Cover
Titel
Tabu, Trauma und Identität. Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960–2015


Autor(en)
El Bulbeisi, Sarah
Reihe
Histoire 174
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joseph Ben Prestel, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

In den vergangenen Jahren sind verschiedene Initiativen mit dem Ziel entstanden, palästinensische Geschichte zu dokumentieren. Das Palestinian Oral History Archive an der American University of Beirut, das Projekt The Palestinian Revolution an der Universität Oxford oder The Palestinian Poster Project Archives haben dabei zahlreiche neue Dokumente, Interviews und Kunstwerke der Forschung zugänglich gemacht. Besonders vor dem Hintergrund eines fehlenden palästinensischen Nationalarchivs für die Zeit vor 1993 ist diese Entwicklung bedeutsam.

Sarah El Bulbeisis Arbeit reiht sich ein in solche Initiativen zur Dokumentation palästinensischer Geschichte. Hervorgegangen ist das Buch aus einer Dissertation in Islamwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Tabu, Trauma und Identität“ erzählt die Geschichte und Gegenwart von PalästinenserInnen und deren Kindern, die zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren in die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz eingewandert sind. Mit diesem Fokus leistet die Studie wichtige Pionierarbeit: Die palästinensisch deutsche und die palästinensisch-schweizerische Geschichte haben noch kaum Eingang in die Forschung gefunden. Während sich zahlreiche Studien etwa mit den Beziehungen der deutschen radikalen Linken zu palästinensischen Gruppen in den 1960er- und 1970er-Jahren beschäftigen, haben HistorikerInnen die palästinensische Diaspora in Westdeutschland bisher nur spärlich analysiert. Da El Bulbeisis Buch auf einer Reihe von Oral-History-Interviews aufbaut, bietet es auch Quellenmaterial für zukünftige Untersuchungen.

In der 50-seitigen Einleitung steckt die Autorin den thematischen, methodischen und theoretischen Rahmen der Arbeit ab. Gleich zu Beginn macht sie deutlich, dass „diskursive Gewalt“ gegen PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses steht. El Bulbeisi argumentiert, dass Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, die PalästinenserInnen seit 1948 erlebt hätten, in den Aufnahmeländern nicht anerkannt wurden. Darauf aufbauend stellt sie die Frage, wie sich PalästinenserInnen im Angesicht einer solchen Nichtanerkennung als Subjekte entworfen hätten. Zur Beantwortung fokussiert sie auf zwei Generationen: PalästinenserInnen, die vor ihrer Ankunft in der Schweiz und in Westdeutschland selbst Flucht und Gewalt erfahren haben, und deren Kinder, die zum größten Teil in Westeuropa geboren und aufgewachsen sind. Die Auswahl der beiden Länder für die Untersuchung leitet El Bulbeisi aus der Tatsache ab, dass in der Bundesrepublik mit heute circa 80.000 Menschen die vermutlich größte palästinensische Diaspora in Europa lebt. Im Fokus auf die Schweiz sieht die Autorin einen „regionalen Forschungsbeitrag“ (S. 55).

Methodisch greift El Bulbeisi auf 39 Oral-History-Interviews zurück, die sie zwischen 2010 und 2015 geführt hat. Ergänzt werden die Interviews durch teilnehmende Beobachtungen der Autorin von 2014 und 2015. Theorie hat einen zentralen Platz in der Einleitung. Vor allem psychoanalytische und postkoloniale Ansätze bestimmen El Bulbeisis Zugang zu ihrem Material, wobei insbesondere Texte von Sigmund Freud, Frantz Fanon, Achille Mbembe und Judith Butler diskutiert werden. Dieser Rahmen ist hilfreich, um Konzepte wie Trauma und Subjektkonstruktion ebenso wie die psychoanalytische Lesart der Autorin besser zu verstehen. Stellenweise droht jedoch eine theoretische Überfrachtung, die vom Thema und dem empirischen Material eher wegführt.

Das zweite Kapitel widmet El Bulbeisi auch einer kurzen Darstellung palästinensisch-israelischer Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz. Im Rückgriff auf Arbeiten der „neuen israelischen Historiker“, insbesondere Ilan Pappe, betont die Autorin Gewalt- und Vertreibungserfahrungen von PalästinenserInnen im Rahmen der israelischen Staatsgründung und der Nakba. Diese Erfahrungen, so El Bulbeisi, würden in der Schweiz und der Bundesrepublik ausgeblendet. Stattdessen dominiere eine moralische Erzählung, in der PalästinenserInnen lediglich als Täter vorkommen. Eine solche Sicht speise sich auch durch die Vorstellung, dass die Flucht aus dem ehemaligen Mandatsgebiet selbstverschuldet oder freiwillig erfolgt sei. Die Dominanz dieser Erzählung habe schließlich zu einer Nichtanerkennung und einem gesellschaftlichen Ausschluss von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz geführt, den die Autorin als diskursive Gewalt bezeichnet.

Die Frage, wie Palästinenser, die zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren nach Westdeutschland und in die Schweiz kamen, über diese Nichtanerkennung sprechen, steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels. El Bulbeisi sieht bei ihren Gesprächspartnern (aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Migration handelt es sich hier fast ausschließlich um Männer) den Wunsch nach Anerkennung durch die Aufnahmegesellschaften. Die Verweigerung dieser Anerkennung habe unter anderem zu Gefühlen der Schuld an der eigenen Geschichte geführt. Das Festhalten der ersten Generation am Palästinenser-Sein in Westdeutschland und der Schweiz interpretiert El Bulbeisi im Rückgriff auf ein klassisches Konzept der palästinensischen Geschichte als „inneren sumud“ (Standhaftigkeit). Im vierten Kapitel führt die Autorin weiter aus, dass Nichtanerkennung und wahrgenommene Unsichtbarkeit die Herausbildung einer eigenen Subjektivität in der ersten Generation unmöglich gemacht hätten. Gefühle von Scham, Schuld und Angst hätten zu einer traumatischen Existenz geführt, zu einem „Leben in Verneinung, Unsichtbarkeit und Abwesenheit [...], der Schuld nach innen, und Selbstverneinung nach außen“ (S. 211).

Das fünfte Kapitel widmet sich dem Verhältnis zwischen der ersten Generation von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz und ihren Kindern. El Bulbeisi argumentiert, dass „die Väter durch ihre emotionale Abwesenheit“ (S. 213) eine psychische Leerstelle hinterlassen hätten. Das Trauma der Väter sei auf die zweite Generation übertragen worden. Auch dieser Generation ging es um eine Anerkennung der palästinensischen Geschichte, die sie in der deutschen und schweizerischen Gesellschaft nicht fand. Schließlich habe die öffentliche Auseinandersetzung um die „Gaza-Offensive“ 2014 zu einer „Bewusstseinswerdung“ der zweiten Generation geführt (Kap. 5.2.1). Die Nichtanerkennung palästinensischen Leids habe sie nun als Rassismus interpretiert und sich fortan klar als PalästinenserInnen in der Öffentlichkeit zu erkennen gegeben.

Im Schlusswort wird erläutert, wie deutsche und schweizerische Geschichte mit der Geschichte von PalästinenserInnen in anderen europäischen Ländern, etwa in Dänemark, in Austausch treten kann. Die Autorin plädiert dafür, palästinensische Geschichte in ihren Verflechtungen als Teil der europäischen Geschichte zu verstehen. El Bulbeisi schließt mit der Beobachtung, dass durch den genaueren Blick auf PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz deren Geschichte nicht einfach als peripher erscheint. Vielmehr könne diese Geschichte eine Debatte über die Mitverantwortung Westeuropas für palästinensische Leidenserfahrungen anstoßen.

Die Studie liefert viele neue und wichtige Einsichten. Hierzu gehört etwa die zum Teil sehr unterschiedliche Zusammensetzung und Erfahrung von PalästinenserInnen, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland einwanderten, und jenen, die als Flüchtlinge aus dem Libanon in den 1980er-Jahren kamen. Waren es in früheren Jahrzehnten vor allem Männer, die zum Studium oder zur Arbeit migrierten und oft gutbezahlte Jobs fanden, kam die spätere Gruppe als AsylbewerberInnen und war mit der prekären „Kettenduldung“ einer dauerhaften rechtlichen Unsicherheit ausgesetzt, die zu ihrer Marginalisierung beitrug. El Bulbeisi leistet hier Pionierarbeit, indem sie Einblicke in die Geschichte einer heute viel diskutierten Migration bietet, die historisch bisher kaum erforscht ist. Das Buch hätte an dieser Stelle noch von der Einbeziehung älterer Arbeiten zur palästinensischen Diaspora in West-Berlin profitiert, insbesondere der Dissertation von Dima Abdulrahim.1

In der historischen Darstellung werden schließlich auch Probleme deutlich. Besonders die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel stellt die Autorin als übermäßig harmonisch dar. Studien zur Geschichte des Anti-Zionismus und Antisemitismus in Westdeutschland zeichnen hingegen ein anderes Bild. So weist die Forschung zum Luxemburger Abkommen von 1952 etwa deutlich auf die Verbreitung antisemitischer und anti-israelischer Haltungen in der frühen Bundesrepublik hin.2 Auch die Geschichte der Solidaritätsbewegung mit PalästinenserInnen nach 1967, die El Bulbeisi am Rande erwähnt, zeigt zahlreiche kontroverse Debatten über das Dreiecksverhältnis zwischen deutscher, israelischer und palästinensischer Geschichte. Gerade der Vergleich dieser wechselhaften Geschichte mit der palästinensischen Erinnerung an eine dauerhafte Nichtanerkennung hätte neue Fragen eröffnet. Sahen sich PalästinenserInnen in der Solidaritätsbewegung nicht vertreten? Wurde die Bewegung als so marginal empfunden, dass sie ohne Auswirkungen blieb? Oder ist die Erinnerung von einer zunehmenden Enttäuschung der Solidaritätsbewegung seit den späten 1970er-Jahren geprägt?

Ähnliche Fragen wirft auch der räumliche Zuschnitt auf. So wird nicht hinreichend klar, warum es sich lohnt, die Schweiz und die Bundesrepublik gemeinsam zu untersuchen. An vielen Stellen wirken beide Kontexte beinahe austauschbar, und man könnte fragen, ob sich überhaupt wichtige Unterschiede zwischen ihnen feststellen lassen. Die Konstellation der beiden deutschen Staaten, die auf einen wichtigen Unterschied hinweisen könnte, wird lediglich angeschnitten und taucht im Anhang in Form einer Fotoserie zu PalästinenserInnen in der DDR von Mahmoud Dabdoub aus den 1980er-Jahren auf. Auch andere räumliche Begriffe wirken unscharf. Ob es sich beispielsweise bei „westeuropäisch-nordatlantische[n] Diskursen“ (S. 75), der „europäischen Öffentlichkeit“ (S. 123) und der „westlichen Öffentlichkeit“ (S. 154) um das gleiche Phänomen handelt – und welche räumlichen Zuschreibungen hinter diesen Begriffen stecken –, bleibt offen. Dass Unterschiede wichtig sind, zeigt etwa das Argument, dass eine „europäisch-nordatlantische Historiographie“ palästinensische Geschichte ausgegrenzt habe (S. 230). Gerade für die USA ist diese Aussage indes wenig überzeugend. Hier erscheint etwa seit 1971 das „Journal of Palestine Studies“, und ein Verlag wie Stanford University Press hat zahlreiche Studien zur palästinensischen Geschichte veröffentlicht.3

Nicht zuletzt sind einige der im Buch verwendeten Begriffe äußerst umstritten. Die Sprache von „Siedlerkolonialismus“ und „Apartheid“ mit Bezug auf Israel und Palästina hat in jüngster Zeit zu großen Kontroversen geführt. El Bulbeisi argumentiert, dass eben jene Begriffe für die politische Mobilisierung der zweiten Generation der palästinensischen Diaspora zentral seien. Damit macht sie auch deutlich, dass im Streit um diese Begriffe palästinensische Stimmen in die Diskussion einbezogen werden sollten. Es ist eines der Verdienste von Sarah El Bulbeisis Buch, solchen Stimmen Gehör zu verschaffen.

Anmerkungen:
1 Dima Abdulrahim, From Lebanon to West Berlin. The Ethnography of the Tal Al Za‘tar Palestinian Refugee Camp, Dissertation University of Exeter 1990. Siehe auch Ralf Ghadban, Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin. Zur Integration ethnischer Minderheiten, Berlin 2000, 2. Aufl. 2008.
2 Vgl. Yeshayahu A. Jelinek, Deutschland und Israel 1945–1965. Ein neurotisches Verhältnis, München 2004, S. 56–64, S. 242–250.
3 Vgl. z.B. Maha Nassar, Brothers Apart. Palestinian Citizens of Israel and the Arab World, Stanford 2017; Sherene Seikaly, Men of Capital. Scarcity and Economy in Mandate Palestine, Stanford 2016; Ilana Feldman, Police Encounters. Security and Surveillance in Gaza under Egyptian Rule, Stanford 2015.