Zum deutsch-sowjetischen Krieg 1941 - 1945 existiert nicht nur eine kaum mehr überschaubare Flut an wissenschaftlicher, populärwissenschaftlicher und trivialer Literatur, manchmal mit fließenden Grenzen ineinander übergehend, sondern stehen sich mehr oder weniger unversöhnliche Positionen zu Ursachen und Charakter dieses Kernstücks des Zweiten Weltkriegs gegenüber. Während z.B. die einen in Ernst Noltes Definition vom Russlandfeldzug als "größtem Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg" der Geschichte 1 den eigentlichen Charakter des "Unternehmens Barbarossa" sehen, vertreten andere die Position, eigentlich habe Hitler-Deutschland am 22.Juni 1941 die Sowjetunion gar nicht überfallen, sondern wollte lediglich mit einer vorbeugenden Militäraktion einem vermuteten bevorstehenden Angriff der Roten Armee zuvorkommen - so im heutigen Russland mit Millionenauflage der ehemalige sowjetische Geheimdienstoffizier Viktor Suworow, dessen Monographie auch in Deutschland in einem Jahrzehnt neun Auflagen erreicht hat 2. Paradoxerweise können sich beide Lager auch auf Ernst Nolte berufen, der ein Vierteljahrhundert nach seiner Habilitationsschrift das eigentliche Wesen dieses Krieges zur präventiven Überreaktion Hitlers gegen angebliche sowjetische Vernichtungsdrohungen erklärte 3.
In dieser Situation ist es wichtig, alle wesentlichen internationalen Veröffentlichungen zum Thema einer kritischen Analyse zu unterziehen und derart kompetente wie fundierte Orientierungen gegen die Irrungen und Wirrungen sich widersprechender, teils auch emotionsgeladener Publikationen zu bieten. Gerd R. Ueberschär und Rolf-Dieter Müller gehen dieser Aufgabe in unaufgeregter und akribischer Art und Weise nach. Beide arbeiten seit Jahrzehnten in exponierter Funktion an der Klärung machtpolitischer, ideologischer, ökonomischer und militärstrategischer Bedingungsfaktoren des "Unternehmens Barbarossa": Rolf-Dieter Müller ist heute wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr in Potsdam; Gerd R. Ueberschär forschte von 1976 bis 1996 an derselben Institution und ist heute Historiker am Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. Beide vertreten den durch die allgemeine Geschichtsforschung gewonnenen und auch in der modernen Militärgeschichtshistoriographie anerkannten methodischen Ansatz, Militärgeschichte nicht als reine Operationsgeschichte zu sehen, sondern in seinen vielfältigen Verflechtungen mit internationalen, innenpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten zu begreifen. Die thematische Gestaltung des Bandes folgt den mittlerweile durch zahlreiche Einzelstudien und Gesamtdarstellungen erarbeiteten Forschungsschwerpunkten zur Geschichte des Ostkrieges. Die vorliegende Ausgabe ist die grundlegend neu bearbeitete Fassung des 1997 erstmals in englischer Sprache erschienenen Bandes. Alle relevanten Publikationen bis einschließlich 1999 werden berücksichtigt. Der Band wurde mit Unterstützung der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte publiziert.
Die Autoren gliedern ihre Analysen in sieben thematische Bereiche:
Politik und Strategie (Müller)
Die militärische Kriegführung (Ueberschär)
Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg im Osten (Ueberschär)
Besatzungspolitik (Müller)
Unmittelbare Kriegsfolgen (Müller)
Verdrängung und Vergangenheitsbewältigung (Ueberschär)
Fazit: Von der historischen Erinnerung zu den "Brücken der Verständigung" und Versöhnung sowie Probleme der öffentlichen Präsentation (Ueberschär).
Zu jedem Bereich wird jeweils ein kommentierender Forschungsbericht vorangestellt, der in das jeweilige Thema einführt sowie einen Überblick über Quellenprobleme und Forschungsfragen bietet. Als weiterführende Hilfe für den Studenten, Forscher und zeitgeschichtlich interessierten Leser bietet die jeweils nachfolgende Bibliographie die relevanten Titel zu den ausgewählten Themen. Für den schnellen Zugriff ist der Band mit einem Autorenregister versehen; ein Sachregister fehlt leider.
Bei aller akribischen Wissenschaftlichkeit scheuen sich Müller und Ueberschär keineswegs vor klaren Bewertungen strittiger Positionen und fordern ihrerseits den Benutzer auf, "sich mit Hilfe der vorangestellten Forschungsberichte und eigener Lektüre ein selbständiges Urteil zu bilden" (X). Eindeutig Position beziehen die Autoren zur Präventivkriegsthese und zum Charakter des Russlandfeldzuges als Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg. So resümiert Ueberschär nach einer kritischen Reflexion der Argumente der Vertreter der Präventivkriegsthese: "Bezeichnend für die neue Behauptung vom 'Präventivschlag' gegen den offensiven Aufmarsch der Roten Armee ist die Beobachtung, dass völlig darauf verzichtet wurde, der Frage nachzugehen, ob die deutschen Politiker und Militärs seinerzeit überhaupt in der Annahme handelten, Stalin zuvorzukommen, d.h. ob die Präventivkriegsvorstellungen den deutschen Entscheidungsprozeß eigentlich beeinflussten. Da dies nachweislich nicht der Fall war, verlegte man sich auf mehr oder minder vage Spekulationen über Stalins Politik und versuchte, Hitlers programmatische Motive für seinen Krieg gegen die Sowjetunion als bedeutungslos hinzustellen. Was dann dabei herauskam, ist ziemlich absonderlich. Der deutsche Diktator habe, als er der deutschen Wehrmacht befahl, die UdSSR zu überfallen, einen Präventivkrieg geführt, allerdings ohne es selbst zu wissen und ohne es bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen, obwohl er dann später die 'Präventivkriegsthese' von Propagandaminister Goebbels nachhaltig verbreiten ließ" (415).
Die weltanschauliche Ausrichtung des Krieges zeigt sich in aller Deutlichkeit bei den noch vor Kriegsbeginn herausgegebenen Anordnungen und verbrecherischen Befehlen, wie den "Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Nr. 21 (Fall Barbarossa)" vom 13. März (!) 1941, dem "Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit" vom 13. Mai 1941, den "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland" vom 19. Mai 1941 und den "Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare" vom 6. Juni 1941 sowie bei Hitlers Sonderauftrag an den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, der in eigener Verantwortlichkeit mit den SD-Einsatzgruppen unmittelbar hinter der Front in den rückwärtigen Heeresgebieten die physische Vernichtung des "jüdisch-bolschewistischen Untermenschentums" realisieren sollte. Dabei wurden die verbrecherischen Befehle, z.B. beim sog. "Kommissarbefehl" der Truppe und eben nicht den Einsatzgruppen der SS die Liquidierung der gefangengenommenen politischen Kommissare der Roten Armee abzufordern, von der Wehrmachtsführung mitgetragen. Ueberschär und Müller fassen den Forschungsstand wie folgt zusammen: "Zwar gibt es immer wieder Behauptungen, die deutschen Stäbe und Verbände hätten den Kommissarbefehl nicht ausgeführt oder bewusst fiktive Meldungen über erschossene feindliche Kommissare abgegeben, doch zeigt sich bei Nachprüfung im Detail, dass diese nachträglichen Schutzbehauptungen nicht zutreffen. Die verbrecherischen Befehle sind vielmehr überwiegend von den Divisionen, Korps und Armeen an der Ostfront ausgeführt worden. Anderslautende Forschungsergebnisse liegen bislang nicht vor" (227).
Anmerkungen:
1 Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action Francaise. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1963, S. 436.
2 Viktor Suworow: Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül, Stuttgart 1989, 9. Auflage 1996.
3 Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 - 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt a. M. 1987.