Cover
Title
Talcott Parsons. An Intellectual Biography


Author(s)
Gerhardt, Uta
Published
Extent
326 S.
Price
£47.50
Reviewed for H-Soz-Kult by
Johannes Feichtinger, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien

In der historischen Analyse wissenschaftlicher Theoriebildungen sind unterschiedliche Verfahrensweisen signifikant. Sehen die Einen von äußeren sozialen, kulturellen und historischen Einflüssen vollständig ab, so dass der Anschein entsteht, dass es so etwas wie das "reine Denken" gibt, beziehen die Anderen in die Analyse der Entstehung wissenschaftlicher Theorien den lebensweltlichen Kontext der maßgeblichen Akteure mit ein. Die letztere Methode scheint besonders fruchtbar, wenn sich die Sozialwissenschaften auf ihre Geschichte besinnen; sie ist um so ergiebiger, wenn die untersuchten Autoren in ihrer Arbeit die brennendsten Themen der Zeit aufgriffen, politisch engagiert waren und Theorie nicht als Selbstzweck, sondern als kondensierte Form von politischen Erfahrungen und Erkenntnissen begriffen. Die Rede ist hier von dem vielleicht einflussreichsten amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts: Talcott Parsons (1902–1979).

Internationalen Stellenwert erlangte Parsons dank seiner Theorien über die Struktur des sozialen Handelns und über soziale Systeme sowie seiner zahlreichen anderen Monografien und seiner mehr als 200 Aufsätze zu unterschiedlichen soziologischen Themen. So lieferte er einen maßgeblichen Beitrag zur Ausbildung einer selbständigen akademischen Disziplin "Soziologie" in den USA. In seinem Standardwerk der 1930er-Jahre The Structure of Social Action analysierte er die Struktur sozialer Ordnungen: Dadurch, dass sich Handelnde mit übergreifenden sozialen Normen identifizieren, ist das Handeln der jeweiligen Akteure im Prinzip berechenbar; so sei soziale Ordnung gewährleistet. In dieser Theorie verschränkte er Grundaussagen vier europäischer Wissenschaftler (Max Weber, Émile Durkheim, Vilfredo Pareto, Alfred Marshall), um in der Nachfolge Max Webers eine vom Sozialdarwinismus gesäuberte Soziologie zu entwickeln. Parsons hatte 1925/26 in Heidelberg studiert. Social Action sollte sich als Grundstock einer antidarwinistischen Soziologie jenseits von Rasse, Volk und Nation erweisen, die seit der Mitte der 1960er Jahre – durch Parsons vermittelt – auch in Deutschland Fuß fasste.

Da der seit 1927 an der Harvard University tätige Parsons seine Systemtheorie aber auf hohem Abstraktionsniveau entwickelt hatte, wurde er seit dieser Zeit aber auch verstärkt als Musterbeispiel eines apolitischen Gelehrten, dessen System von der sozialen Wirklichkeit absah, eingestuft. Dieses Bild von Parsons revidiert die Heidelberger Soziologin Uta Gerhardt grundlegend in ihrer neuen "intellektuellen Biographie". Was lange Zeit als abstrakte Theorie aufgefasst wurde, war in der Tat Ausfluss seiner unmittelbaren Erfahrungen einer von verschärften politischen Krisen geprägten sozialen Wirklichkeit. Auf jahrzehntelange Vorarbeiten zurückgreifend entwirft Gerhardt von diesem sozialwissenschaftlichen Klassiker ein neues plastisches Portrait mit historischer Tiefenschärfe. Sie stellt dessen Theorie mit den sozialen und politischen Zuständen seiner Zeit verschränkt dar. Zugleich legt sie aber auch seine Vorstellungen von der gesellschaftlichen Entwicklung offen, die zwei verschiedene Extreme aufweisen konnten. Der eine Pol war die Anomie, der andere die Integration; nur der letztere entsprach in der Ansicht Parsons der Demokratie, auch wenn diese von Zeit zu Zeit Gefahr lief, in anomische Zustände zu verfallen. So setzte sich Parsons intensiv mit der Dynamik von Abbau und Wiedergewinn demokratischer Prinzipien auseinander. Auch wenn diese in einer gefestigten Demokratie wie den USA von Zeit zu Zeit beschnitten wurden, bestanden für ihn keine Zweifel, dass die Demokratie in ihrer höchst entwickelten Form in der amerikanischen Gesellschaft beheimatet war. Die Verteidigung der pluralistischen Demokratie war ihm Zeit seines Lebens das massivste Anliegen, dafür wurde er auch politisch aktiv. Von diesem Demokratieverständnis konnte auch das von Hitler befreite Deutschland maßgeblich profitieren, sollte seine Vorstellung des "kontrollierten institutionellen Wandels" doch die mittelfristige amerikanische Politik im okkupierten Deutschland mitbestimmen.

Gerhardts Biografie spürt mit Akribie nach, wie Parsons Theorie vom Zeitgeschehen beeinflusst war, wie er seine Diagnose der Zeit- und Gesellschaftszustände in seinem Werk verarbeitete und wie er das Zeitgeschehen im Sinne der pluralistischen Demokratie einflussreich mitgestaltete. Die Autorin verlinkt Scholarship und Politik. Stützten sich die bisherigen Studien hauptsächlich auf Parsons Schriften, beruht die vorliegende Monografie auf umfangreichen Quellenstudien im Archiv der Harvard University. In den verschiedenen unveröffentlichten Aufzeichnungen, Memoranden, Rohfassungen von Manuskripten, Briefen usw. wird sein politisches Interesse offenkundig. Gerhardts Analysefeld ist noch weitläufiger: Sie belässt es nicht bei der Verarbeitung von Dokumenten, sondern sie arbeitet auch jene Literatur auf, die in einer bestimmten Zeit für Parsons prägend war. Dadurch, dass sie Werk und Quellenmaterial miteinander verschränkt, gewinnt sie ein umfassendes, detailreiches und von fehlerhaften Zuschreibungen gesäubertes Bild dieses soziologischen Klassikers. Gerhardt konzentriert sich in ihrer Biograie auf vier zentrale Phasen seines innovativen Schaffens, die sie in ebenso vielen Kapiteln darstellt: Der Neuinterpretation der Structure of Social Action folgt ein Blick auf Parsons soziologischer Analyse des Nationalsozialismus, danach beschreibt sie seine Rolle im Harvard Social Science War Effort und in der Social Science Research Council Initiative, um mit Parsons Theorie zur amerikanischen Gesellschaft in den 1960er-Jahren abzuschließen. Im Dunkeln verbleiben die 1950er-Jahre. Scheint die Zeit der Eisenhower-Administration in Bezug auf Parsons auch weniger bemerkenswert (dem McCarthyism wird ein kurzes Kapitel gewidmet), so wäre eine eingehendere Betrachtung der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, in der sich die Vorgeschichte zu seiner neuen Theorie der 1960er-Jahre abspielt, doch aufschlussreich. In einer Neuauflage des Buches wäre auch noch die Analyse der 1970er zu leisten.

Im ersten Abschnitt rekontextualisiert Gerhardt The Structure of Social Action (1937). Sie begreift Parsons Theorie als Kondensat seiner Analysen von amerikanischer Demokratie und NS-Totalitarismus. Seinen ersten Weltklassiker sieht sie im Lichte einer Kritik an den ideologischen Wurzeln von Zwangsherrschaft in Europa, die da waren: der Sozialdarwinismus, seine Vorformen (Spencer) und verschiedenen Varianten, pseudowissenschaftliche Rassismustheorien und eine mechanistisch evolutionistische Wissenschaftsauffassung, die in der amerikanischen Soziologie der 1930er-Jahre noch durch einen utilitaristischen Positivismus verwurzelt war. Mit Talcott Parsons vollzog sich der „lange Abschied“ der Soziologie von solchem naiven Szientismus.

Im zweiten Teil vertritt Gerhardt die These, dass sich Parsons Soziologie zwischen 1938 und 1945 maßgeblich von der politischen Krise in Deutschland leiten ließ. Er analysierte die strukturellen Mechanismen des NS-Regimes und verglich diese mit jenen der Demokratie, um seine Theorie von der Dichotomie von Anomie und Integration in der sozialen Struktur durch empirische Anschauung zu bewähren und zu vertiefen. Im Nationalsozialismus sah er jenen gefährlichen Typus einer charismatisch-traditionalen Ordnung, der sich vom rechtsstaatlichen Ideal anglosächsischer Prägung verabschiedet hatte und es auf die Zerstörung der westlichen Zivilisation absah. Dem integrativen demokratischen Pluralismus fühlte er sich aber nicht nur als Soziologe, sondern auch als politischer Aktivist verpflichtet. Auf letzteren, der lange Zeit im Schatten der Forschung lag, wirft Gerhardt ihr besonderes Augenmerk. Parsons hatte so manchem verfolgten deutschen und österreichischen "refugee scholar" (Eric Voegelin, Hans Speier) zur Flucht nach Amerika verholfen; auch betätigte er sich als überzeugter Demokrat und Anti-NS Aktivist. Er befürwortete vehement die Intervention der USA im Kampf gegen Hitler. An der Harvard School of Overseas Administration ließ er seine systemtheoretischen Erkenntnisse in die Ausbildung zukünftiger Besatzungsoffiziere einfließen und als Adviser der Foreign Economic Administration der US-Administration für die Nachkriegsplanung in Deutschland trat er vehement für den kontrollierten institutionellen Wandel in Nachkriegsdeutschland ein. So untermauerte seine soziologische Expertise auch die Sichtweise, dass der Morgenthauplan, der die Rückführung Deutschlands in eine Agrargesellschaft vorsah, für die weitere Demokratisierung dieses Staates verderblich war: Die Gefahr eines wiederauflebenden Nationalismus war für Parsons nicht auf dem Wege der Deindustrialisierung zu überwinden, das Ziel musste vielmehr die Demilitarisierung sowie die Modernisierung der deutschen Wirtschaft sein.

Im dritten Abschnitt legt Gerhardt die zeithistorischen Hintergründe seines zweiten Klassikers The Social System (1951) offen: Darin analysierte Parsons die Demokratie als integratives soziales System, um als Modell für die Transformation früherer (Deutschland und Italien) und – soweit absehbar – des zukünftigen Sowjetkommunismus zu dienen. Zwar waren auch Demokratien vor dem Verfall in anomische Zustände (McCarthyära) nicht gefeit, durch sozialen Wandel und "institutionalisierte Rationalisierung" konnten sie sich aber wieder aufrichten und stabilisieren. Dieser Standpunkt gewährte den optimistischen Ausblick, dass auch der Sowjetkommunismus früher oder später zum Untergang verurteilt war. The Social System war maßgeblich von seinem Engagement im Harvard Social Science War Effort und an der Social Science Research Council Initiative inspiriert. Parsons hatte nicht nur als Anti-Atomwaffenaktivist Stellung bezogen, später sollte er auch öffentlich für die Bürgerrechte der Schwarzen auftreten.

Im vierten Teil ihres Buches steht Parsons späte Theorie der 1960er-Jahre im Mittelpunkt. In The Social System verfolgte er das Ziel, die moderne Demokratie in ihrer entwickeltsten Ausformung einer neuen Analyse zu unterziehen, hatten doch die USA in der jüngsten Zeit im Lichte des Vietnamkriegs, der Bürgerrechtsbewegung und der Studentenrevolte einen strukturellen sozialen Wandel durchlaufen. Auch hier verfolgte die soziale Systemanalyse einen konkreten politischen Zweck: Die Gesellschaft sollte durch die Schaffung einer vernünftigen Wissensbasis vor einem neuen Weltenbrand bewahrt werden. So war ihm auch weiterhin politischer Aktivismus ein Anliegen. Als Präsident der American Academy of Arts and Sciences erhob er nicht nur das Wort gegen den Vietnamkrieg, sondern er bezeichnete auch Watergate als eine ähnliche Gefahr für die amerikanische Demokratie, wie einst der McCarthyism eine gewesen war. In der McCarthyära war Parsons selbst in den Verdacht geraten, ein kommunistischer Sympathisant gewesen zu sein.

Das Verfahren, das Gerhardt in ihrer intellektuellen Biografie anwendet, ist zweifelsohne ertragreich. Diese Art der dichten Beschreibung könnte auch methodische Impulse für die biografische Aufarbeitung anderer bedeutender deutschsprachiger Sozialwissenschaftler liefern. Zuvorderst sind die Österreicher Felix Kaufmann, Alfred Schütz und Paul Lazarsfeld namhaft zu machen, deren einflussreiches Wirken in den USA eine umfassendere intellektualbiografische Würdigung dieser Art längst verdienen würde. Diese Liste ließe sich aber um viele weniger bekannte und noch bekanntere Namen fortsetzen. Selbst Max Weber, dem Talcott Parsons Theorie viele Impulse verdankt, könnte durch eine Biografie dieser Art in neuem Licht erscheinen.

Editors Information
Published on
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Language of review