G. Gahlen u.a. (Hrsg.): Nerven und Krieg

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Titel
Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland (1900–1939)


Herausgeber
Gahlen, Gundula; Gnosa, Ralf; Janz, Oliver
Reihe
Krieg und Konflikt 10
Erschienen
Frankfurt 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
428 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Becker, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Was benötigen Kriegsparteien, um Kriege zu gewinnen? Die Reflexion dieser Frage ist so alt wie die Geschichte des Krieges. Die Liste der Antworten, die hierauf gegeben wurden, hat eine beträchtliche Länge. Man sollte bessere Waffen besitzen als der Gegner, besser geführt und geübt sein, die bessere Strategie und Taktik verfolgen, stärker motiviert sein und am Ende noch das Glück oder die Götter auf seiner Seite haben. Im Ersten Weltkrieg kam ein weiteres Kriterium hinzu: die Stärke der Nerven. Gerade an der durch Belgien und Frankreich verlaufenden Front lagen sich Millionen von Soldaten jahrelang in Schützengräben gegenüber und waren durch Artilleriefeuer, aber auch durch gezielten Infanteriebeschuss ständiger Lebensgefahr ausgesetzt. Hinzu kam die Angst vor einem qualvollen Erstickungstod durch Verschüttung und vor Verstümmelungen, die das weitere Leben in schrecklicher Weise überschatten würden. Diese Situation erzeugte eine extreme nervliche Belastung. Die Involvierung der Heimatfront in den Krieg ließ weitere Teile der Bevölkerung in bisher nicht gekannter Weise unter psychischen Druck geraten: durch die Sorge um Angehörige, aber auch durch erhöhte Arbeitsanforderungen und den täglichen Kampf gegen den Hunger. Diese Involvierung der Massen machte die nervliche Belastbarkeit zu einem für den Kriegsausgang höchst relevanten Faktor. Es ging um die Nervenstärke ganzer Nationen. Sie wurde zum Thema für Militär, Politik und (medizinisch-psychiatrische) Wissenschaft, aber auch für die öffentliche und private Kriegsdeutung.

Trotz dieser unabweisbaren Relevanz ist das Thema „Krieg und Nerven“ von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt worden. Jedenfalls fehlt es an Studien, die die Bereiche Militär, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kriegsdeutung nicht isoliert, sondern in ihren Wechselwirkungen analysieren. Außerdem kamen bisher die langen Linien nur unzureichend in den Blick, die von der „Entdeckung“ der Neurasthenie um 1900 über den Ersten Weltkrieg hinweg bis an den Vorabend des Zweiten Weltkriegs heranreichen. Beiden Desiderata widmete sich eine Tagung, die im Oktober 2017 an der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde und deren Ergebnisse der vorliegende Band präsentiert. Die Beiträge werden dabei in drei Rubriken eingeteilt: Teil I behandelt „Medizinische Diskurse über Nerven und Krieg“, Teil II die „Nerven der Kriegsteilnehmer an Front und Heimatfront 1914-1918“ und Teil III „Fortwährende Leiden, Nervendiskurse und mediale Deutungsmuster in der Nachkriegszeit“.

Zuvor betonen die drei Herausgeber/innen in ihrer Einführung, dass sie das Thema Nerven und Krieg keineswegs auf eine historische Sachanalyse von psychischen Erkrankungen unter den Bedingungen des Krieges begrenzt sehen wollen. Wenn die Zeitgenossen von „Nerven“ sprachen, handelte es sich hierbei weit mehr um eine Chiffre bzw. ein Konstrukt, mit dem Kriegsdeutungen und Kriegserfahrungen verhandelt wurden. Verschiedene Akteure benutzten das Thema, um daran ihre je eigenen Sichtweisen und Interessen anzuknüpfen bzw. diese mit einem neuen Argument zu stützen. Insofern wanderten die Nervendiskurse von einem sozialen Feld zum anderen – und zurück. Besonders unterstrichen wird von den Herausgeber/innen auch, dass der Nervendiskurs nicht nur auf die Front bezogen war, sondern ebenso die Heimat, ja in Friedenszeiten den gesamten „Volkskörper“, wie es zeitgenössisch hieß, betraf.

Aus der ersten Rubrik des Bandes ragen die Beiträge von Bernd Ulrich und Joachim Radkau heraus, die die Thematisierung der Nervenschwäche bis in die Zeit der Jahrhundertwende zurückverfolgen. Ulrich zeigt auf, dass für diese Schwäche von der Medizin vor allem vier Ursachen verantwortlich gemacht wurden: erstens eine permanente („Überforderung“) oder punktuelle („Exzess“) Überanstrengung, zweitens ein einmaliger Schock mit traumatisierender Wirkung, drittens – mit Freud – eine sexuelle Hemmung und viertens eine Rückenmarksverletzung. Damit stand bereits ein Pool von Interpretationen zur Verfügung, aus dem in den Folgejahrzehnten geschöpft werden konnte. Und auch die Ausweitung der medizinischen Diagnose zur Beschreibung eines allgemeinen Zustands, in dem sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung befand, wurde im Kaiserreich bereits präfiguriert: Es seien die bürgerlichen Schichten, die besonders aktiv am modernen Leben teilhätten und deshalb Nervenschäden davontrügen. Bemerkenswert sind auch erste Begegnungen von Psychiatrie und Militär schon lange vor 1914; sowohl bei der Musterung als auch bei der Beurteilung von Männern, die sich unerlaubt von der Truppe entfernten.

Radkau ergänzt diese Beobachtungen, indem er einen grundlegenden Dissens bei der Therapie von Nervenschwäche beschreibt. Der Verordnung von Rückzug und Ruhe stand ein Konzept entgegen, das Aktivität empfahl, wenn sie dazu geeignet war, den Willen zu kräftigen – ein gestärkter Wille würde die Nerven künftig im Zaum halten. Außerdem zeigt Radkau die moralischen Implikationen der unterschiedlichen Erklärungen der Neurasthenie auf. Als Zeichen von Überarbeitung galt sie in bürgerlichen Kreisen, wie das Beispiel Max Weber demonstriert, als durchaus ehrenhafte Erkrankung; sexuelle Frustrationen hingegen wurden nur höchst ungern benannt. Ob Wilhelm II. allerdings tatsächlich auch deswegen in der Julikrise 1914 den Kriegseintritt Deutschlands forcierte, weil ihm in den Jahren zuvor, etwa im Eulenburg-Skandal, Nervenschwäche unterstellt worden war und er nun das Gegenteil beweisen wollte, mag dahingestellt bleiben.

Aus der zweiten Rubrik soll je ein Aufsatz zu den Frontsoldaten und zur Heimat herausgegriffen werden. Gundula Gahlen legt dar, dass Nervenerkrankungen bei deutschen Offizieren ernstgenommen, anerkannt und behandelt wurden. Der Vorwurf der Simulation, der bei Mannschaftssoldaten oft erhoben wurde, spielte hier keine Rolle. Die Offiziere mussten nicht einmal Karrierenachteile befürchten – vorausgesetzt, sie hielten während der Gefechte durch und begaben sich erst anschließend in Behandlung. Nur so konnte nämlich das Propagandabild vom deutschen Offizier aufrechterhalten werden, der seinen Feinden an Willensstärke überlegen war und damit den letztendlichen Sieg des Reiches garantierte.

Silke Fehlemann kommt aus gender- und emotionshistorischer Perspektive zu dem Befund, dass sich der Nervendiskurs in der zweiten Kriegshälfte fast nur noch auf Männer bezog, während die Probleme der Frauen an der Heimatfront über die Chiffre „Herz“ verhandelt wurden. Starke und treue Herzen sollten die Angst um die Angehörigen und die anderen Nöte des Krieges ertragen und mit dem eigenen „Durchhalten“ der Front den Rücken stärken. Öffentlich erfuhren die Trennung und das Warten, gerade zwischen Liebesleuten, aber auch zwischen Müttern und Söhnen, eine Romantisierung; der Schmerz angesichts von Todesnachrichten wurde zu „stiller“ bzw. „stolzer“ Trauer modelliert, die man von jenem Kontrollverlust abgrenzte, der, womöglich zur „Jammerei“ verstetigt, die Kampfmoral zu untergraben drohte. Dabei galt freilich, dass auch die weibliche Bevölkerung, wie die Kriegsgesellschaft insgesamt, durchaus gespalten war, es also auch ein Lager von „Scharfmacherinnen“ gab, das nur einen „Siegfrieden“ akzeptieren wollte.

In der dritten Rubrik stellen die Aufsätze von Thomas Beddies und Olga Lantukhova hoch interessante Bezüge zwischen Psychiatrie, Nervenkrankheit und Außenseitertum her. Beddies behandelt die Interpretation der Revolution von 1918/19 durch eine politisierte Psychiatrie, die in den Revolutionären Psychopathen zu erkennen meinte, die an die Spitze einer suggestiblen Masse traten, als deren vollständige Verunsicherung und Orientierungslosigkeit Außenseitern eine Chance gab. Nicht negativ, sondern positiv konnotiert hingegen war das Außenseitertum, das jene kriegskritische Belletristik konstruierte, die Lantukhova untersucht: Romane wie Jaroslav Hašeks „Schwejk“ oder Edlef Koeppens „Heeresbericht“ erkannten in den Aussteigern und Verweigerern unter den Frontsoldaten, die von einer obrigkeitshörigen Medizin zu Psychopathen gestempelt wurden, die eigentlich Vernünftigen, die sich nicht länger am Massentöten beteiligen wollten.

Solche Beobachtungen zeigen die Vielschichtigkeit des Themas „Nerven und Krieg“ auf – der vorliegende Band leistet einen wichtigen Beitrag zu seiner Erschließung. Die ältere Engführung der Psychiatriegeschichte als Wissenschaftsgeschichte und Geschichte einer Disziplin innerhalb der Medizin wird aufgebrochen und durch eine Diskursanalyse ersetzt, die, wie von den Herausgeber/innen angekündigt, die Nervenschwäche als vielfältig anschlussfähiges kulturelles Konstrukt sichtbar macht. Eine weitere Ankündigung in der Einführung, das Wandern des Nervendiskurses über mehrere soziale Felder hinweg nachzeichnen zu wollen, wird in den Beiträgen allerdings jeweils erst ansatzweise erfüllt – was angesichts des begrenzten Raums auch kaum anders möglich ist. Für eine wirklich systematische Untersuchung, die also noch zu leisten wäre, werden aber bereits zahlreiche Bausteine geliefert. Auch der Vergleich zwischen Deutschland, das der Band mit Ausnahme des Beitrags von Andrea Gräfin von Hohenthal über „Die Nerven der Anderen“ ausschließlich behandelt, und anderen kriegführenden Nationen könnte das Thema gewiss künftig noch weiter anreichern.

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