Titel
Reversible Destiny. Mafia, Antimafia, and the Struggle for Palermo


Herausgeber
Schneider, Jane C.; Schneider, Peter T.
Erschienen
Anzahl Seiten
339 p.
Preis
$24.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annemarie Gronover, Institut für Ethnologie, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Der Titel des Buches „Reversible Destiny. Mafia, Antimafia, and the Struggle for Palermo“ umfasst gleichsam These und Inhalt. Es geht um die tiefgreifende gesellschaftliche Umgestaltung Siziliens, die sich seit dem zweiten Weltkrieg vollzogen hat. Das Buch handelt von der Entstehung der Mafia und der Antimafia im Rahmen der grundlegenden Transformation der geopolitischen und politisch-ökonomischen Bedingungen in einer sich globalisierenden Welt. Die Leitfrage der Forschung von Jane und Peter Schneider wird in den ersten drei der zwölf Kapitel als die Frage nach der Selbstverantwortlichkeit Siziliens für sein Schicksal gestellt – diese Frage bildet auch die Klammer der Studie. Die ethnologische Spurensuche nach der Quelle der Unordnung, die für die Existenz der Mafia und die Verwundbarkeit Siziliens verantwortlich gemacht wird, wird parallel zu der Entwicklung der sozialen Bewegung ‚Antimafia’ dargelegt. Die Autoren zeichnen ein Bild einer paradoxen und doppelsinnigen Kultur und dieses präsentieren sie dem Leser in kaleidoskopartiger Technik. Sie skizzieren hierzu die Tradition des organisierten Verbrechens seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert, die Dekonstruktion des Mythos Mafia und deren Verwicklung in politische Prozesse. Das historische Zeitfenster der Analyse reicht vom Feudalismus und der Zeit des Übergangs zum Kapitalismus, über die Zeit der Entstehung des Nationalstaates und den 2. Weltkrieg bis hin zum Kalten Krieg. Der Genese der Mafia stehen die substantiellen Ressourcen gegenüber, aus denen Kräfte zur Realisierung einer Zivilgesellschaft mit demokratischen Werten, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Forderung nach Transparenz in der Politik und der Ablehnung klientelärer Strukturen erwachsen.

Jane und Peter Schneider dekonstruieren für ihre Argumentation überzeugend diejenige ethnologische Forschungsliteratur, die das Schicksal Siziliens (destiny) im kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Immobilismus sieht und daraus eine essentialistische Aufladung der sizilianischen Mentalität ableitet. Hiernach gelten Sizilianer generell als mafios, korrupt und kriminell, sie sind in klientelären Systemen verhaftet und nicht fähig, demokratische wie zivile Gesellschaftsstrukturen zu schaffen. Dieses „destiny“ Siziliens wird oftmals als wissenschaftliche und politische Erklärung der Unterentwicklung des Mezzogiornos herangezogen. Die Autoren stellen ihm die „reversibility“ entgegen, die Metapher für einen möglichen und realisierbaren Wandel der sizilianischen Gesellschaft. Die Materialbasis ihrer Argumentation schöpft aus dem reichen Fundus einer vierzigjährigen Forschung in und über Sizilien. In den 1970er-Jahren machten Jane und Peter Schneider eine Feldforschung in Westsizilien; die letzten 20 Jahre verbrachten sie vornehmlich mit Kurzaufenthalten in Palermo. Archivmaterial, Zeitungsartikel, Fachliteratur, Belletristik, journalistische Texte, öffentliche Reden, Kongresse, Interviews mit Antimafiaaktivisten aus Politik, Kirche und Sozialarbeit und mit Mafiosi selbst, teilnehmende Beobachtungen bei Treffen von Aktivisten, bei politischen Veranstaltungen sowie bei den sog. Maxiprozessen bieten ein breites Spektrum an palermitanischen Realitäten.

Kapitel vier und fünf handeln von der kulturellen Produktion von Gewalt durch die Mafia und dem Kulturverständnis der Antimafiaaktivsten. Jane und Peter Schneider geben einen Einblick in das Innenleben der Mafia, indem sie die familiär-verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Codes und (Initiations-)Riten beschreiben und verdeutlichen, dass die grundlegende Basis mafiosen Agierens an Territorien und klientelistische Strukturen gebunden ist. Antimafiaaktivisten setzten sich, so die Autoren, in ihren Anfängen mit einer Kulturdefinition auseinander, die weder die pejorativen Urteile essentialistischer Ansätze bestätigen, noch eine Art Komplizenschaft mit klientelistischen Netzwerken bemüht.

Sehr gelungen sind Kapitel sechs und sieben, in dem die Darstellung der „langen 80er“, die Periode von 1978-1992, anhand der doppelsinnigen Struktur der Mafia und der ersten Aktionen der Antimafiabewegung facettenreich veranschaulicht wird. Während einzelne Mafiafamilien sich im Kampf um Blutrache und Territorien in der Hauptstadt selbst schwächen, gelingt es den mächtigsten Mafiafamilien sich zeitgleich auf dem globalen Markt zu platzieren. Der interne Terror der Mafia destabilisiert zwar das gesellschaftliche Leben Siziliens, doch gelingt es ihr paradoxerweise zugleich, das lokale, regionale und globale politische Geschehen zu beherrschen. Es ist die Zeit der ‚excellent cadavers’: Dabei handelt es sich um Funktionäre in wichtigen gesellschaftlichen Spitzenpositionen, die durch ihren gewaltsam Tod Sinnbild für die brutale Gewalt und staatsfeindliche Gesinnung der Mafia geworden sind. Solche „excellent cadavers“ waren zu Lebzeiten unter anderem an der Vorbereitung und Durchführung der Maxiprozesse beteiligt, die vom Februar 1986 bis Dezember 1987 in Palermo stattfanden. In diesem Mammutprozess wurde gegen 475 mafiose Verbrechen ermittelt. Es war das erste Mal, dass der Staat und die Bevölkerung Einblick in das Innenleben der Mafia bekamen. Die Maxiprozesse fanden in der Periode des so genannten „Frühlings von Palermo“ in der ersten Amtszeit des Bürgermeisters Leoluca Orlando von 1985 bis 1990 statt. In dieser Zeit formierte sich vornehmlich aus der gebildeten Bürgerschicht die Antimafiabewegung, die in Orlando ihr ideologisches Rückrat fand. Das Konzept zur Realisierung einer Zivilgesellschaft basierte auf der Idee der kulturellen und politischen Umschulung, der Vermittlung von demokratischen Werten und der Einrichtung von sozialen Hilfeleistungen.

Aufgrund ihrer doppelten Analyse von Mafia und Antimafiabewegung können die Autoren auch das Ende des „Frühlings von Palermo“ plausibel darlegen. Im achten Kapitel wird der Umschwung von der zivilgesellschaftlichen Aufbruchstimmung der Antimafiaaktivsten in eine Phase der Ermüdung beschrieben. Die Schwierigkeiten bei der Errichtung einer Zivilgesellschaft verdeutlichte den Aktivisten sowohl ihre eigene Heterogenität als auch die Schwierigkeit, ihre Ideen in die unteren sozialen Schichten zu vermitteln.

Im neunten Kapitel steht die Zeit nach der Ermordung der beiden Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino im Jahre 1992 im Mittelpunkt, die als führende Köpfe der Antimafiabewegung während der Maxiprozesse galten. Vor dem Hintergrund der sizilianischen wie weltweiten Empörung über die Attentate konnten sich die Antimafiaaktivisten neu formieren und Orlando wurde 1993 mit 76 Prozent der Stimmen als Bürgermeister wieder gewählt. Es folgte eine Zeit, in der die Antimafiaaktivisten Basisarbeit im Einsatz für die Zivilgesellschaft leisteten und versuchten, demokratische Werte und politische Transparenz in Alltagspraxis umzusetzen.

Im zehnten und elften Kapitel werden die Wiederherstellung der Umwelt und die konkrete kulturelle und politische Umschulung von Mafiakindern geschildert. Mit Hilfe von EU-Geldern wurden historische Gebäude in Palermo restauriert, vielfältige kulturelle Angebote wurden für die breite Bevölkerung zugänglich gemacht und Sozialzentren erhielten finanzielle Unterstützung für die Umsetzung pädagogischer Programme, die zur gesellschaftlichen „reeducation“ der Mafiakinder dienen sollten. Hiermit war auch die Idee einer neuen urbanen Ökonomie verbunden. Die neu geschaffene Zivilgesellschaft sollte sich in Architektur, Kultur und Bildung manifestieren.

Im letzten Kapitel mit dem Titel „reversible destiny“ greifen die Autoren die Dialektik zwischen dem kulturellen Schicksal Siziliens und dessen Umkehrung nochmals auf, die sich wie ein roter Faden durch die Arbeit zieht. Sie zeichnen kritisch den gesellschaftlichen Wandel von Palermo als „Hauptstadt der Mafia“ zur „Hauptstadt der Antimafia“ nach und zeigen deutlich die unsichtbaren Schnittstellen zwischen kriminellen Akteuren, Antimafiakämpfern und der breiten Bevölkerung auf. Eine der wichtigsten Lektionen, so die Autoren, die man von Palermo lernen kann, ist, dass in der Analyse von sozialen Bewegungen gegen das organisierte Verbrechen die gesamte Bevölkerung und ihre kulturelle, ökonomische und historische Verwurzelung mitberücksichtigt werden muss. Jede soziale Theorie, die sich ausschließlich auf eine Gruppe beschränkt und den globalen gesellschaftlichen Kontext außer Acht lässt, wäre „naiv“. Jane und Peter Schneiders politisches Plädoyer ist schließlich, über die Forderung einer kulturellen Transformation hinaus zu gehen und sich für eine „neue“ urbane Ökonomie „für alle“ einzusetzen, auf deren Basis sich auch eine kulturelle Revolution vollziehen könne.

Die Leistung der Autoren besteht darin, dass sie es vermögen, die Entwicklung von Mafia und Antimafiabewegung in ihren komplexen Wirkungen auf Sizilien ohne den Gebrauch essentialistischer Kategorien darzustellen. Der ethnografische Blick erlaubt es Jane und Peter Schneider, die kulturellen Prozesse in Sizilien transparent zu machen. Hieran schließen sich jedoch wesentliche Fragen an. Es erklärt sich von selbst, dass im Mittelpunkt der Untersuchung von Mafia und Antimafiabewegung die Aktivisten stehen, die größtenteils aus einer gutbürgerlichen Mittelschicht stammen oder politisch engagierte Kleriker sind. Zum einen ist zu fragen, ob die generalisierende Verwendung des Begriffs Zivilgesellschaft es vermag, die komplexen und teilweise paradoxen kulturellen Systeme in all ihren Facetten zu erfassen. Es reicht meines Erachtens z.B. nicht aus, Vertreter der Antimafiabewegung über einen so genannten Volkskatholizismus in den unteren Schichten sprechen zu lassen, dessen auch im Heiligenkult vorhandenen zivilgesellschaftliche Ressourcen verkannt und dessen Anhänger in einer magisch-hinterwäldnerischen Welt verortet werden. Zum anderen scheint sich die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche auf nur einen Teilaspekt des Spektrums der kirchlichen Ansichten und Aktionen im Kampf gegen die Mafia zu beziehen. Darüber hinaus gilt zu fragen, ob die ständig betonte Ablehnung des Klientelismus gerade im Zusammenhang mit der katholischen Kirche und der Zivilgesellschaft nicht ein Paradox ist. Die katholische Kirche ist zwar per se zivilgesellschaftlich, aber eben aufgrund ihres Amtsverständnisses gerade nicht transparent und demokratisch. An dieser Stelle hätte eine klarere Benennung oder Auseinandersetzung mit dem Katholizismus in Sizilien zur Erleichterung der Lektüre beigetragen. Denn an diesem Punkt drängt sich eine sehr enge Verflechtung gesellschaftlicher (mafioser) und kirchlicher Institutionen auf, die im Alltag – wie die Diskussionen der Antimafiakämpfer belegen – nicht auseinander zu halten sind: Familiäre und freundschaftliche Netzwerke werden mit Patenschaften besiegelt und Patrone wie Onkels, Tanten, Politiker und Priester revitalisieren den Klientelismus ständig.

Doch insgesamt bietet die Lektüre einen sehr guten und dicht geschriebenen zeitgeschichtlichen Einblick in die gesellschaftliche Entwicklung Siziliens seit dem Zweiten Weltkrieg. Die analysierende Beschreibung bietet sich sowohl für ein vertiefendes Studium als auch eine einführende Lektüre in die Ethnografie der Mafia und Siziliens an, nicht zuletzt, weil das breit gefächerte Datenmaterial die Komplexität der kulturellen Zusammenhänge und Prozesse zu vermitteln mag.

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