Die Studie von Brigitta Schmidt-Lauber über Ethnizität deutscher Namibier ist eine Studie über das Phänomen "Grenze". Anhand von Interviews und Beobachtungen, die sie während ihrer viermonatigen Feldforschung 1994 in Namibia machte, geht Schmidt-Lauber der Frage nach, wie und warum deutsche Namibier durch ihr Reden und Handeln Grenzen zu schwarzen Mitbürgern konstituieren. Namibia war von 1884 bis 1919 deutsche Kolonie, und als deutsche Namibier verstehen sich heute - und die Autorin folgt ihnen in dieser Definition - "Nachfahren von Siedlern, die zur Kolonialzeit eingewandert waren, oder später in verschiedenen Migrationswellen bis in die Gegenwart zugezogene Migranten aus Deutschland" (S. 9).
Diese Studie überschreitet aber auch Grenzen. In aller Regel vermutet man bei Arbeiten über "deutsche Kultur" Volkskundler, Historiker oder Germanisten als Verfasser sowie man bei einer Monografie über Namibia Einblicke in die "fremden Welten" einer der zahlreichen Ethnien erwartet. Lange Zeit waren die Fächer Volkskunde und Ethnologie deutlich voneinander getrennte Wissenschaften, mit ihren eigenen Theorien, Methoden, Perspektiven durch die jeweilige Wissenschaftsgeschichte definiert. Seit geraumer Zeit sind Versuche der Annäherung und Zusammenarbeit von Vertretern beider Fächer unübersehbar. Im September 1999 fand erstmals an der Universität Tübingen ein von Volkskundlern und Ethnologen organisierter Kongreß zur Deutschlandforschung statt. Auch die vorliegende Studie von Brigitta Schmidt-Lauber, Ethnologin am Hamburger Institut für Volkskunde, reiht sich in diese junge Tradition ein. Begrifflichkeiten beider Wissenschaften wendet sie auf das Thema "deutsche Identität in Namibia" am Schnittpunkt von Volkskunde und Ethnologie an (S. 23-40). Doch nicht nur das! Wenn auch die Forschungsgegenstände von Volkskunde und Ethnologie stets verschieden waren, so läßt sich die "Suche nach Ursprünglichkeit in der Primitivität" (Gisela Welz, Inszenierungen kultureller Vielfalt, Berlin 1996, S.42f.) als das Erkenntnisziel beider Wissenschaften formulieren.
Schmidt-Lauber nähert sich jedoch dem Thema nicht mit rückwärtsgewandtem Blick in der Absicht, "Relikte eines Deutschtums" zu finden. Ihr geht es auch nicht darum, Namibier fernab der deutschen Heimat anhand eines Merkmalkatalogs als "deutsch" bzw. als "besonders deutsch" darzustellen, wie es Journalisten gerne tun. Ihr Ziel ist es, ausgehend vom sozialen und historischen Kontext des südlichen Afrikas den "alltäglichen Erfahrungsgehalt" (S. 15) von Ethnizität für deutsche Namibier nachzuzeichnen (S. 51). Vier Jahre nach der Unabhängigkeit von Südafrika und dem Ende der Apartheid - im Jahr 1994 zum Forschungszeitpunkt - ist Ethnizität ein aktuelles und politisch brisantes Thema, wie die Studie zeigt. Beruhend auf einer fundierten Diskussion der Arbeiten u.a. von Barth, Bourdieu, Gellner und Anderson, präzisiert sie ihre Sicht auf Ethnizität und formuliert ihr Anliegen in der These, daß "die ethnische Identität deutscher Namibier eine aktive soziale Praxis entschlüsselbarer Konstruktionen und sozialen Handelns ist, in denen und durch die Grenzen Gestalt annehmen" (S. 36). Dieser Ansatz stellt insofern ein Novum dar, als Schmidt-Lauber, ausgehend von der Alltagspraxis, sich auf den Weg macht, den Prozeß der Ethnisierung, d.h. des Redens und Agierens hinsichtlich der kulturellen Differenz selbst, aufzuzeigen, und darüber hinaus nach den Begründungen der permanenten Realisierung im Alltag fragt. Nicht ein -Ismus oder ein Merkmalskatalog, sondern die Alltagspraxis ihrer Informanten stehen im Mittelpunkt der Arbeit, deren Grundlage 152 Interviews sind. Die Mehrzahl der Gesprächspartner gehören zu den wohlhabenden Mittel- und Oberschichten, Arbeiter und Arbeitslose sind nicht dabei. Als repräsentativ bezeichnet sie das Sample, da Personen der Berufsfelder, in denen man deutsche Namibier in der Regel findet, vertreten sind. Zur Verfügung standen ihr zudem Daten, die sie bei einem früheren Aufenthalt im Jahr 1988 aufnahm (S. 61f.).
Nach Einleitung und Erläuterung der theoretischen Ansätze stellt Brigitta Schmidt-Lauber im dritten Kapitel Lebensformen deutscher Namibier vor. Wie gestaltet sich, äußerlich sichtbar für den Betrachter, der Alltag auf einer Farm und in der Stadt, und wie zeigt er sich in den Erzählungen deutscher Namibier? Diese Fragen beantwortet sie anhand von - streckenweise etwas langatmigen und recht pauschal wirkenden - Schilderungen einzelner Lebensbereiche wie Wohnen, Nahrung, Arbeit, Mobilität. Dabei untersucht sie vor allem Orte und Formen der Begegnung von Schwarzen und Weißen, die sich nach wie während der Apartheid hauptsächlich im Arbeitsbereich finden. Interessant ist, daß trotz vielfältiger Begegnungsmöglichkeiten, vor allem in der Stadt, diese in den Erzählungen der Weißen kaum erwähnt werden (S. 141). Suggeriert Apartheid das Leben von Grenzen aufgrund räumlicher, juristisch festgelegter Trennung, führt Schmidt-Lauber den Leser in diesem Kapitel zum Verständnis, daß "Grenze als eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt, zu verstehen ist"(S. 179). Eindrucksvoll belegt sie dies am Beispiel der Alltagspraxis an dem Ort, wo es "zwangsläufig zu Überschneidungen" (S. 162) von Schwarzen und Weißen kommt, der Küche. Weiße Frauen erzählten ihr vom "ersten Ekel" vor schwarzen Hausangestellten, daß schwarze Frauen ihre Kinder zwar erzögen, ihnen aber trotz aller Zuneigung die Anerkennung der sozialen Mutterschaft verweigerten. Sie sah, daß Schwarze andere Speisen erhalten. Sie hörte sich die "Hausfrauensorgen" angesichts der "mangelnden Sauberkeit" Schwarzer an. Und sie schreibt: "Die Küche ist ein solcher alltäglicher Raum der Begegnung, in dem kulturelle Normen gelebt und Grenzen folgenreich gezogen werden. Die Grenzziehungen treten gerade in den Bedürfnissen und Selbstverständlichkeiten des Alltags zutage, gründen sogar in emotionalisierten Zuschreibungen und sind damit weit wirksamer als viele Gesetzestexte es waren oder sein können" (S. 158). Auch die Forschungspraxis traf diese Grenzziehung. Die Autorin fand zu den Hausangestellten keinen Zugang.
War es auch ein Ziel des dritten Kapitels, durch die Schilderungen einem Bild von deutschen Namibiern als einer sozialen homogenen Gruppen entgegenzuwirken, stellt Schmidt-Lauber sie gleich zu Beginn des vierten Kapitels als eine "Sprechergemeinschaft" (S. 182) vor, die über das gleiche Repertoire an Rechtfertigungs- und Selbstvergewisserungsstrategien verfüge. Anhand einer Analyse des Diskurses - bemerkenswert sind ihre kurzen und präzisen Erläuterungen bei Einführung von Begriffen, wie hier "Diskurs" - arbeitet sie Eigen- und Fremdverständnis heraus, die sich einander bedingen. Letzteres liest sich wie aus einem Buch Rousseaus oder einem Klassiker des Evolutionismus. Das Reden über die "andere Mentalität" (S. 189), die sie bereits "mit der Muttermilch aufgesaugt" hätten (S. 195) oder "über die Stämme", die "noch nicht so weit sind" (S. 226) entlarvt die Autorin durch ihre genaue Analyse der widersprüchlichen und flexiblen Anwendung als Mechanismen der Verortung seitens deutscher Namibier. "Das Charakteristische an der ethnischen Grenzziehung zeigt sich nicht in dem Grad der Ablehnung oder Verfremdung von Menschen, nicht in der konkreten Begründung der Grenze und ihrer Implikation, sondern in der Instrumentalisierung von Menschen als ganz andere" (S. 231). Während über Schwarze stets im Plural als Repräsentanten eines Kollektivs gesprochen werde, stellen sich deutsche Namibier unabhängig von sozialer Position und politischer Ansicht, so die Autorin, als ein Kollektiv von Individualisten vor, die stark und eigenverantwortlich ihr Schicksal gestalten (S. 248). In scharfem Kontrast zur Sicht auf die "unterentwickelten Stämme" stehe dabei die Redefigur des "Pioniers" der ersten Stunde, der aus dem "Nichts" und unter "harten" Bedingungen das Land aufgebaut habe (S. 241). Dies, die Überhöhung Namibias als schöner Natur (S. 257) und das unerbittliche Festhalten an gründerzeitliche Geschichtsmythen arbeitet Schmidt-Lauber als Merkmale des Diskurses des Eigenen heraus, wobei sich noch eine andere Grenze offenbart, die zu den Bundesdeutschen. Ihre Ausführungen über die abgewehrten Versuche des deutschen Botschafters, das Geschichtsbild deutscher Namibier zu modernisieren, oder über die "Pilgerfahrten nach Deutschland" belegen, daß sich deutsche Namibier ihre idealisierende Sicht auf ihre Geschichte nicht nehmen lassen und sich auch darüber definieren (S. 282-299). Die Autorin ist Bundesdeutsche, und die Frage stellt sich, wie diese Grenzziehung ihre Feldforschungspraxis beeinflußt hat. Auch wenn die Autorin zu Beginn über Skepsis und Vertrauen, das sie gewann, schreibt und im weiteren auch Einblicke in Interviewdynamiken gibt, so hätten Ausführungen über ihre "deutsch-deutschen Verhandlungen" an dieser Stelle der Grenze abrundend gewirkt.
Im fünften Kapitel zeigt sie die Versuche von Institutionen, allen voran der Schule, und privater Netzwerke, sich in den Zeiten nach dem Umbruch zu öffnen bzw. die "Grenze" zu sichern. Ein Reiz der Studie ist es, daß die Autorin an dieser Stelle nicht halt macht, sondern ein Licht auf aktuelle und historische Grenzfälle wirft und nach ihren Wirkungen auf die Grenzziehung und ihren Potentialen für einen sozialen Wandel im heutigen Namibia fragt. Schmidt-Lauber stellt Biografien deutscher Namibier, die sich als Ausnahme empfinden, Schwarzer mit deutschen Vorfahren und von "DDR-Kindern" vor. Unter letzteren versteht sie die Kinder, die die SWAPO einst aus Sicherheitsgründen in die DDR brachte. Gut 70 Jahre nach Ende der deutschen Koloniemacht und kurz nach der Unabhängigkeit von Südafrika wurden diese schwarzen Deutschen 1990 "repatriiert" (S. 402-407). Anhand dieser Daten zeichnet sie zum einen den historischen Prozeß der Grenzziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach und kommt zum anderen zu dem Schluß, daß die Grenze heute über ein erhebliches Maß an Flexibilität verfügt und die gelebte soziale Praxis und ihre Begründungen auch angesichts von Grenzfällen aufrecht erhalten bleibt (S. 427/443). Sie schreibt zum Schluß: "Die Grenze ist ein fortwährender sozialer Prozeß des flexiblen Ein- und Ausschlusses" (S. 429).
Ein Verdienst der Studie ist, anhand der aktuellen politischen Entwicklungen das Gesagte über die "Grenze" einer abschließenden Betrachtung zu unterziehen. Die Rede von der "verkehrten Hautfarbe", die deutsche Namibier 1994 sowohl sich selbst zuweisen als auch den "DDR-Kindern", zeuge zwar von der Persistenz der Kategorie Rasse im Diskurs (S. 422/430), aber zugleich von Verunsicherung, die Ansätze für eine Änderung der sozialen Praxis bergen könne. Als Faktoren hebt sie u.a. die erstmals stattfindende Begegnung von Schwarzen und Weißen in den Schulen sowie die Präsenz schwarzer Jugendlicher hervor, die in Deutschland sozialisiert wurden und selbstbewußt eine Jugendkultur leben. Dies könnte eine Pluralisierung von Lebensstilen versprechen. Doch vorerst stellt Schmidt-Lauber für die gegenwärtige Gesellschaft fest, "daß eine Ambivalenz zwischen gesteigertem Gruppenzwang und Optionen auf andere als ethnische Identitätskategorien existiert" (S. 441). Eine Studie, die keiner Frage eine Antwort schuldig bleibt!