Es vergeht derzeit kaum ein Monat, in dem nicht eine weitere "einschlägige" Veröffentlichung zu dem rasch expandierenden Forschungsfeld der Kulturgeschichte/Kulturwissenschaften erscheint. Sollte es noch Zweifel daran geben, dass die "scientific community" hier Zeugin eines kulturhistorischen Booms wird, ließen sich diese durch eine einfache Auflistung der jüngst national und international veröffentlichten Einführungen, Grundlegungen, Sammelbände und Kompendien ausräumen. Eine solche intensive Selbstreflexion der - in Deutschland - noch verhältnismäßig jungen Forschungsrichtung ist zweifelsohne zu begrüßen, da sich nur aufgrund der damit einhergehenden Diskussionen um Fundamente, Methoden und Themen der Kulturgeschichte/Kulturwissenschaften das eigene Profil schärfen und überzeugend nach außen tragen lässt.
Auch die Tatsache, dass Friedrich Kittlers "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" bereits wenige Monate nach ihrem ersten Erscheinen eine zweite Auflage erlebt, deutet in diese Richtung. Prominent in den großen Tages- und Wochenzeitungen besprochen, scheint dieses Buch genau "zur richtigen Zeit" gekommen zu sein. Nun liegt also bereits eine "verbesserte" Version vor, wobei ich keinen Vergleich mit der ersten Auflage unternommen habe, um die "Verbesserungen" zu eruieren; Druckfehler können damit kaum gemeint sein, denn davon finden sich immer noch reichlich.
Diese zahlreichen Flüchtigkeitsfehler im Text zeugen ebenso wie die rasche Auflagenfolge und einige andere Indizien von dem hohen Tempo, mit dem dieses Buch - nicht unbedingt zu seinem Vorteil - vermutlich produziert wurde. Der Umstand, dass es sich hier um eine Vorlesung handelt, deren mündlicher Charakter beibehalten wurde, wirkt dabei keineswegs störend. Jedoch fragt es sich, warum weder Kittler noch der Verlag daran dachten, diesen (wie auch der Autor mehrfach betont) keineswegs vollständigen Überblick in einer Fassung zu veröffentlichen, die weniger torsohaft wirkt. Als Experiment eines "work in progress" mag es möglicherweise medienhistorisch interessant sein, Vorlesungsmanuskripte ohne weitere Umwege und Bearbeitungen in den Druck zu befördern, doch für LeserInnen ist es schlicht ärgerlich, zu Beginn eines Buchs den Verlauf der Darstellung präsentiert zu bekommen (S. 13), von dem das letzte Viertel aufgrund Zeitmangels (Ende der Vorlesungszeit!) entfällt. War es vielleicht der Druck des expandierenden kulturwissenschaftlichen Marktes, der hier die Publikationsregeln diktierte? Die Frage, inwieweit solche Rahmenbedingungen Einfluss auf den Inhalt der Monographie ausüben, dürfte gerade bei einer Veröffentlichung des Medientheoretikers Kittler gerechtfertigt sein.
Doch wenden wir uns zunächst den Inhalten zu: Welchen Entwicklungsgang der Kulturwissenschaft zeichnet Kittler nach und inwiefern handelt es sich bei seiner Darstellung um ein Kulturgeschichte? Kittlers Anliegen ist es, die Kulturwissenschaft(en) vor einem drohenden Dilettantismus zu bewahren, indem er sie zu einer Besinnung auf ihre theoretischen und philosophischen Grundlagen anstiften will. Voraussetzung hierfür ist unter anderem der Kernpunkt kulturwissenschaftlichen Arbeitens, der sich mit dem Stichwort "Entgrenzung" beschreiben lässt. Kulturwissenschaft sollte nicht ihren ureigenen Herrschaftsbereich abstecken wollen, sondern die Interdependenzen und Wechselwirkungen mit anderen Disziplinen und Wissenschaftskulturen als Herausforderung und Aufgabe annehmen. Dementsprechend plädiert Kittler auch wiederholt für Kooperationen zwischen der Kulturwissenschaften und den Sozial-, Technik- und Naturwissenschaften beziehungsweise für Kulturgeschichten von Gesellschaft, Technik und Natur - ein Plädoyer, das aus anderen Veröffentlichungen Kittlers hinbreichend bekannt ist. In dieser immer wieder vorgebrachten und vielfach exemplifizierten Betonung, die Unterscheidung zwischen Kultur auf der einen und Natur/Technik auf der anderen Seite einzuebnen, besteht sicherlich der zentrale Gewinn von Kittlers Buch.
Es sind immer wieder diese Aspekte, die Kittlers Darstellung leiten und organisieren. Die einzelnen Stationen seiner "Kulturgeschichte" lassen sich, nach seiner eigenen Einteilung, mit folgenden Namen bezeichnen: Giambattista Vico, Johann Gottfried Herder, Constantin François de Volney, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Martin Heidegger. Dazwischen werden der "empirischen Kulturwissenschaft" (Riehl, Burckhardt, Bachofen) ca. 25, von wenig Sympathie getragene Seiten gewidmet. Sicherlich weist zwangsläufig jede Überblicksdarstellung gewisse Lücken auf, aber in dieser Reihung fällt das Fehlen einiger Namen, die zweifelsohne für die Entwicklung der Kulturwissenschaften eine zentrale Stellung einnehmen, doch ganz eklatant auf. Genannt seien nur Georg Simmel, Ernst Cassirer, Max Weber, Aby Warburg, Walter Benjamin, Norbert Elias oder Clifford Geertz. Ja, zum Teil werden diese Philosophen und Theoretiker (wie im Fall Cassirer) explizit mit Verachtung und das heißt zugleich Nicht-Beachtung gestraft (S. 134). Auch wenn man, wie Kittler, nicht zu den Befürwortern einer Cassirer-Renaissance gehört, hätte man sich doch ein wenig mehr sachliche Auseinandersetzung wünschen dürfen, anstatt abfälliger bis beleidigender Bemerkungen.
Vermisst man einerseits gewisse Namen, taucht andererseits mit Martin Heidegger ein "Kulturwissenschaftler" auf, der ansonsten in entsprechenden Diskussionen seltener Erwähnung findet. Macht man sich gespannt an die Lektüre des entsprechenden Kapitels, in der Hoffnung, auf noch unbetretene Denkwege in der Kulturwissenschaften zu geraten, so tritt doch bald Ernüchterung ein. Die anfängliche Hoffnung stellt sich als Holzweg heraus, da Heideggers Philosophie in der Tat nur sehr mittelbar Schneisen durch das kulturwissenschaftliche Terrain schlagen kann. Denn indem Heidegger den üblichen Ontologien der Naturdinge eine Dominanz der Beziehungen zwischen den Subjekten entgegensetzt, ergibt sich zwar eine (bei Heidegger bereits nicht mehr explizierte) Privilegierung von Geschichte, Handlung und Interaktion - aber an diesem Punkt könnte eine Kulturwissenschaft erst beginnen, die bei Heidegger jedoch nicht mehr als ihre erste Grundlage findet. Es drängt sich mit anderen Worten der Verdacht auf, dass Kittler den Freiburger Philosophen zum Kulturwissenschaftler stilisiert, um seine eigene philosophische Ahnengalerie ausreichend zu Wort kommen zu lassen. (Schließlich war er Augenzeuge, wie "der kleine alte Mann immer wieder über die Korridore des Philosophischen Seminars Freiburg schlurfte." S. 221) Dass Heidegger aber tatsächlich für eine Grundlegung der Kulturwissenschaft taugt, darf zumindest aufgrund von Kittlers Darstellung füglich bezweifelt werden.
Insgesamt muss also festgehalten werden, dass es sich bei der von Kittler präsentierten Perlenkette großer Denker nicht vornehmlich um Vertreter der Kulturwissenschaften in einem weiten Sinn handelt, sondern eher um eine begrenzte Auswahl von Kulturphilosophen. Inwieweit handelt es sich aber bei diesem Überblick über die Kulturphilosophie nun um eine "Kulturgeschichte"? Kittler formuliert selbst die Forderung, sein Buch "möge nicht zur bloßen immanenten Darstellung einer Wissenschaft in ihrem Werdegang verkommen, gleichsam als ob die kulturwissenschaftliche Weisheit nur von Geistesgröße zu Geistesgröße, von Vico zu Herder zu Hegel und so weiter gesprungen wäre. Auch und gerade die Wissenschaftsgeschichte unseres Fachs sollte sich vielmehr in größeren Zusammenhängen kontextualisieren lassen." (S. 17) Diese Kontextualisierung beschränkt sich jedoch in den meisten Fällen darauf, dass Kittler den einzelnen Kapiteln einen kurzen biographischen Abriss über seine jeweiligen kulturphilosophischen Gewährsleute voranstellt. Von einer "Kulturgeschichte", die den jeweiligen Sinngebungsprozessen in ihren Zusammenhängen nachgehen würde, kann hingegen meistenteils nicht die Rede sein. Vielmehr zeigt schon die benannte Reihe von Kulturphilosophen, an denen sich seine Darstellung orientiert, dass es sich doch einmal mehr um eine Staffel von Geistesgrößen handelt, die einander den Stab überreichen. Vielleicht hätte Kittler sich doch ein wenig intensiver mit dem von ihm geschmähten empirischen Zweig der Kulturwissenschaften beschäftigen sollen, um hieran seinen kulturhistorischen Blick zu schärfen. Aber da er davon ausgeht, dass die empirischen Kulturwissenschaften vor allem in einer Ansammlung von Anekdoten bestehen (z.B. S. 120), hat er selbst in den kulturhistorischen Passagen seines Buchs nur Anekdotisches zu bieten (z.B. S. 87). Sicherlich genügt es für eine Kulturwissenschaft nicht, sich allein auf empirische Fragen zu konzentrieren, weshalb Kittlers Versuch einer gewissen Kanonbildung kulturwissenschaftlicher Grundlagentheoretiker und -werke im Ansatz durchaus zu begrüßen ist. Aber auf der anderen Seite kann es kaum überzeugen, die Theorie gegen die Empirie ausspielen zu wollen.
Kittler Verständnis von "Kulturwissenschaft" besteht also vor allem in einer - recht eingegrenzten - Auswahl von Kulturphilosophen, und das Kulturhistorische seiner Darstellung beschränkt sich auf wenige Seiten, die keine wirkliche Kontextualisierungsleistung vollbringen. Es handelt sich also weniger um eine "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" als vielmehr um "Kittlers Geschichte der Kulturphilosophie".
In seiner einleitenden Danksagung verweist Kittler auf die Befürchtung Johann Gottlieb Fichtes von 1807, dass gehaltene Vorlesungen allzu schnell in den Druck gelangen könnten. Kittler kann in dem vorliegenden Beispiel diese Befürchtung nicht wirklich entkräften. Vielleicht hätte er noch zwei bis drei weitere Vorlesungszyklen halten sollen, um auf deren Grundlage schließlich eine "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" zu verfassen, die diesen Namen verdient.