K. Richter: Fragmentation in East Central Europe

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Title
Fragmentation in East Central Europe. Poland and the Baltics, 1915–1929


Author(s)
Richter, Klaus
Published
Extent
XII, 355 S.
Price
£ 70.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Agnes Laba, Bergische Universität Wuppertal

In den nationalen Historiographien zu Polen und den drei baltischen Staaten werden der Erste Weltkrieg, der Zusammenbruch der Imperien und die (Wieder-)Erringung staatlicher Eigenständigkeit überwiegend als Wegmarken nationaler Erfolgsgeschichten beschrieben.1 Die Tatsache, dass der Zusammenbruch der Imperien nicht nur die Errichtung von zahlreichen neuen Staatsgebilden zur Folge hatte, sondern auch die Fragmentierung von politischen und wirtschaftlichen Einheiten und Bevölkerungszusammenhängen bedeutete, findet in diesen Narrativen kaum Beachtung. Diesem Problemkomplex widmet sich Klaus Richter in seinem Buch. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Konsequenzen der Fragmentierung in Folge des Ersten Weltkriegs für Polen und die drei baltischen Staaten; Seitenblicke auf Danzig und Ostpreußen ergänzen diesen Fokus.

Während Fragmentierung häufig als abrupter Bruch konzeptualisiert wird, versteht Richter diese als „a gradual process of breaking and reconfiguring networks of economic, political, social, and cultural exchange“ (S. 3). Vor diesem Hintergrund rückt für ihn die Analyse jener Politikfelder in den Fokus, die den Bruch dieser Verbindungen mildern sollten, diesen jedoch gleichzeitig unumkehrbar machten. Richter versteht seine Geschichte der Fragmentierung als eine „international history“. Das Buch bietet somit keinen strukturellen Vergleich Polens und der drei baltischen Staaten, sondern beleuchtet in sechs Kapiteln, die jeweils mit dem Weltkrieg und dem Kollaps der Imperien beginnen, verschiedene Auswirkungen der Fragmentierung und zeigt dabei die Verwobenheit der betrachteten Regionen auf. Der Zugriff erfolgt somit auf verschiedenen Ebenen und umfasst sowohl nationale (z.B. Regierungen, Botschaften) als auch internationale Akteure. Dies spiegelt sich auch in einer breiten und vielsprachigen Quellenbasis wider.

Die so genannten „kleinen Staaten“ Polen und die drei baltischen Staaten standen in diametralem Widerspruch zu den am Vorabend des Ersten Weltkriegs vorherrschenden geopolitischen Überzeugungen, dass die Welt zunehmend in einige wenige von Großmächten beherrschte Großräume aufgeteilt sei. Das deutsche „Mitteleuropa“-Projekt müsse in diesem Kontext als Versuch einer Integration (unter deutscher Vorherrschaft) gelesen werden, die jedoch wegen fehlender politischer Zugeständnisse nicht gelang. Zudem befeuerte insbesondere der antipolnische Charakter des Systems von Brest-Litowsk den Antagonismus zwischen den Nationalbewegungen, was sich später in andauernden Konflikten zwischen den neuen Staaten fortsetzen sollte.

In Bezug auf die Bevölkerungsstrukturen (Kapitel 3) zeichnet Richter nach, wie bereits während des Krieges eine Nationalisierung vormals multiethnisch geprägter Bevölkerungszusammenhänge vorangetrieben wurde. Evakuierungen und Deportationen ganzer Bevölkerungsgruppen sollten während des Rückzugs der russischen Truppen mögliche Aufstände eindämmen und die multiethnische Peripherie russifizieren. Im Regentschaftskönigreich Polen und Kurland betraf das vor allem Juden und Baltendeutsche. Kurland verlor auf diese Weise etwa die Hälfte und Litauen ein Drittel seiner Vorkriegsbevölkerung (S. 60f.). Die Repatriierungsmaßnahmen der deutschen Behörden nach dem Frieden von Brest-Litowsk verschärften diese Entwicklung weiter. Nicht nur wurden bestimmte ethnische Gruppen (allen voran Deutsche) bevorzugt; Richter zeigt auch auf, wie die Repatriierungen in Umsiedlungen im Sinne eines „territorial and social engineering“ mündeten.

Das Ergebnis waren chaotische Zustände, bei denen sich tausende Menschen fern ihrer Heimatorte, getrennt von ihren Familien und ihrem Eigentum wiederfanden, in Quarantänestationen festsaßen und sogar gezielt an einer Rückkehr gehindert wurden. Die neu entstehenden Staaten knüpften an diese vorgefundene Situation an: Während Demarkationslinien undurchlässiger wurden, fanden Repatriierungen und die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen und Staatsbürgerschaften nun vorrangig anhand ethnischer Kriterien statt. Wie Richter herausarbeitet, wurde Staatsbürgerschaft in den Nachfolgestaaten der Imperien exkludierender gehandhabt als zuvor, was die Entstehung großer Gruppen von Staatenlosen zur Folge hatte (S. 83).

Der größte Teil des Buches ist der Fragmentierung ökonomischer Strukturen gewidmet (Kapitel 4–7), wobei sowohl die Perspektiven Polens und der baltischen Staaten als auch der am Handel mit diesen Ländern interessierten Staaten eingenommen werden. Zunächst zeichnet Richter nach, wie aus Regionen, die während des Ersten Weltkriegs wirtschaftlich ausgebeutet wurden, selbstständige Akteure des internationalen Handels wurden, die eigene Strategien für Handelsbeziehungen entwickelten. Während des Krieges hatten das Generalgouvernement Warschau und vor allem das unter Militärverwaltung stehende „Ober Ost“ als Ressourcenlieferanten von Holz und Flachs für das Kaiserreich gedient. Nach der deutschen Niederlage ging die Kontrolle über die Ressourcen im vormaligen Generalgouvernement relativ reibungslos an den neuen polnischen Staat über, wohingegen die Gemengelage im Gebiet des vormaligen „Ober Ost“ höchst umstritten war (S. 160). Sehr kleinteilig beschreibt Richter die zahlreichen Akteure, die nach der deutschen Niederlage versuchten, Einfluss auf Ressourcen und ihre wirtschaftliche Ausschöpfung zu gewinnen, und Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den neuen Staaten aufzubauen. Neben Deutschland war dies Großbritannien, das zu einem wichtigen Akteur wurde. Auf polnischer und litauischer Seite wurde das deutsche und vor allem britische Engagement im Laufe der 1920er-Jahre jedoch zunehmend als Gefährdung der staatlichen Eigenständigkeit und als Ausbeutung nationaler Ressourcen wahrgenommen (S. 173–183). Ähnliche Wahrnehmungen weiteten sich zunehmend auch auf vermeintlich „disloyale“ Gruppen im Innern aus, zu denen vor allem Juden gezählt wurden (S. 184).

Infolgedessen wurden staatliche Interventionen in Wirtschaft und Handel zu festen Bestandteilen der Wirtschaftspolitik in Polen und den baltischen Ländern der Zwischenkriegszeit, wie Richter weiter ausführt. Diese hatten ihre Wurzeln in der Zeit der Unabhängigkeitskriege, wurden jedoch auch über die 1920er-Jahre hinweg aufrechterhalten. Wirtschaftlichen Liberalismus sah man dabei als Ausdruck von Rückständigkeit an, wie sie im Habsburgerreich und dem Russischen Zarenreich geherrscht habe (S. 217). Der polnische „etatyzm“ und seine baltischen Pendants waren somit Instrumente des „empowerments“ der jeweiligen Titularnationen (S. 214).

Wirtschaftliche Beherrschung sollte aber auch territoriale Legitimität demonstrieren. So war der staatlich geförderte Ausbau des Hafens von Gdynia nicht nur als Gegenpol zum Danziger Hafen angelegt, sondern sollte durch die wirtschaftliche Nutzbarmachung des so genannten „Korridors“ dessen rechtmäßige Zugehörigkeit zum polnischen Staat bestätigen (S. 227–230). Am Beispiel der Ostseehäfen Danzig, Gdynia und Memel/Klaipėda zeigt Richter schließlich, wie sich die fragmentierten ökonomischen Strukturen in der Region durch eine Rekonfigurierung wirtschaftlicher Verbindungen veränderten. Zugleich arbeitet er ihre fortbestehende wechselseitige Abhängigkeit heraus: Der wirtschaftliche Niedergang Klaipėdas bestärkte die polnischen Pläne für den Ausbau Gdynias als polnischen Haupthandelshafen. Der Niedergang der Holzproduktion in der Region um Klaipėda wiederum verhalf Danzig, zum neuen Hauptumschlagplatz für den Holzhandel zu werden.

Zuletzt widmet Richter sich den Landreformen, die in Ostmitteleuropa und dem Baltikum aufgrund der Überlappung sozioökonomischer Strukturen und ethnischer Konflikte zu nationalpolitischen Instrumenten der neuen Staaten avancierten. Sowohl in Polen als auch in den baltischen Staaten wurden sie genutzt, um die Titularnationen zu stärken (S. 255). Richter verweist darauf, dass die Politisierung von Landreformen bereits unter deutscher Besatzungsherrschaft während des Weltkriegs eingesetzt hatte. Nicht nur hatten die Enteignungen und die zum Teil rücksichtslose Demontage der Infrastruktur (S. 258) die Einstellungen zum Schutz des Eigentums nachhaltig verändert (S. 256); zugleich wurde die Verfügungsgewalt des Staates über Landbesitz verstärkt mit territorialer Souveränität zusammengedacht. Dies ermöglichte es den neuen Staaten, Landreformen in historische Narrative über die Wiedergutmachung von früherem, nunmehr als unrechtmäßig bewertetem „territorial engineering“ einzuschreiben (S. 272).

Alles in allem zeigt Richter in seiner Studie auf überzeugende Art und Weise auf, dass der Prozess der Fragmentierung in Polen und den drei baltischen Staaten bereits während der Kriegsjahre eingesetzt hat. Er kann durchgängig belegen, dass der Erste Weltkrieg bzw. die Politik der Besatzungsmacht die Prozesse in der Zwischenkriegszeit bedingt, gerahmt und teilweise überhaupt erst möglich gemacht haben. Ferner legt Richter eine dichte und detailreiche integrierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte Polens und des Baltikums während des Ersten Weltkriegs und bis 1929 vor. Dies erweist sich als überaus fruchtbarer Zugriff, da Richter immer wieder die Verwobenheit der politischen Legitimität der neu errichteten Staaten nach innen und nach außen mit ihrer Wirtschaftspolitik aufzeigen kann. Für die Historiographie zum Ersten Weltkrieg und seinen Folgen eröffnet das Buch so wichtige neue Perspektiven.

Anmerkung:
1 Erez Manela, Wilsonian Moment. Self-determination and the international origins of anticolonial nationalism, Oxford 2009; Borislav Černev, Twilight of Empire. The Brest-Litovsk Conference and the remaking of East-Central Europe, 1917–1918, Toronto 2017.

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