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Titel
Briefe aus dem Krieg. Die Feldpost als Quelle von 1914 bis 1918


Autor(en)
Fett, Ann-Katrin
Erschienen
Stuttgart 2020: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
195 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Scheel, Geschichte der Europäischen Moderne, FernUniversität in Hagen

Im Ersten Weltkrieg vollbrachte die deutsche Feldpost eine logistische Meisterleistung: Die historische Forschung geht von rund elf Milliarden von der Front in die Heimat beförderten Postkarten, Briefen und Paketen aus, in der Gegenrichtung wurden knapp 18 Milliarden Sendungen verschickt.1 Kriegskorrespondenzen sind, so heißt es in einem Aufsatz eines unlängst erschienenen Sammelbandes zur Geschichte des modernen Krieges, „wertvolle Quelle[n], um den Alltag der Soldaten und die Auswirkung der Kriegsgewalt zu verstehen“.2

Bereits während des Ersten Weltkrieges und in der Zwischenkriegszeit wurden Feldpostbriefe zu unterschiedlichen Zwecken gesammelt und ediert. Als Quellengattung Mitte der 1980er-Jahre „wiederentdeckt“, entstanden in der Folge wegweisende theoretische Beiträge, Monografien und Anthologien, die im Kontext einer „Militärgeschichte von unten“ beabsichtigten, vor allem den Kriegsalltag der Mannschaftssoldaten zu erforschen.3 Hinzu kamen zahlreiche Sammelwerke mit Kriegsbriefen „einfacher“ Soldaten und ihrer Angehörigen, die insbesondere – aber nicht allein – im Zuge des vor wenigen Jahren begangenen Zentenariums des „Großen Krieges“ publiziert wurden (und weiterhin werden). Das Spektrum dieser Publikationen reicht von Veröffentlichungen entsprechender Bestände durch Archive, Bibliotheken oder Forschungsinstitute über wissenschaftliche Editionen privater Nachlässe bis hin zur Herausgabe sogenannter Dachbodenfunde, häufig auf Initiative geschichtsinteressierter Nachfahren der Briefeschreiber/innen.

Auch Ann-Katrin Fett kann sich der Faszination der Kriegskorrespondenzen nicht entziehen, versprechen sie doch „Einblicke in die alltäglichen Sorgen und Nöte im Krieg“ (S. 9). Aus einem persönlichen Interesse an dieser Quellengattung sichtete und transkribierte die Autorin mehr als 1.000 bislang unveröffentlichte Feldpostbriefe aus Privatsammlungen. Dabei handelt es sich weder um in sich geschlossene Familienkorrespondenzen noch um Feldpostbriefe, deren Auswahl durch die Zugehörigkeit der Verfasser/innen zu bestimmten sozialen Klassen oder durch regionale Bezüge bestimmt ist. Das Quellenmaterial umfasst vielmehr „Briefe von der Front und aus der Heimat, von Frauen und Männern, unterschiedlichen Generationen und sozialen Milieus, aus allen Teilen Deutschlands“ – mithin Schriftstücke von Personen, die „aufgrund ihrer Heterogenität einen Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts“ (S. 20) bieten. Deren Wahrnehmung(en) des Kriegsgeschehens an der Front und in der Heimat, unterschiedliche Sinnstiftungsversuche und -angebote sowie im Kriegsverlauf etwaig wechselnde Stimmungslagen und damit verbundene diskursive Verschiebungen aufzuzeigen, ist das Anliegen der besprochenen Publikation.

Eingangs werden der Quelle Feldpost inhärente methodische Probleme diskutiert: Innere und äußere Zensur, individuelle Fähigkeit zur schriftlichen Artikulation, eingeschränkte Wahrnehmung des/der Schreibenden, aber auch die asymmetrische Überlieferung – Briefe gingen an der Front häufiger verloren als in der Heimat, schriftliche Zeugnisse der Ober- und Mittelschicht wurden eher aufbewahrt als die der Arbeiterschaft – machen Feldpostsendungen zu einer „sperrigen“ Quellengattung. Daher verfolgt die Autorin in Anlehnung an Michel Foucault einen diskursanalytischen Ansatz und legt den Fokus ihrer Untersuchung auf die Sichtbarmachung diskursiv erzeugter Wahrnehmung und Deutung historischer Ereignisse und Entwicklungen (vgl. S. 12). Ann-Katrin Fett liest die Feldpostbriefe weniger als Zeugnisse individuellen Sprechens und Denkens, sondern als „gesamtgesellschaftliche Diskurse und mentalitätsgeschichtliche Prozesse“ (S. 11) spiegelnde Quellen mit „stets wiederkehrende[n] sprachliche[n] Muster[n] und Gemeinsamkeiten“ (S. 20).

Zur inhaltlichen Auswertung der Feldpostbriefe wird ein chronologischer Zugriff gewählt: Jedem Kriegsjahr ist ein Kapitel gewidmet, das den spezifischen Charakter des betrachteten Jahres abbilden soll. So wird 1914 als das Jahr der „Welt in Aufruhr“ bezeichnet: Der als Zäsur empfundene Kriegsbeginn produzierte ambivalente, zwischen patriotischer Kriegsbegeisterung und Zukunftsängsten oszillierende Stimmungslagen. Gemeinsamer Bezugspunkt der Briefe der ersten Kriegsmonate war die Hoffnung auf einen schnellen deutschen Sieg; Reflektionen über politische Zusammenhänge und Ursachen des Kriegsausbruchs finden sich kaum. Um die Jahreswende 1914/1915 setzte im Westen der Stellungskrieg ein, die Front erstarrte. Folglich überschreibt Ann-Katrin Fett das Jahr 1915 mit „Stagnation“. Die mit dem Stellungskrieg verbundenen physischen wie psychischen Belastungen, bislang nicht gekannte Dimensionen der Zerstörung und eine sich an Front und sogenannter Heimatfront verschlechternde Versorgungslage schlugen sich in den Kriegskorrespondenzen als „eigentümlich wirkendes Nebeneinander von Resignation und Durchhaltefloskeln“ (S. 48) nieder. Mit Blick auf die blutigen Materialschlachten vor Verdun und an der Somme greift das dem Jahr 1916 gewidmete Kapitel hauptsächlich den zeitgenössischen kriegsbezogenen „Nervendiskurs“ auf. Vor allem im „Höllenkessel“ von Verdun, so ein noch in der Zwischenkriegszeit wirkmächtiger Mythos, sei ein neuer Soldatentypus geboren worden: der willensstarke Frontkämpfer mit Nerven aus Stahl. Wie es tatsächlich um die Nervenstärke der Kombattanten bestellt war, ob sich „diskursive Gräben“ (S. 161) zwischen Front und Heimat auftaten und soziale Missstände und Schikanen die vielbeschworene „Frontgemeinschaft“ konterkarierten, wird hier beleuchtet. „Elend“ lautet der Titel des Jahres 1917, das in noch stärkerem Maße als die Vorjahre von Ressourcenknappheit, Hunger (Stichwort: „Steckrübenwinter“) und Kriegsmüdigkeit geprägt war. Angesichts des Schwindens überkommener romantisierender soldatischer Selbstbilder sowie zunehmend selbstständig agierender Frauen spiegeln die Soldatenbriefe dieses Jahres überdies eine „Krise der Männlichkeit“ – als „Produkt aus Versagensängsten und Kontrollverlust“ (S. 166). Auch wenn sich im Zuge der deutschen Frühjahrsoffensiven Ende März bis Mitte Juli 1918 eine gewisse Aufbruchsstimmung Bahn gebrochen haben mag, bestimmen Tendenzen von Auflösung und kollektiver Erschöpfung an Front und Heimat die Briefe der letzten Kriegsmonate. Deutungen der drohenden Niederlage und Sinnstiftungsversuche in Anbetracht unzähliger „umsonst gefallener“ Soldaten beherrschen den Diskurs. Die Kriegsjahre übergreifend werden die diskursive Verhandlung des omnipräsenten Kriegstodes respektive die Bedeutung der Kriegsweihnacht für die Frontsoldaten thematisiert.

Sich umfänglich auf aussagekräftige Quellen stützend, dabei die Entwicklung sprachlicher (Deutungs-)Muster in den Feldpostbriefen fokussierend, gelingt es der Autorin, ein anschauliches und facettenreiches Bild (sich wandelnder) Befindlichkeiten der Protagonist/innen zu entwerfen. Dass in einigen Kapiteln (1915/„Stagnation“, 1916/„Nerven“ und 1917/„Elend“) die Perspektive der Front bzw. der Kombattanten dominiert, mag in der Natur des Untersuchungsgegenstandes liegen. Ein kleiner Kritikpunkt betrifft das Fehlen jeglicher Information über die Provenienz der verwendeten Korrespondenzen. Auch die Angaben zur sozialen Herkunft und zum individuellen Kriegserleben der Briefeschreiber/innen (z. B. Einsatz hinter den Frontlinien bzw. in der Etappe oder Alltag einer Offiziersgattin bzw. Rüstungsarbeiterin) bleiben fragmentarisch. Nur vereinzelt finden sich entsprechende Hinweise im Text. Die Nachweise im sehr knapp gehaltenen Anmerkungsapparat benennen lediglich Adressant/innen und Datierung der Briefe. Dies widerspricht ein Stück weit der von Ann-Katrin Fett einleitend geforderten genauestmöglichen Ermittlung der „politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der Quelle“ (S. 12). Denn, wie die Autorin mit Bourdieu argumentiert, ist die Art und Weise, wie Menschen ihre Biographie in Worte fassen, in hohem Maße von deren Habitus, also von ihren milieubasierten kulturellen Präferenzen und Lebensstilen, abhängig (vgl. S. 12). Insofern ist es nur bedingt möglich nachzuvollziehen, ob die hier Zitierten tatsächlich einen breiten Querschnitt der Kriegsgesellschaft darstellen und somit Analysen ihrer Feldpostbriefe allgemeingültige Aussagen über gesamtgesellschaftliche Stimmungslagen zulassen. In der Summe aber handelt es sich um eine anregende Studie, die einen konzisen Überblick über wesentliche Bereiche des Kriegsalltags der Kombattanten und „Daheimgebliebenen“ bietet und sowohl von Fachwissenschaftler/innen wie auch von interessierten Laien mit Gewinn gelesen werden kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. Klaus Latzel, Art. „Feldpost“, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn 2014, S. 473–475, hier: S. 473.
2 Clémentine Vidal-Naquet, »Schreibe mir oft«, in: Bruno Cabanes (Hrsg.), Eine Geschichte des Krieges. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Hamburg 2020, S. 454–460, hier: 454.
3 Vgl. Wolfgang Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992. Des Weiteren sind vor allem die inhaltlich-methodischen Arbeiten Klaus Latzels zur Feldpost des Zweiten, aber auch des Ersten Weltkrieges zu nennen ebenso wie Bernd Ulrichs bahnbrechende Studie Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914–1933, Essen 1997.

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