Das Thema dieses Sammelbandes ist außerordentlich faszinierend, da es nicht nur mehrere Disziplinen bertrifft, sondern grundsätzliche Fragen philosophischer, künstlerischer, schriftstellerischer und politischer Arbeit thematisiert. Die beiden Herausgeber haben sich große Mühe gegeben, den Band sinnvoll zu gliedern. Ein Verzeichnis der Eigennamen wäre allerdings hilfreich gewesen. In einem konzisen Vorwort werden alle Beiträge kurz resümiert. Zwei Aufsätze von Soziologen sollen das theoretische Fundament bzw. eine theoretische Zusammenfassung liefern (Wolfgang Eßbach, "Intellektuellengruppen in der bürgerlichen Kultur", S. 23-33; Jürgen Frese, "Intellektuellen-Assoziationen", S. 441-462), und gerade diese beiden Beiträge haben eher vorläufigen, um nicht zu sagen assoziativen Charakter. Der Leser ist daher den Herausgebern dankbar, daß sie auf das immer noch klassische Werk des Altmeisters der Wissenssoziologie, Alfred von Martin, zurückgreifen 1, der mit 'Orden', 'Bund' und 'Schule' immerhin drei typische intellektuelle Gesellungsformen vorgestellt und präzise definiert hat: "Eine Gruppe, gar eine innerlich verbundene Gemeinschaft, können Intellektuelle im Normalfall nur bilden, soweit sie von gleichem Denken und Wollen bewegt werden. [...] Wo dagegen die von den Intellektuellen vertretenen Ansichten weit divergieren, da kann es nur unter sehr kritischen Umständen geschehen, daß die verschieden gearteten (sozialen, politischen, rechtlichen, kulturellen, religiösen) Standpunkte und Anliegen - auf Zeit - sich zusammenfinden, [...] um gemeinsam den Widerstand gegen ein auf vielen Seiten gleich gehaßtes Régime (wie die Nazidiktatur) zu organisieren" (S. 7).
Von Martin favorisiert demnach eher zweckfreie Zusammenschlüsse, die nach Meinung der Herausgeber wie der meisten Beiträger eng mit der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ihrer Geselligkeitskultur verbunden sind. Dies erklärt wiederum die Dreiteilung des Bandes in 'Künstler, 'Wissenschaftler' und 'Neureligiöse'. Unter den Künstlern finden wir die Schwabinger Bohème, den George-Kreis, das 'Café Griensteidl' in Wien, den 'Blauen Reiter', den Berliner 'Club dada', die deutsch-sprachigen Exilschriftsteller in Moskau um 1936 sowie Hans Grimms Lippoldsberger Dichterkreis; unter den Wissenschaftlern Joachim Ritter und sein 'Collegium philosophicum', den Wiener Kreis um den Mathematiker Hahn, den Physiker Frank, den Maschinenbauer Richard von Mises und den Ökonomen Otto Neurath, die K.W.B. (Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg), Max Webers Heidelberger Sonntagskränzchen, das Nietzsche-Archiv in Weimar und sein Umfeld und das von Karl Epting und Karl Heinz Bremer geleitete 'Deutsche Institut' in Paris (1940-44). Zu den Neureligiösen zählen Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Rudolf Steiner, der Jenaer Verleger Eugen Diederichs, der Potsdamer Forte-Kreis und der Schweizer Eranos-Kreis. Das ist ein interessantes und recht umfassendes Panorama, dem man trotz querliegender Beiträge Geschlossenheit nicht absprechen kann. Allerdings hat man eine gewisse Mühe, die deutsch-sprachigen Exilschriftsteller in Moskau 1936, den Eugen Diederichs-Verlag oder das Pariser 'Deutsche Institut' dem Buchtitel zuzurechnen, was Klaus-Georg Riegel (S. 148) mit Bezug auf das Moskauer Exil auch selber zugibt. Es handelt sich weder um einen Zusammenschluß, noch ist Freiwilligkeit gegeben. Das 'Deutsche Institut' war eines von sechzehn insgesamt, die das Auswärtige Amt zusammen mit dem Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung gründete 2, und der Verlag Diederichs war so viel eine 'Gruppe' wie beispielsweise die Wissenschaftliche Buchgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.
Eine solche Zusammenstellung kann natürlich nie vollständig und auch nicht in allen ihren Beiträgen zwingend sein, aber in der Einleitung hätte vielleicht doch auf nicht behandelte Unternehmungen hingewiesen werden und mehr über die eigentlichen Inhalte der Arbeit einzelner Gruppierungen gesagt werden können. Dem steht vermutlich der hohe methodische Anspruch der Herausgeber im Wege, der verhindert, daß so einfachen Fragen, warum sich viele Intellektuelle regelmäßig trafen, nicht gestellt bzw. nicht beantwortet werden. Stattdessen werden die Fragen nach der Konstitution, der Rekrutierung, der Organisation, dem ausgeübten Einfluß und der Auflösung favorisiert. Offenkundig glauben die Autoren nicht, daß es sich schlicht um Geselligkeit, Austausch, Übung und Wissensmehrung des 'homo ludens' handeln kann, die aufgrund des bekannten Selbststilisierungszwanges von Intellektuellen mit Initationsriten ummäntelt werden, so daß Jüngerschaft und gruppendynamische Hahnenkämpfe typisch sind. Das 'otium' soll sich immer mit den 'litteris' verbinden, um keine unnütze Zeit zu vertun. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß die heutige Mediengesellschaft der Vereinzelung und Isolation Vorschub leistet und Gemeinschaft vorzugsweise nur noch im Rahmen ritualisierten Vereinslebens kennt. Das hier entworfene Bild der Intellektuellenassoziationen ist hingegen (gelegentlich) allzu idealistisch. Ein Blick auf verwandte Zusammenschlüsse wie Loge, Kapelle, Gemeinde, Korporation, Kongregation, Verein, Partei, Corona usw. wäre hilfreich gewesen.
Vielfach geht es bei Zusammenschlüssen um die Durchsetzung ganz bestimmter handfester Interessen, und das dürfte bei Dichtergruppen und Künstlerschulen nicht anders sein. Der Verzicht auf eine Behandlung gesellschaftspolitisch motivierter Gruppen, den der Begriff des 'Bündischen' nahelegt 3, hätte die Vielschichtigkeit unterschiedlicher Assoziationsformen noch besser verdeutlicht. Gerade wichtige Zusammenschlüsse der Weimarer wie der Nazizeit, deren Spektrum alle politischen Meinungen abdeckt - man denke an Mittwochsgesellschaft 4, Sohlbergkreis, Tatkreis, Kreisauer Kreis 5, Rote Kapelle, Canaris-Kreis, usw., aber auch an die SS mit ihren Unterverbänden, die man seit Heinz Höhne gelegentlich "den Orden unter dem Totenkopf" nennt 6 - haben ihre Wurzeln im Bündischen und stellen Intellektuellenassoziationen dar, die mit den künstlerisch-wissenschaftlichen zwar eine starke Nähe aufweisen, aber viel weniger solipsistisch sind.
Es kommt natürlich darauf an, was man unter Intellektuellen versteht. So hätte vielleicht deutlicher herausgearbeitet werden können, ob und wenn ja warum es heute keine wirklichen Intellektuellenassoziationen mehr gibt. Ist, um ein Beispiel zu nennen, die einflußreiche 'Gruppe 47', die jahrelang das literarische Leben der Bundesrepublik Deutschland bestimmte, eine Intellektuellenassoziation? Erfüllt sie mit Meister- und Jüngerschaft, Insidern und Outsidern, Programmatik, Verlautbarungsorganen, begrenzter Dauer und Ritualisierung nicht alle notwendigen Voraussetzungen dafür? 7 Sicherlich, das ist alles pragmatischer und undramatischer als zu Wagners, Nietzsches, Steiners und Wolfskehls Zeiten, aber die Sache bleibt sich eigentlich gleich. Muß man wirklich, wie Eßbach dies tut, auf die häretische Linie im Christentum, die antike bzw. humanistische Figur des Dialogs und den naturwissenschaftlich-akademischen Raum als Quellen der Intellektuellenassoziationen zurückgreifen?
Doch damit genug der kritischen Fragen. Der Band ist mit seinen zuverlässigen und durchgehend anspruchsvoll geschriebenen Beiträgen insgesamt ein Lesegewinn, denn er regt an zu eigenem Nachdenken und läßt wichtige Etappen des intellektuellen Lebens des soeben vergangenen 20. Jahrhunderts Revue passieren. Demokratisch ging es in den wenigsten Zusammenschlüssen zu, und wenn nicht eine starke Persönlichkeit die Initiative ergriff, kam selten etwas Brauchbares zustande. Dies dürfte ein weiterer Grund dafür sein, warum es heute nur selten vergleichbare Zusammenschlüsse gibt oder daß sie, wenn es sie gibt, keine besondere Rolle mehr spielen. Weitere Arbeiten zum Thema, die diesmal die politischen und religiösen Gruppierungen nicht aussparen, sind wünschenswert 8.
Anmerkungen:
1 Alfred von Martin, "Die Intellektuellen als gesellschaftlicher Faktor", in: ders., Mensch und Gesellschaft heute, Frankfurt/M 1965. Vgl. aber z.B. ergänzend den informationsreichen Beitrag von Georg Weippert, Gruppe, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften IV (1965), S. 718-725.
2 Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993.
3 Sigrid Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft - zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896-1920, Köln 1988.
4 Gerhard Besier (Hg.), Die Mittwochs-Gesellschaft im Kaiserreich. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1863-1919, Berlin 1990.
5 Ulrich Karpen u. Albrecht Richard (Hg.), Der Kreisauer Kreis. Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen von Männern des Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke, Heidelberg 1996.
6 Vgl. z.B. die Ausgabe Augsburg 1997.
7 Stephan Braese (Hg.), Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin 1999.
8 Man könnte an eine Weiterführung von Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1995, denken.