Dieser Sammelband könnte oberflächlich betrachtet, sehr schnell lediglich als kritische Bilanz marxistischer Forscher zum Thema 1848/49 angesehen werden. Schließlich zählen von den 11 Autoren 10 zu jenen, die zwischen 1928 und 1942 geboren wurden und ihre Sozialisation im Osten erfuhren. Rüdiger Hachtmann wäre dann der "Alibi-Wessi", der den produktiven Ost-West-Diskurs symbolisiert. Aber genau diese Sichtweise wäre falsch.
Walter Schmidt bilanziert zwar sehr kenntnisreich und kritisch die Forschungen zur Revolution von 1848/49 in der DDR und er tut dies im Vergleich mit dem entsprechenden westdeutschen Pendant, um Schwächen und Leistungen besser herausarbeiten zu können. Doch die folgenden 11 Studien zur deutschen Revolution dokumentieren in beeindruckender Weise die Ergebnisse eines konstruktiven Disputs jener Forschergeneration über Methoden und Schwerpunktsetzungen der eigenen Forschungen angesichts des internationalen Forschungsstandes. 1
Der Titel des Bandes offeriert bereits die große Spannbreite der einzelnen Studien. Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution, diese drei Begriffe stehen für die markanten politischen Richtungen dieser Jahre und sie werden durch empirische Untersuchungen zu den Denk- und Verhaltensweisen einzelner sozialer Gruppen, Schichten und Klassen in ihrer Differenziertheit und Komplexität zu fassen gesucht.
Einen Einblick in die revolutionären Aktionen, in die Verhaltensweisen ihrer Akteure und in die Zielrichtungen dieser gewähren uns zwei Beiträge, die sich einmal mit den Aktionen der schlesischen Bauern und Landarbeiter (Helmut Bleiber) und zum anderen mit dem Verhältnis zwischen dem "roten" Berlin und seinen "schwarzen" Vororten (Rüdiger Hachtmann) befassen.
Ausgelöst durch die städtischen Märzereignisse in Berlin und Breslau kam es auf dem schlesischen Lande zu einer Vielzahl mehr oder weniger gewaltsamer Protestaktionen, die Bleiber sehr sachkundig und detailliert beschreibt. Diese Märzaktivitäten der schlesischen Bauern und Landarbeiter gewähren einen tiefen Einblick in die heterogenen Denk- und Verhaltensweisen sowie in einige Kommunikationsformen der schlesischen Landbevölkerung. Seine Untersuchungsergebnisse resümierend, kann Bleiber das traditionelle Bild vom politisch ungebildeten, in seinem Gesichtskreis beschränkten und den Traditionen verpflichteten Bauern angesichts der Faktenfülle nur bestätigen. Dennoch gab es auch Ausnahmen, die er bewusst herausstellt. Vereinzelte antimonarchistische Äußerungen und die Informations- und Kommunikationsdichte der schlesischen Landbevölkerung bereichern das traditionelle vormärzliche und Revolutionsbild (Riehl) um einige neue Facetten, die wiederum geeignet sind, weitere Forschungen anzuregen. So bleiben beispielsweise für den Kulturhistoriker noch viele Fragen (Kommunikationsnetzwerke, Sozialisation, Rolle der Pfarrer und der Frauen usw.) offen.
Vom traditionellen Bauernbild zum Bild vom fortschrittsfeindlichen und den Kirchturm seiner Stadt nicht überblickenden Stadtbürger ist es nur ein kleiner Schritt, den Rüdiger Hachtmann souverän vollzieht. Die mehrdimensionalen Interaktionen zwischen dem "demokratischen Berlin" und den "konservativen Vororten Spandau und Charlottenburg" sowie dem Sonderfall des "demokratischen Potsdam" im Revolutionsjahr werden von Hachtmann an markanten Fallbeispielen illustriert. Das kleinstädtische Milieu (mentalitätsgeschichtlicher Ansatz) sowie die wirtschaftliche "Rückständigkeit" (strukturgeschichtlicher Ansatz) erklären dann die Dominanz konservativer Verhaltensweisen in der "Provinz" und die geringe politische Polarisierung in diesen Städten. Seine Argumentation ist in sich logisch und überzeugend. Punktuelle Bestandsaufnahmen, Wahlergebnisse und das königstreue Verhalten der Spandauer und Charlottenburger sprechen für sich. Weniger einleuchtend wird hingegen der Sonderfall des "demokratischen Potsdam" erklärt. Vielleicht sind ja die politischen Profilierungen in den Städten viel stärker, als bislang vermutet wurde, von der Wirkungsweise und der Ausstrahlung einzelnen Persönlichkeiten abhängig gewesen? Das besondere Engagement des Dr. Lehmann und Max Dortus in Potsdam oder des Lehrers Boltze in Cottbus, des Lehrers Kühling in Neuruppin, des Färbermeister Gäbeler in Guben sowie des Grafen von Goertz im Frankfurter Umland und des Herrn Kirchner in Frankfurt (Oder) sollten bei der Untersuchung des Revolutionsverlaufs in diesen Städten nicht unberücksichtigt bleiben. 2
Angesichts unseres sehr lückenhaften Kenntnisstandes hinsichtlich des Innenlebens der brandenburgischen Städte, daran hat auch das Revolutionsjubiläum nicht viel gebessert, sollte man mit Verallgemeinerungen ("schwarze Provinz") jedoch vorsichtiger umgehen. Lisa Riedel hat für Neuruppin nicht nur die Gründung eines "demokratischen Clubs" und dessen Engagement nachgewiesen, sondern auch eine starke innerstädtische politische Polarisierung. Doch hatten es die Demokraten sicherlich nicht nur in dieser Stadt ungleich schwerer, sich öffentlich zu betätigen und zu artikulieren, weil angesichts der allgegenwärtigen Überwachung, der befürchteten Repressionen und der existenziellen Bedrohungen mehr Vorsicht und Zurückhaltung geboten schien. 3 Empirische Untersuchungen für weitere Städte deuten ebenfalls darauf hin, daß das Bild von der "schwarzen Provinz" der Realität weniger entsprach als dem Wunschbild der zeitgenössischen und späteren Geschichtsschreibung. 4
Wie sehr Vorurteile und vom Standesdünkel determinierte Voreingenommenheit das Urteilsvermögen der Zeitgenossen beeinträchtigten, erfährt der Leser auch in dem quellennahen Beitrag von Kurt Wernicke, der die vielseitigen Aktivitäten des Berliner Handwerkervereins (1848-1850) und die Reaktionen der staatlichen Behörden auf diese erstmals umfassend beschreibt. Dem Leser wird mittels der detaillierten Geschichte dieses Handwerkervereins auch gleichzeitig ein interessanter Einblick in die nur schwer zu fassenden Prozesse der politischen Profilierung, Differenzierung und Umorientierung einzelner Akteure und ganzer sozialer Gruppen gewährt.
Die Ereignisse der Jahre 1848/49 bewirkten bei vielen Zeitgenossen eine nachhaltige Reflektion über politische Standpunkte und Verhaltensweisen, die zu politischen Um- bzw. Neuorientierungen oder zur Verfestigung einstiger Ansichten führten. Hier bedarf es jedoch noch umfassender mentalitäts- und kulturwissenschaftlicher Forschungen. Ralf Dlubek unternimmt es, diesen durch die Revolutionsereignisse bewirkten politischen Klärungsprozess am Beispiel der Biographie des international agierenden Revolutionärs Johann Philipp Becker zu dokumentieren. Der "demokratische Republikaner" entwickelt sich durchaus nicht linear zum Marxisten. Seine alltäglichen Erfahrungen ließen ihn zum Marxisten reifen. Nebenbei kann der Leser auch neue Einsichten in die Schweizer Gemeinde des Bundes der Kommunisten und ihre Protagonisten gewinnen.
Eine umfassende quellenkritische Analyse ermöglichte Martin Hundt, neue Überlegungen zur historischen Verortung der "17 Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland" zur Diskussion zu stellen. Die ungeheure Dynamik der dem Februar 1848 folgenden Ereignisse, die den von Marx und Engels angedachten möglichen Revolutionsverlauf in der Realität überholten, könnte den Inhalt der Forderungen erklären. Die von Hundt vorgenommene historische Verortung der republikanischen Traditionen in Deutschland ist nicht nur im Hinblick auf die Erwartungen von Marx und Engels bislang unterschätzt worden. 5 Weniger in das Blickfeld der bisherigen Forschung geriet auch die Erkenntnis, das die Verfasser der 17 Forderungen die Kausalität von der Errichtung nationaler Republiken und einem Krieg gegen Russland zwar nicht explizit formulierten, aber dennoch davon ausgingen.
Mit den Druckereibesitzern, die die "Neuen Rheinischen Zeitung" druckten, ihren wirtschaftlichen Verhältnissen, ihrem politischen Engagement und ihren Verhaltensweisen angesichts der sich rasant ändernden politischen Lage beschäftigt sich der Beitrag von François Melis. Erstmals wird hier eine plausible Erklärung für den Druckereiwechsel der "Neuen Rheinischen Zeitung" geboten.
Einen umfassenden Einblick in die ambivalenten Aktionen und Reaktionen der Liberalen, der Demokraten und der Konservativen in diesen ereignisreichen und politische Entscheidungen fordernden Jahren gewährt Gunther Hildebrand mit seinem Aufsatz über die Verfassungsdebatte in der Frankfurter Nationalversammlung Ende 1848/Anfang 1849. Dabei vermag es Hildebrand, das Agieren der politischen Akteure auf den verschiedenen Bühnen der deutschen und europäischen Staatenwelt miteinander zu verzahnen und so die Komplexität und die Problematik der Debatte zu veranschaulichen. Möglichkeiten und Grenzen liberaler Politik werden überzeugend aufgezeigt.
Die spezielle Sichtweise eines österreichischen Diplomaten und Getreuen Metternichs, des Joseph Graf Trauttmansdorff-Weinsberg, auf die turbulenten Ereignisse in Berlin des Jahres 1848 dokumentiert Harald Müller an Hand von Gesandschaftsberichten. Die politischen Interaktionen der beiden Höfe (Berlin und Wien) werden so aus einer anderen Perspektive heraus beleuchtet. Gleichzeitig werden jedoch auch die Grenzen der Wahrnehmung der historischen Realität durch einzelne Persönlichkeiten diskutiert.
Die Verstrickungen der preußischen Regierung im deutschen und europäischen Mächtekampf thematisiert Konrad Canis mit seinem Aufsatz "Vom Staatsstreich zur Unionspolitik". Nach dem Schockerlebnis im Frühjahr 1848 führte eine intensive politische und philosophische Debatte innerhalb der konservativen Elite zu einer flexibleren Strategie der Camarilla, die mit dem Begriff "Konterrevolution" nicht zu fassen, sondern durch eine geschickte Synthese von modernen und stabilisierenden Elementen charakterisiert ist. Diese die Innen- und Außenpolitik betreffende Strategie blieb nicht ohne Erfolg.
Die letzten beiden Aufsätze dieses Bandes reflektieren den Umgang mit Geschichte, ihren Symbolen und Denkmälern unter sich verändernden politischen Rahmenbedingungen. Hans Czihak berichtet über den zähen Kampf um die Ausgestaltung des Friedhofes der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain von 1848 bis 1957. Das stete Bemühen der "Linken" um die würdige Ehrung jener Märzkämpfer und das von der Großwetterlage determinierte Verhalten der Konservative in der Regierung und in den Verwaltungsgremien Berlins veranschaulichen den Prozess der Symbolisierung dieses historischen Ereignisses.
Sicherlich nicht zufällig stellte Walter Schmidt seine empirischen Forschungen zum Wirken Karl Griewanks und zum Zentenarium von 1848 an den Abschluss dieses Bandes. Das Jubliäum 1948 und das Wirken des Historikers und Begründers der Demokratieforschung Karl Griewank dokumentieren die Korrelation von Wissenschaft und Politik in einer politisch brisanten Zeit.
Anders als 1948 zeichnen sich die Publikationen zum 150. Jahrestag der Revolution durch eine Vielzahl neuer Blickrichtungen auf das deutsche und europäische Revolutionsgeschehen, auf einzelne Ereignisse und Prozesse aus. Unser Bild von diesen Revolutionen ist somit farbiger oder kulturhistorisch geprägter geworden. Dennoch gilt es, noch dunkle Flecken zu erhellen. Und genau dies gelingt Walter Schmidt mit der Herausgabe der 12 hier vorgestellten empirischen Studien.
So vielgestaltig das "merkwürdige Jahr 1848" (Gustav Kühn) oder das "Epochenjahr" (Dieter Langewiesche) war, so heterogen sind auch die Akteure und Ereignisse, die in diesem Band Beachtung fanden. Dies wird wohl nur jenen als Mangel erscheinen, die thematisch eng begrenzte Sammelbände bevorzugen.
Anmerkungen:
1 Dieser offenen, ehrlichen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe und den eigenen Forschungen gebührt meine größte Hochachtung, nicht nur, weil es sich um meine Lehrergeneration handelt, sondern auch, weil die westdeutschen Koryphäen der Historikerzunft gerade angesichts der NS-Vergangenheits-Bewältigungsdebatte demonstrieren, daß es ihnen sehr schwer fällt, eine kritische Bilanz zu ziehen.
2 Siehe Gerhard Falk,(Bearb.), Die Revolution 1848/49 in Brandenburg. Eine Quellensammlung, Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris, Wien 1998 (Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 5).
3 Liesa Riedel, Die bürgerlich-demokratische Revolution 1848/49 im Kreis Ruppin und der Stadt Neuruppin, MS, Diplomarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, Neuruppin 1965. (erscheint 2000 bei Rieger Edition in Neuruppin).
4 Die provinziellen Barrikadenkämpfer, die in Berlin ihr Leben ließen, oder die zahlreichen brandenburgischen Stadtverordneten, die nach Berlin liefen, um den Märzgefallenen das letztes Geleit zu geben, dokumentieren ein anderes Bild des Verhaltens jener Provinzbewohner. Netzwerkanalysen, wie sie Carola Lipp für Esslingen vornahm, würden auch für die brandenburgischen Städte völlig neue Einsichten in die politische Kultur jener Jahre gewähren. Siehe u.a. Carola Lipp, Aktivismus und politische Abstinenz. Der Einfluss kommunalpolitischer Erfahrung und lebensweltlicher Strukturen auf die politische Partizipation in der Revolution von 1848/49, in: Christian Jansen und Thomas Mergel (Hgg.), die Revolution von 1848/49. Erfahrungen-Verarbeitung-Deutungen, Göttingen 1998, S. 97-126.
5 Die Wurzeln jener republikanischen Tradition reichen jedoch weit über 1789 zurück und sie wurden innerhalb Deutschlands nicht nur in Süddeutschland wachgehalten, wie u.a. Forschungen von Heinz Schilling, Ralf Pröve und Evamaria Engel belegen.