S. Luzzatto u.a. (Hrsg.): Dizionario del fascismo

Luzzatto, Sergio; De Grazia, Victoria (Hrsg.): Dizionario del fascismo. Vol.1: A-K. Turin 2002 : Einaudi, ISBN 88-06-15385-4 704 S. € 74,00

Luzzatto, Sergio; De Grazia, Victoria (Hrsg.): Dizionario del fascismo. Vol. II: L-Z. Turin 2003 : Einaudi, ISBN 88-06-16511-9 862 S. € 78,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Tacke, Castelfiorentino

Victoria de Grazia und Sergio Luzzatto haben den ambitionierten Versuch unternommen, den italienischen Faschismus mithilfe der Ordnung des ABC zu erfassen. Zwischen „Accademia d’Italia“ und „Zona grigia“ haben sie zusammen mit einer international besetzten Gruppe von mehr als 180 Mitarbeiter/innen über 660 Stichworte in zwei Bänden zum „Dizionario del fascismo“ zusammengetragen, die in ihrer Gesamtheit einen wertvollen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und die aktuellen Forschungsprobleme zum italienischen Faschismus vermitteln.

Ein Lexikon schien den Herausgeber/in nicht nur als geeignetes Medium, um die ganze Bandbreite des Phänomens Faschismus mit seiner enormen Varietät von Themen zu erfassen. Nicht nur Ereignisse, Personen und Institutionen, sondern auch Konzepte, Slogans und Symbole sind zusammengetragen worden, um dem Anspruch gerecht zu werden, nicht nur ein nützliches Nachschlagewerk zu erstellen, sondern mithilfe des Alphabets mehr zu schaffen, als eine Überblicksdarstellung eines einzelnen Autoren oder eines Autorenteams hätte leisten können. Wie in jedem Lexikon stehen sich ausgesprochen gelungene Synthesen weniger gelungenen Artikeln gegenüber. Das allerdings kann das Gesamturteil keineswegs schmälern. Insgesamt vermittelt das Dizionario del Fascismo einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. Ein Literaturverzeichnis mit der wichtigsten weiterführenden Literatur, die oftmals auch nichtitalienische Literatur zitiert, macht das Lexikon auch wertvoll für diejenigen, die der italienischen Sprache nicht oder nur rudimentär mächtig sind. Eine englische Übersetzung wäre jedoch auch im Hinblick auf die Benutzung dieses Werkes in der Lehre ausgesprochen wünschenswert.

Bei der Rezension eines Lexikons macht es wenig Sinn, sich inhaltlich mit einzelnen Artikeln auseinanderzusetzen. Vielmehr soll hier versucht werden, einen kritischen Blick auf das Gesamtkonzept des Lexikons zu werfen. Der Anspruch der Herausgeber/in, ein in sich geschlossenes Gesamtwerk zu schaffen, wird durch elf thematische Diagramme („Bäume“) zu Beginn des ersten Bandes dokumentiert, in denen alle Stichworte des Lexikons einzelnen großen Themen des Faschismus zugeordnet und untereinander in Beziehung gesetzt werden. Die einzelnen Bäume sind: „Liberaler Staat“, „Regime“, „Patriarchat“, „Ökonomie“, „Gesellschaft“, „Religion“, „Kultur“, „Konsens“, „Außenpolitik“, „Faschismen“ und „Zweiter Weltkrieg“.

Deutlich wird bereits in diesen Leitthemen der im Vorwort ausgesprochene (aber auch noch im gegenwärtigen Italien und zehn Jahre nach dem Tod von Renzo De Felice nicht selbstverständliche) Anspruch der Herausgeber/in, den italienischen Faschismus zu historisieren, ihn in der Kontinuität des vorausgehenden liberalen und nachfolgenden republikanischen Italien zu interpretieren und ihn international in Beziehung zu setzen mit anderen faschistischen und autoritären Regimen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das ist mehr als überfällig. Aber: wer ordnet, interpretiert.

Auch wenn die thematische Gruppierung der Stichworte zu einzelnen „Bäumen“ für die Orientierung im Lexikon zunächst sinnvoll erscheint, haben die Leser/innen einen Anspruch darauf, mehr über die inhaltliche und konzeptionelle Begründung dieser Ordnung und Zuordnungen zu erfahren. Dies umso mehr als einzelnen Themen, wie etwa dem Thema „Gewalt“, in der Einleitung zwar eine gewichtige Rolle in der Herausbildung und Stabilsierung des Faschismus zugesprochen werden, dem Thema „Gewalt“ jedoch weder ein eigenes Stichwort noch ein „Baum“ zugeordnet wird. So werden Stichworte wie „Squadrismus“, „Rhizinusöl“ und „Manganello“ letztlich politisch argumentierenden „Bäumen“ wie „liberaler Staat“ und „Regime“ zugeordnet (und kommen auch inhaltlich weitgehend ohne den Bezug zu Gewalt als historischem und sozialem Phänomen aus), sie hätten aber mit ebenso viel Recht den „Bäumen“ „Gesellschaft“, „Patriarchat“ oder „Consenso“ zugeordnet werden können, wenn schon nicht einem eigenen Stichwort, eben: „Gewalt“. Zumindest hätte die Zuordnung der Stichworte konzeptionell begründet werden müssen. Die Leser/innen erfahren aber außer einer formalen Erklärung zu den „Bäumen“ nichts über ihre interne Logik.

Auch das Phänomen „Razzismo“ wird im Baum „Regime“ abgelegt, im Baum „Società“ oder „Consenso“, aber auch „Patriachat“, wo man es doch mit mindestens ebenso viel Recht hätte suchen können, fehlt jeder Verweis auf Rassismus als gesellschaftliches Phänomen oder doch wenigstens als Mittel der Konsenzbeschaffung im Faschismus. Hingegen interpretiert zwar auch der Artikel „Razzismo“ von Gianluca Gabrielli den italienischen Rassismus in erster Linie als „Razzismo di stato“, nicht aber ohne auch auf gesellschaftliche „latente“ Formen des faschistischen Rassismus in Italien und vor allem in den Kolonien vor 1938 hinzuweisen. Damit geht er weit über die Einordnung des Rassismus als Phänomen des Regimes, wie es die Herausgeber/in offensichtlich verstehen, hinaus. Unter dem Baum „Außenpolitik“ und „Colonialismo“ sucht man hingegen vergeblich nach Stichworten, die den Bezug zwischen Kolonialismus, Rassismus und Rassengesetzen herstellen würden. Dafür findet man schließlich das Stichwort „Konzentrationslager“ unter dem Baum „Zweiter Weltkrieg“ und „Occupazione tedesca“: Liest man hingegen den Beitrag „Campi di concentramento“ von Carlo Spartaco Capogreco stellt man erstaunt fest, dass er sich weitgehend darauf beschränkt, rein schematisch die italienischen Konzentrationslager zu nennen und aufzuzählen. Nicht nur fehlt eine Analyse der Rolle von Konzentrationslager im italienischen Faschismus. Nur ein kurzer letzter Abschnitt behandelt das Durchgangslager Fossoli „per gli ebrei destinati alla ‚soluzione finale’“. Wie kann man ein für die Faschismusforschung so zentrales Thema wie „Campo di concentramenti“ darauf reduzieren, die einzelnen italienischen Konzentrationslager lediglich aufzulisten sowie regional und zeitlich zu verorten? Kein Wort zur Funktion von Konzentrationslagern im italienischen Faschismus, kein Wort über die Lebensbedingungen der Insassen, die Gründe ihrer Internierung, die Formen der Gewalt etc. – vor allem nicht ein (vergleichender) Blick auf deutsche Konzentrationslager. Die Herausgeber/in haben darauf verzichtet, die Verfasser/innen auf ihre politische Zugehörigkeit zu kontrollieren, das ist ehrenvoll – und in Italien vielleicht nicht gerade selbstverständlich –, aber eine inhaltliche Kontrolle wäre an einigen, vor allem eben auch gerade in der italienischen Historiografie und Öffentlichkeit so umstrittenen Stichworten doch sinnvoll gewesen.

Insgesamt fällt auf, wie stark ‚intentionalistisch’ die Faschismusforschung nach wie vor argumentiert und wie wenig sie in dieser Hinsicht aus den Fußstapfen eines De Felice herausgekommen ist. Ein Indiz dafür ist bereits, wie häufig Mussolini in den einzelnen Artikeln mit seinen politischen Vorstellungen und Intentionen zitiert wird. „Il fascismo“, „il regime“ und „il duce“ werden häufig synonym verwendet. So ordnen auch die Herausgeber/in das Stichwort „Rassismus“ nahezu ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines „Razzismo di stato“ ein und interessieren sich offensichtlich wenig für sozio-kulturelle Probleme des Rassismus in Italien. Ebenso werden auch Fragen der Geschlechtergeschichte konzeptionell weitgehend auf „intentionalistische“ Aspekte reduziert und unter dem Baum „Patriarchat“ konzeptualisiert. Die Herausgeberin und Verfasserin des Stichwortes „Patriarchat“, Victoria de Grazia, versteht darunter vor allem die durch das faschistische Regime organisierte und intendierte Herrschaft der Männer über die Frauen. „Descrivere la dittatura di Benito Mussolini (sic!) come una forma peculiare di patriarcato consente di cogliere i caratteri originali del regime fascista in ordine alle relazioni tra i sessi.“ Geschlecherfragen werden hier vor allem im Hinblick auf ein autoritäres Regime und seine staatlichen Maßnahmen diskutiert, die von den Massen (und besonders von den Frauen) passiv erlitten wurden; Geschlechterfragen werden hingegen kaum in Beziehung gesetzt zu dem, was die Faszination des Faschismus, was die aktive Mobilisierung der Massen im Faschismus, die Mobilisierung von Männern und Frauen ausmachte. Und: Nach wie vor werden Fragen der Geschlechtergeschichte unter den „typischen“ Themen der Frauen- oder Männergeschichte diskutiert (z.B. „Bordello“, „Ballo“, „Männlichkeit“, „Famiglia“, „Uomo nuovo“), während alle anderen Stichworte dadurch offensichtlich von Fragen der Geschlechterdifferenz völlig entlastet werden. (Kann man „Squadrismus“ ohne Bezug zur Geschlechtergeschichte diskutieren? Frank M. Snowden kann es!) Wenn das „Patriarchat“, wie de Grazia betont, ein Schlüssel für die Interpretation des Faschismus ist, dann können Fragen der Geschlechtergeschichte nicht nur auf die „Frauenthemen“ abgeschoben werden. Apropo „Frauenthemen“: Auch in der Aufteilung der Stichworte auf männliche und weibliche Autor/innen hat sich wenig verändert. Während die Beiträge des „Baumes“ „stato liberale“ zu mehr als 95 Prozent von Männern verfasst wurden, sind zwei Drittel der Autor/innen des Baumes „Patriarchat“ Frauen. Das kann natürlich nicht den Herausgeber/in angelastet werden, aber leider ist es kein Zufall.

Nicht zuletzt hätte man sich angesichts der internationalen Besetzung der Autor/innen eine größere Öffnung zu vergleichenden Fragen der Faschismusforschung gewünscht. Obwohl die Herausgeber/in die Notwendigkeit betonen, den italienischen Faschismus mit anderen zeitgleichen Regimen zu konfrontieren, haben sie es offensichtlich letztlich der Initiative der Autor/innen überlassen, inwieweit sie ihre Themen in vergleichender Perspektive diskutierten bzw. in eine weitere Perspektive stellten. Vergleichende Fragen der Faschismusforschung werden nur sehr selten angeschnitten, obwohl es oftmals (wie etwa beim Stichwort „Konzentrationslager“, aber auch „Antisemitismo“) für die Einordnung und das Verständnis ausgesprochen sinnvoll gewesen wäre. Themen des historischen Transfers zwischen verschiedenen faschistischen Gesellschaften oder autoritären Regimes werden nicht diskutiert; letztlich wird der italienische Faschismus (und Rassismus) ganz aus sich selbst heraus interpretiert. Robert O. Paxton betont unter dem Stichwort „Fascismi“, dass ohne einen Faschismusbegriff, ein historischer Vergleich zwischen faschistischen Gesellschaften unmöglich wäre. Darüber lässt sich, wie ich meine, heftig streiten; wichtig wäre aber erst einmal, den Vergleich voranzubringen.

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