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Titel
Arbeit am Welträtsel. Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900


Autor(en)
Leber, Christoffer
Reihe
Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit 17
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Neef, Religionswissenschaftliches Institut, Universität Leipzig

Die vorliegende Arbeit, eine am Münchner bzw. Internationalen Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“ entstandene Dissertation, verbindet fruchtbar zwei gegenwärtig produktive Forschungsfelder: die Bestimmungen von Religion und Säkularität als aufeinander bezogene Größen und die historische Beforschung säkular(istisch)er Akteur:innen und Diskurse. Dabei fokussiert die Arbeit die gesellschaftlichen Selbst- und Fremdpositionierungen der nach 1900 florierenden Monistenbewegung in einem Kristallisationspunkt: „Wie positionierten sich Monisten zur Religion, welche Auffassungen von Säkularität vertraten sie und welche Rolle spielte naturwissenschaftliches Wissen in ihrer Argumentation?“ (S. 15) Diese Auslotung geschieht auf Grundlage eines breiten Korpus aus publizierten Quellen und Archivalien sowie in der ausführlichen Bezugnahme auf die Forschungsliteratur. Dabei gelingt zweierlei: Zunächst werden die vielen, in der Arbeit angesprochenen Teildiskurse in ihren jeweils prävalenten Fachdiskursen historisiert und analysiert. Zugleich aber werden diese dann auch synoptisch zusammengesetzt und als monistische Kulturdebatte miteinander in Beziehung gesetzt.

Die einführende Rahmung erfasst die im Titel bezeichnete Monistenbewegung zweifach: Die Entscheidung für den Terminus „Bewegung“ trägt der Unschärfe des Monismusbegriffs Rechnung, denn das Phänomen bezeichnet sowohl eine Geisteshaltung als auch ein soziales Phänomen – es ist ideengeschichtlich wie auch sozialgeschichtlich erfassbar. Die Forschungsgeschichte zeigt diese Dichotomie deutlich. Der Bewegungsbegriff ermöglicht nun eine Integration, die sowohl die über die unmittelbaren Akteur:innen hinausgehende Wirkungsgeschichte als auch die sozialen Formationen als diskursives Zentrum zu erfassen vermag. Hernach wird die so gewonnene Monistenbewegung historisch (S. 47–98) in die Entwicklungen des langen 19. Jahrhunderts platziert: sozial auf der freireligiösen Bewegung und ideell auf dem naturwissenschaftlichen Materialismus fußend. Protagonisten aber sind Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald, Präsidenten des Deutschen Monistenbundes (DMB) und durchaus zeitgenössische Berühmtheiten, deren weltanschauliche Positionen als allgemein bekannt gelten können – und das obwohl der Bund selbst nie mehr als 6000 Mitglieder hatte, also numerisch recht klein blieb. Denn nach wie vor ist Olaf Breidbachs Einschätzung zutreffend: „Es galt für einen Intellektuellen nach 1906 schlicht zu begründen, warum er nicht Monist war.“1

Diese Relevanz ist darauf zurückzuführen, dass die Monistenbewegung es vermochte, verschiedene Themen und Positionen aufeinander zu beziehen und in die eigene Agenda zu integrieren, so dass sie als Partikularanzeigen eines geschlossenen Programms erschienen. Diese Vielfalt wird z.B. deutlich in der zweiten Riege der Protagonist:innen: Wilhelm Bölsche, Emil Dosenheimer, Carl Jatho, Friedrich Jodl, Albert Kalthoff, Franz Carl Müller-Lyer und Helene Stöcker. Mit ihnen eröffnet sich ein weites thematisches Feld von Lebensreform, Rechtsreform, Reformprotestantismus, Moralphilosophie, Sozialtechnologie und Frauenbewegung. Dabei war das Feld, das der DMB unter der Ägide Ostwalds ab 1911 als „monistische Kulturaufgaben“ deklarierte, bekanntlich noch weiter, so dass sowohl unter Zeitgenoss:innen als auch unter Historiker:innen durchaus Fragen aufkamen: erstens wie all diese Themen überhaupt zu integrieren seien und zweitens was denn dann den Monismus noch wesenhaft ausmache. Beide Fragen verbindet die Arbeit zu einem stimmigen Befund: Der Monismus sei eben nicht im Kern bestimmbar, vielmehr oszillierten die Positionen des Bundes, seiner Vorstände und seiner Publizistik zwischen mehreren Polen. Der (Selbst-)Bezug zu Religion stellt dieses Oszillieren paradigmatisch dar. Das lag einerseits am Religionsbegriff selbst: Religion war um die Jahrhundertwende ein zentrales, „essentially contested concept“ (S. 32), an dem nicht nur säkularistische, sondern auch politische, kulturelle und nicht zuletzt religiöse Kräfte ihre Positionierung positiv wie negativ schärften. Auch die zeitgenössische Entstehung der Religionswissenschaft als akademische Disziplin zeigt sowohl das allgemeine Interesse am Konzept als auch die allgemeine Unsicherheit über dessen Bedeutung.2 Andererseits spiegelt dieses Changieren die internen Verständnisdifferenzen, was im historischen Verlauf zusätzliche Diversifizierung erfährt – allein im Jahrzehnt zwischen DMB-Gründung 1906 und Kriegsausbruch zeigen sich massive positionelle und konzeptuelle Verwerfungen.

Diesen Verwerfungen geht die Arbeit in drei historisch satten Kapiteln nach, deren Leitperspektive die Betrachtung der Grenzziehungsprozesse von Religion und Säkularität ist: Als Grenzbestimmung (S. 99–182) versteht sich die monistische Auslotung der Positionierung zu den bestehenden Religionsgemeinschaften. Während die negative, die Kulturkampfnarrative fortführende Einschätzung des Katholizismus (als unmodernes Gegenüber par excellence) und die distanziert-positive Betrachtung des Judentums (als potentielles Rekrutierungsfeld künftiger Monist:innen) innerhalb des Feldes recht unbestritten und auch klar an nationale Integrationsstrategien anschließbar war, zeigt sich in der Positionierung zum Protestantismus ein unklarer Befund. Die Monismusbewegung schwankte zwischen generellem Antiklerikalismus bzw. einem Selbstverständnis als post-religiöse Vergemeinschaftungsform und einer Selbsteinschreibung in national-protestantische Narrative bzw. einem Selbstverständnis als Fortführung der reformatorischen Tradition. Generell verdichtete sich diese Unsicherheit in der Frage, ob man sich als Teil des religiösen Feldes verstand und gleichsam als „vierte Konfession“ (Todd Weir) das Feld modernisierte oder ob man den Monismus eben nicht als Teil des religiösen Feldes sah und entsprechende Abgrenzungsstrategien (wie die Ablehnung religiös konnotierter Sprache oder Riten) performierte. Die Bewegung als Ganzes fand hier keine eindeutige Antwort – auch weil sich aus der unterschiedlichen Beantwortung dieser Frage unterschiedliche Handlungsoptionen ergaben, wie die folgenden beiden Kapitel ausführen.

Als Grenzforderungen (S. 183–258) und Grenzverschiebungen (S. 259–352) werden intensiv verschiedene Themen der monistischen Publizistik bzw. Ansatzpunkte der Bewegung rekonstruiert: die Trennung von Staat und Kirche, Konfessionslosigkeit, weltlicher Eid und Religionsunterricht/weltliche Schule einerseits sowie weltliche Ethik, Sexualreform, Sterbehilfe und Feuerbestattung andererseits. Während das erstgenannte Kapitel also vor allem politische Fragen nach der Formierung der staatlichen Sphäre adressiert, fokussiert letzteres ethische Fragen des individuellen Nahbereichs – wobei natürlich beide überlappen: Die Frage des weltlichen Eides berührt, wenn es um die Einstellungsfähigkeit konfessionsloser Bürger:innen geht, auch individuelle Karrierewege, so wie Fragen der Sexualethik maßgeblich über eherechtliche Normen oder Staatsbürgerinnenrechte verhandelt wurden. Grenzziehungen einzufordern ist hier also zu lesen als Anspruch, die historisch entstandenen und somit oft unhinterfragten unklaren Grenzen zwischen Religion und einem als säkular verstandenen Staat genau zu bestimmen und so dezidiert Räume für konfessionslose Bürger:innen zu kreieren. Grenzverschiebungen dagegen zielen auf die Neuvermessung des zentralen, von der religiösen Hegemonialkultur bestimmten diskursiven Raums, die Ethik, indem man säkulare (und das heißt vor allem szientistische, naturwissenschaftlich gerahmte) Alternativnarrative produzierte und popularisierte. Besonders im Falle der radikalen Frauenbewegung, repräsentiert durch Helene Stöcker und den Bund für Mutterschutz, werden die (angestrebten und eingelösten) Potentiale dieser Neujustierung deutlich: Einerseits verschaffte der Transfer in szientistische Sprachfiguren und Logiken den (radikal)feministischen Programme und Forderungen einen alternativen, nicht-christlichen theoretischen Unterbau und begründete somit deren Anspruch auf Empirizität und Legitimität; andererseits gelang es durch diesen Transfer, (radikal)feministische Positionen für das freigeistige Milieu zu eröffnen und eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse darin zu einem weitverbreiteten Anspruch zu machen (wobei dessen Umsetzung ein anderes Thema darstellt).

Historisch bietet die Arbeit nicht nur eine Zusammenschau des heterogenen Forschungsstands zur monistischen Bewegung, sondern sie ermöglicht es durch die Synthese und Anordnung der unterschiedlichen Teildebatten, die Bewegung als relevante und sinnigerweise auch paradigmatische Akteurin in der Hochmoderne zu erfassen. Dies macht die Studie darüber hinaus auch theoretisch fruchtbar, denn die Aushandlung von Religion und Säkularität erscheint so in einem konkreten, komparativ anschließbaren Rahmen (z.B. den im auch Band thematisierten Multiple Secularities) und reflektiert ebenso die Unabgeschlossenheit dieser Verhandlung, in der nicht nur Religion und Politik, sondern auch Wissenschaft als aktive Größen auftreten.

Anmerkungen:
1 Olaf Breidbach, Monismus, Positivismus und „deutsche Ideologie“, in: Walburga Hülk / Ursula Renner (Hrsg.), Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 55–70, hier S. 55.
2 Immer noch grundlegend: Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. Weiterhin unter direkter Betrachtung des weltanschaulich produktiven Feldes: Kocku von Stuckrad, The Scientification of Religion. An Historical Study of Discursive Change, 1800–2000, Boston 2014.