Um es vorweg zu sagen: Es ist wirklich ein Genuss, dieses Buch zu lesen. Lange war es überfällig, endlich Marianne Weber aus dem Schatten ihres Mannes treten zu lassen und in den Kontext ihrer Zeit zu stellen. Marianne Weber war nicht nur die Witwe, die alles daran setzte, Max Webers hinterlassenes fragmentarisches Werk herauszugeben – eine an sich große Leistung, an der manch anderer schon gescheitert wäre –, sondern eine bewusst zu den aktuellen Kulturproblemen Stellung beziehende eigenständige Persönlichkeit, und das natürlich auch schon zur Zeit ihrer Ehe. Der stärkste Eindruck, den die Lektüre hinterlässt, ist der von einer lebenslangen intellektuellen Anstrengung, die sich sowohl auf die wissenschaftliche Bearbeitung der „Frauenfrage“ bezog als auch auf die persönliche Seite der problematischen Ehe.
Der Band ist aus einer Tagung in Oerlinghausen (bei Bielefeld) hervorgegangen, dem Ort, an dem Marianne Weber 1870 geboren wurde. Der erste Teil ist ihrem persönlichen und familiären Umfeld sowie frauenpolitischen Engagement gewidmet. Der zweite Teil geht auf ihre zentralen wissenschaftlichen Studien ein. Text- und Bilddokumente im Anhang runden den Band ab.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die Beiträge die These, dass Marianne und Max Weber in ihrer praktischen Lebensführung und in ihrer wissenschaftlichen Arbeit komplementär auf einander bezogen waren. Es war das Vermögen Mariannes, das Max, neben dem Vermögen seiner Mutter, Helene, eine Fortführung seiner Arbeit als Privatgelehrter nach jahrelanger schwerer Krankheit ermöglichte. Max Weber unterstützte seine Frau in ihrem frauenpolitischen Engagement und bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten. Aber auch hier „lernten“ beide von einander.
Guenther Roth beleuchtet den familiären Hintergrund von Max und Marianne Weber, die entfernt mit einander verwandt waren, Marianne war die Kusine zweiten Grades. Die Ergebnisse von Roths Recherchen sind mittlerweile ausführlich nachzulesen in seiner Studie „Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte“.1 Ingrid Gilcher-Holtey thematisiert die Diskussionen in Heidelberg um 1900 um die „Modelle ‚moderner Weiblichkeit‘“. Marianne Webers Kontroverse mit Georg Simmel stand im Zentrum dieser Diskussionen. Christa Krüger vergleicht unter dem Stichwort „Doppelsternpersönlichkeiten“ die Webers mit den Webbs. Vier Beiträge stellen Frauen in den Mittelpunkt, denen Marianne Weber entweder freundschaftlich verbunden war oder die wie sie in der bürgerlichen Frauenbewegung und der DDP tätig waren: Mina Tobler, die Pianistin und Geliebte ihres Mannes (M. Rainer Lepsius), Marie Baum, die Fabrikinspektorin und Sozialpolitikerin (Heide-Marie Lauterer), Camilla Jellinek, die Gründerin und Vorsitzende der Heidelberger Rechtsschutzstelle für Frauen (Klaus Kempter) und Gertrud Bäumer, die „Kampfgefährtin“ im Bund Deutscher Frauenvereine (Margit Göttert). Hier stehen nicht nur individuelle Lebenswege und Beziehungen zur Debatte, sondern alle wichtigen Themen aus dem engeren und weiteren Umfeld des Heidelberger Gelehrtenmilieus: die Stellung der Frau in Ehe und Beruf, die Erotik und die „neue Ethik“. Marianne Weber hat sich durch diese Themen herausfordern lassen und auf hohem bildungsbürgerlichen Niveau eingeblendet. Deutlich wird der Weg, den sie wählte: Sie stellte die Ehe als Institution nicht in Frage; die Emanzipation der Frau war für sie keine Angelegenheit der Erwerbschancen und des beruflichen Ein- und Aufstiegs, sondern der ideellen Teilhabe an der „Bildung als sozial und kulturell und individuell prägenden Macht“ (Gilcher-Holtey, S. 32).
Marianne Weber unterschied zwischen drei Ebenen der Erwerbstätigkeit bzw. des „Berufes“. Die erste Ebene war die Arbeit aus ökonomischer Notwendigkeit heraus; die zweite Ebene bezog sich auf alle Berufsfelder, die zeitgenössisch unter dem Schlagwort „Mütterlichkeit als Beruf“ subsumiert wurden, also ehrenamtliche karitative Tätigkeit, sozialpolitisch wichtige Tätigkeiten, Eriehungswesen, medizinische Versorgung. Der dritte Bereich war der, der ihre Aufmerksamkeit bündelte und ihren eigenen Lebensentwurf prägte. Es war die Anwendung der spezifisch weiblichen Perspektive auf den kulturwissenschaftlichen Bereich. Marianne Weber hat diesen Weg verfolgt, als sie, geschult an der Methodologie Heinrich Rickerts und dem Neukantianismus seit Mitte der 1890er-Jahre, als ihren Erkenntnisbereich die Ehe als rechtliche Institution unter der weiblichen Perspektive untersuchte. Dies ist der Leitgedanke ihrer Untersuchungen und ihres Hauptwerks von 1907 „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ (siehe die Beiträge von Stephan Buchholz und Klaus Lichtblau). Die „geschlechtliche Differenz als Leitdifferenz“, wie es Theresa Wobbe in ihrem Beitrag für die Frauenbewegung formuliert (S. 190), lag auch Marianne Webers erkenntnisleitendem Interesse zugrunde. Der Rückbezug auf den Neukantianismus und Heinrich Rickert, die Erschließung der kontingenten „Wirklichkeit“ durch eine perspektivische Fragestellung ist es, die auch Max Weber in seinen Schriften zur Methodologie seit 1903/04 bewegte. Was er hier theoretisch formulierte, setzte Marianne Weber in ihrem Hauptwerk als materiale Studie um. Dass beide Ehepartner eine intellektuelle Gemeinschaft bildeten, dass nicht Max Weber seiner Frau die Richtung wies und die Vorgaben machte, sondern dass sich beide gegenseitig anregten und ergänzten, zeigt sich an diesem Beispiel und wird in dem abschließenden Beitrag von Bärbel Meurer weiter ausgeführt. Inwieweit man Bärbel Meurers Argumenten hinsichtlich der Edition von „Wirtschaft und Gesellschaft“ folgen und die von Marianne Weber gewählte Einheit bei der postumen Herausgabe des großen Werkes ihres Mannes wahren soll, ist allerdings fraglich und bedarf einer intensiveren Erörterung als sie in diesem Rahmen möglich ist.
Der Band bietet einen guten Einstieg und aktuellen Überblick über die Marianne Weber-Forschung und die Forschung zur bürgerlichen Frauenbewegung. Neue Zusammenhänge sind auch durch die intensive Nutzung der Briefedition der Max Weber-Gesamtausgabe sichtbar geworden.
Anmerkung:
1 Roth, Guenther, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950 mit Briefen und Dokumenten, Tübingen 2001.