wissenschaftlicher Basis, um die NS-Ideologie tiefgreifend und dauerhaft in der angestrebten Volksgemeinschaft zu verankern. Im „organisierten Chaos“ des „Dritten Reichs“ geriet die quer zu einer Reihe von (normen-)staatlichen Institutionen liegende NSDAP-Dienststelle in viele und vielfältige Konflikte. Gleichzeitig war sie mangels Exekutivgewalten zur Durchsetzung ihrer Interessen und politischen Agenden stark auf Kooperationen angewiesen. Eine erste umfassende Geschichte des Amtes Rosenberg von 1970 konnte entsprechend auch einen großen Beitrag zu einem besseren Verständnis des keineswegs monolithischen NS-Herrschaftssystems leisten.1

Ekkehard Henschkes 378 Seiten umfassendes Buch „Rosenbergs Elite und ihr Nachleben“ bietet keine aktualisierte Institutionengeschichte, sondern konzentriert sich auf drei Aspekte: In einzelbiografischen Betrachtungen wird den multiplen und im Lauf der Zeit wechselnden Loyalitäten der Mitarbeiter/innen des Amtes Rosenberg nachgegangen. Zweitens soll die Radikalisierung im Übergang von der Kriegsvorbereitung zu den Kriegsjahren aufgezeigt werden. Drittens werden die Kontinuitäten des Denkens und die weiteren Karrieren der Mitarbeiter/innen nach 1945 rekonstruiert. Diese inhaltlichen Schwerpunkte entsprechen den gegenwärtigen Trends der Behördenforschung und sind gut gewählt.

Die Gliederung ist leider weniger schlüssig und auch nicht konsequent. Die drei Hauptkapitel behandeln zu annähernd gleichen Teilen zunächst das intellektuelle Erbe in der Bundesrepublik, zweitens die Organisationsgeschichte des Amtes und das Wirken seiner Mitarbeiter/innen sowie in einem dritten Kapitel drei Fallstudien zur „Weltanschauungselite in Aktion“ in Greifswald, Leipzig und Berlin. Wahllos anmutende biografische Einzeldarstellungen durchziehen die Studie und auch einige Unterkapitel enthalten störende Einschübe. Die erst im zweiten Kapitel gelieferte Einführung zur Entstehung des Amtes wird beispielsweise durch einen „Zwischenruf“ (S. 83–85) unterbrochen. Ferner ist unklar, warum neben dem zweifellos bedeutenden Berlin ausgerechnet Greifswald und Leipzig als Fallstudien ausgewählt wurden. Sollten „drei recht unterschiedliche Städte“ (S. 16) miteinander verglichen werden oder solche, die Gemeinsamkeiten wie etwa eine protestantische Prägung teilten? (S. 166)

Weniger ein Ergebnis, sondern eher Motivation des Buches ist Henschkes „Eindruck“, es gäbe bis in die Gegenwart „eine rechtsextreme Tiefenströmung in deutschen Köpfen“ (S. 75). Mitverantwortlich macht er „jene unentwegten Nationalsozialisten unter den Rosenberg-Mitarbeitern“, die „die rechte Szene in Deutschland bis in die 1980er-/1990er-Jahre“ beeinflusst hätten (S. 74f.). Weder die theoretische Grundlage der Analyse noch die Methodik reichen aus, um diese Aussage genügend zu belegen. Alle Kapitel sind deskriptiv gehalten und der Mangel an Analyse und Abstraktion macht sich besonders in den jeweiligen Zwischenfazits bemerkbar. Dennoch bietet das Buch eine Menge nützlichen Materials und damit Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen.

Dem jahrzehntelangen Interesse des Verfassers am Thema entspricht eine ausgiebige Rechercheleistung, was auch die 88 Seiten umfassenden Endnoten bezeugen. Der ehemalige Bibliothekar Henschke trug zudem ein 35-seitiges Literaturverzeichnis zusammen. Entsprechend liegt auch die Stärke des Buches in der Rekonstruktion des Wirkens einer Vielzahl von Mitarbeiter/innen des Amtes Rosenbergs, der Darstellung ihres Handlungsumfeldes sowie der Kooperation und Konkurrenz mit anderen Personen und Institutionen des „Dritten Reichs“. Insgesamt elf Personen erhalten exklusive Fallstudien, zwei Männer sogar je zwei Unterkapitel zu verschiedenen Phasen ihres Wirkens. Das Personenverzeichnis erleichtert die Suche nach jenen Personen, die mehrfach behandelt werden.

Die Stärken und Schwächen des Buches können anhand des am häufigsten erwähnten Mitarbeiters Matthes/Matthäus Ziegler anschaulich gemacht werden. „Rosenbergs ideologischer Scharfmacher“ (S. 82) Ziegler (1911–1992) studierte zunächst in Riga evangelische Theologie, wandte sich dann der Volkskunde zu und begann sein Erwerbsleben als Referent im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. Auf eine Initiativbewerbung mitsamt einer Arbeitsprobe reagierte Rosenberg im Januar 1934 positiv. Umgehend übertrug er dem noch nicht promovierten Ziegler die Schriftleitung der „Nationalsozialistischen Monatshefte“, deren Auflage sich sofort stark steigerte. Mit zwei Standbeinen im Amt Rosenberg sowie in der SS akkumulierte Ziegler Ränge, Posten und Kompetenzen – bis er sich 1939 offenbar weitgehend vom Funktionärsdasein zurückziehen und auf die Religionswissenschaft konzentrieren wollte. Am Weltanschauungskrieg im Osten nahm er 1941-42 als Propagandaoffizier der Waffen-SS teil und betrieb nebenbei „antikonfessionelle Arbeiten“ (S. 99).

Die Informationen zu diesem Lebenslauf muss sich der Leser des Buches in zwei Unterkapiteln (S. 37–41, 96–99) sowie weiteren verstreuten Erwähnungen zusammenklauben. Da nicht abstrahiert oder verglichen wird, mündet die Betrachtung nicht in eine kollektivbiografische Analyse.2 Der Erkenntnisfortschritt über das Amt Rosenberg, über die Mitarbeiter/innen und ihre vergangenheitspolitischen Strategien – in diesem Fall eine Kooperation mit dem prominenten evangelischen Kirchenpräsidenten Martin Niemöller – hätte bedeutend größer sein können. Zieglers Sozialisation bleibt weitgehend im Dunkeln und seine Lebens- und Karriereentscheidungen werden nicht verständlich. Das verbindende Element der gemeinsamen Herkunft aus dem Baltikum wird zwar erwähnt, jedoch nicht untersucht, ob auch andere Mitarbeiter/innen Rosenbergs aus Grenzgebieten stammten bzw. Sozialisationsetappen als nationale Minderheiten erfuhren. Anschließende Forschungen müssen sich noch damit befassen, welche Eigenschaften in den Augen Rosenbergs idealtypische Mitarbeiter/innen ausmachten und in welchen Arbeitsgebieten Karrieren leichter gelangen. Reüssierten beispielsweise vor allem jene, die sich als Herausgeber von Zeitschriften und als Verfasser von Rezensionen eines besonders geeigneten „Mittels zur politischen Indoktrination“ (S. 109) bedienten? War dies erfolgversprechenderer als die Erstellung eigener wissenschaftlicher oder zumindest pseudowissenschaftlich unterlegter Inhalte? Lässt sich daraus etwas über das Verhältnis von destruktiven zu konstruktiven Elementen in der NS-Ideologie oder in der Organisation der NS-Propaganda schließen? Für derartige Fragen bietet Henschke viel anregenden und nützlichen Stoff.

Ein weiteres, von Henschke nur gestreiftes Feld sind die weiblichen Mitarbeiterinnen. Diese kommen in der Behördenforschung selten vor, weil sie, wie etwa im Rosenbergschen Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, kaum wichtige Posten besetzten.3 Im Amt Rosenberg scheint es dagegen mindestens elf Referentinnen gegeben zu haben, von denen mindestens sechs promoviert waren. Dieser Frauenanteil von immerhin 8% ist bemerkenswert – zumal die meisten offenbar nicht erst als Ersatz für kriegsverpflichtete Männer angestellt wurden, sondern bereits Mitte der 1930er-Jahre (S. 22–24, 163, 228).

Von den Frauen wird in einem eigenen Unterkapitel nur die ohnehin bereits beforschte Germanistin und Volkskundlerin Anneliese Bretschneider (1898–1984) vorgestellt.4 Ihre Tätigkeitsbereiche im „Dritten Reich“ lagen hauptsächlich im Sammeln, Kategorisieren und Zensieren. Wie Ziegler hatte auch sie zwei Standbeine, das Kulturpolitische Archiv, „eine Art Sicherheitsdienst (SD) für Kulturschaffende“ (S. 107), sowie den echten SD der SS. Nach dem Krieg konnte sie trotz ihrer erheblichen und auch bekannten NS-Belastung wissenschaftlich tätig bleiben – und zwar nicht im Westen, sondern in der DDR. Dieser Lebenslauf regt zu einem deutsch-deutschen Vergleich von Nachkriegskarrieren hochideologisierter Nationalsozialist/innen an, auch in geschlechtergeschichtlicher Dimension. Für derartige kollektivbiografische Zugänge oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen bietet Henschkes Studie Anknüpfungspunkte und eine Menge hilfreiches Material.

Anmerkungen:
1 Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, München 2006 (1. Aufl. 1970).
2 Ausführlicher dargestellt und zugleich besser eingeordnet wird die Biografie Zieglers in: Manfred Gailus, Vom „gottgläubigen“ Kirchenkämpfer Rosenbergs zum „christgläubigen“ Pfarrer Niemöllers. Matthes Zieglers wunderbare Wandlungen im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 937–973.
3 Der Frauenanteil lag bei den höheren Beamten des Ostministeriums offenbar unter einem Prozent. Biografien RMfdbO, in: Beamte nationalsozialistischer Reichsministerien, URL: https://ns-reichsministerien.de (28.12.2020).
4 Gerd Simon, Blut- und Boden-Dialektologie, Tübingen 2011, URL: http://hdl.handle.net/10900/46847 (28.12.2020).

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