Wenn man jemandem erzählt, daß man Ethnologie studiert hat, wird man häufig mit der Bemerkung beglückt, daß das aber ein interessantes, ausgefallenes und exotisches Betätigungsfeld ist. Mit dieser Einstiegsbemerkung ist der unmittelbare Übergang geschaffen zur besorgten Anfrage, ob und was man denn mit so etwas Exotisch-Ausgefallenen auf dem harten Arbeitsmarkt anfangen könne. Die unterschwellige Annahme "Ja wohl eher wenig" ist dabei kaum zu überhören. Vor einiger Zeit hat eine Forschung über die Berufschancen von Ethnologen ergeben, daß ein großer Teil der Absolventen (ca. 70 Prozent) zwei Jahre nach dem Studienabschluß eine Stelle hat. Die Beschäftigungsfelder sind vielfältig: Medien, Verlage, Bildungsinstitutionen, Kultureinrichtungen. In fast allen Fällen spielt die ethnologische Qualifikation eine Rolle, wenn auch nicht die Hauptrolle. Auf dem Arbeitsmarkt erfolgreiche Ethnologen weisen fast alle weitere, stärker arbeitsmarktbezogene Qualifikationen auf, die sie neben ihrem Ethnologiestudium erworben haben. Neben den oben erwähnten - eher klassischen - Arbeitsfeldern erkunden Ethnologen zur Zeit ein neues mögliches Berufsfeld: die Industrie- und Unternehmensforschung. Dabei geht es nicht um eine akademisch orientierte Forschung, sondern darum, ethnologisches Wissen und ethnographische Perspektiven nutzbringend für wirtschaftliche Prozesse einzusetzen. Vorrangiges Ziel ist es also nicht, die Forschung weiterzubringen, sondern einem Unternehmen zu dienen.
Mit genau dieser Frage beschäftigen sich zwei Bücher, die im Jahre 1999 erschienen sind. Angewandte Ethnologie und Unternehmen von Maike Wischmann und Ethnologie und Organisationsentwicklung von Helga Diel-Khalil und Klaus Götz. Während ersteres, sehr detailliert argumentierend, nach den möglichen Potentialen ethnologischen Wissens, ethnographischer Instrumente und kulturwissenschaftlicher Perspektiven für die Unternehmensentwicklung fragt, handelt es sich bei dem zweiten Buch um ein anwendungs- und praxisbezogenes Handbuch für Organisationsentwickler und Organisationsberater.
Maike Wischmann versucht in ihrer nun veröffentlichten Magisterarbeit Angewandte Ethnologie und Unternehmen eine Übersetzung ethnologischer Perspektiven in den Unternehmenskontext. Die Problematik des Transfers stellt sich auf verschiedenen Ebenen. Erstens auf der des Forschungsfelds: Inwieweit können Unternehmen, als komplexe Organisationen, mit dem klassischen Terrain der ethnologischen Forschung, dem "Stamm", parallelisiert werden? Zweitens auf der des Kulturbegriffs: Wie verhält sich der ethnologische Umgang mit Kultur zu den diversen Unternehmenskulturkonzepten? Drittens auf der der Anwendung: Wie kann die ethnologische Methode der Hermeneutik, das Verstehen, das ein zentraler Anspruch ethnologischer Forschung ist, für interkulturelle Kommunikation und Konflikte in Unternehmen fruchtbar gemacht werden?
Wischmann beschreibt das Kapital der Ethnologie folgendermaßen:
"Ethnologie bietet Unternehmen einen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz. Eine ganzheitliche Perspektive kombiniert mit der offenen Methode der Feldforschung sowie fundierte kulturelle Kenntnisse zeichnen die Ethnologie aus. Die Betriebswirtschaftslehre ignorierte bisher ethnologische Ansätze möglicherweise aus einer Abwehrhaltung gegen ihre fremde Vorgehensweise. (...) Die Orientierung an ökonomischen Maßstäben reicht nicht mehr aus, wirtschaftliche Entwicklungen zu erklären. Im Vergleich zur auf Zweckrationalität beschränkten Forschungssicht der Betriebswirtschaftslehre eröffnet kulturwissenschaftliches Denken und ein nicht-profitorientiertes Erkenntnisinteresse eine Perspektive des Verstehens." (S. 5/6)
Die besondere Qualifikation der Ethnologie für die Wirtschaft wird gerade in der besonderen Differenz der ethnologischen Verfahren gegenüber der unternehmerischen Logik gesehen. Im Zentrum stehen dabei die Selbstreflexivität, die Offenheit und Dialog-Orientierung des ethnologischen Forschungsprozesses. Für ein Unternehmen bietet die Ethnologie dadurch die Möglichkeit, andere und neue Perspektiven auf Unternehmensprozesse gewinnen zu können und Problemlagen in den Blick zu bekommen, die durch betriebswirtschaftliche Methoden oder interne Betriebsblindheit übersehen werden.
Die Gegenüberstellung von ganzheitlich-ethnologischer Perspektive und zweckrational-profitorientierter Sicht der Wirtschaft zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Eine solch schematische Gegenüberstellung ist nicht unproblematisch. Für das Projekt dieses Buchs hat es darüber hinaus den Nachteil, daß das Anliegen, als Ethnologe in der Wirtschaft zu arbeiten, zu einer Art ethnologischer Mission wird, bei der die Unternehmen sich auf die spezifisch andere Sichtweise der Ethnologie einlassen und von dieser profitieren sollen. Die Ethnologie selbst ändert sich dabei aber nicht, denn auf ihre spezifische Differenz kommt es ja an, nur daraus kann sie "Kapital" schlagen.
Diese Ängstlichkeit und Abstinenz gegenüber kapitalistischen Prozessen zeigt sich auch in der besonderen Zuständigkeit des Ethnographen für die Unternehmenskultur. Ethnologen werden als Experten für Kultur im Unternehmen und für kulturelle Probleme und Mißverständnisse vorgestellt, die beispielweise bei Fusionen auftreten. Das Wissen, das durch ethnologische Betriebsmonographien generiert wird, soll vor allem auf diese innerbetrieblichen "kulturbedingten" Probleme angewendet werden.
Das Buch Ethnologie und Organisationsentwicklung von Helga Diel-Khalil und Klaus Götz präsentiert sich wesentlich pragmatischer als ein Handbuch für Organisationsentwickler. Die leitende Fragestellung des Buches ist: Welche ethnologischen Methoden und Blickweisen können die Arbeit des Organisationsentwicklers unterstützen? Die Ethnologie wird hier also auf einen ganz konkreten Prozess, nämlich die Organisationsentwicklung, bezogen. Die Organisationsentwicklung ist ein Feld, das mit der Ethnologie kompatibler ist, da in sie bereits verschiedene sozialwissenschaftliche Ansätze eingeflossen sind. Die Brücke, die hier geschlagen wird, ist arbeitsbezogener, handwerklicher und weniger grundsätzlich als im Buch von Wischmann. Die Hoffnungen, die in die ethnologischen Methoden gesetzt werden, sind konkret und entspringen der Arbeit und den Anforderungen der Organisationsentwicklung:
"Zum einen geht es Organisationsentwicklern darum, die Leistungsfähigkeit von Organisationen beziehungsweise von Organisationseinheiten zu erhöhen. Zum anderen wollen sie gleichzeitig das Arbeitsleben für die in dem Betrieb tätigen Menschen verbessern. Unser Grundgedanke ist, daß mit dieser doppelten Zielsetzung auch eine doppelte Anforderung an den Berater verbunden ist. (...) Zum einen soll er die Fähigkeiten besitzen, den Klienten von 'innen' her zu verstehen. (...) Gleichzeitig muss der Berater aber auch die Fähigkeit haben, wieder auf Distanz zu gehen, um die Gesamtheit der Prozesse, die mit der Organisationsentwicklung zusammenhängen, im Blick zu haben. In diesem Buch geht es uns darum, Organisationsberatern einen ethnologischen Werkzeugkasten zu präsentieren, mit dessen Hilfe sie dieser doppelten Anforderung gerecht werden können." (S. 14/15)
In diesem Sinne bedienen sich die Autoren im Methoden- und Theorienrepertoire der Ethnologie wie im oben erwähnten Werkzeugkasten. Die Frage nach einer Weiterentwicklung und Differenzierung des Wissens, auf dem diese Methoden beruhen, spielt keine Rolle. In dieser Hinsicht ist dieser Ansatz gänzlich unakademisch.
Die Fokussierung auf die Organisationsentwicklung erscheint auf den ersten Blick als eine Einengung, tatsächlich eröffnet diese Annäherung aber neue Horizonte, denn ethnologische Methoden und Perspektiven werden in die wirtschaftlichen Prozesse integriert und ihre Tauglichkeit soll sich an der ökonomischen Logik erweisen.
Herzstück des Buches sind die Praxisbeispiele. Hier wird die Anwendung der verschiedenen ethnologischen Ansätze in Unternehmens- oder Wirtschaftskontexten an Hand konkreter ethnographischer Beispiele beschrieben: Die von W.L. Warner in den 40er Jahren durchgeführten Illumination-Studies sowie die Yankee City-Studie, die 1972 von Bruce Kapferer durchgeführte Studie in einer Textilfabrik in Zambia und schließlich die Anwendung des interpretativen Ansatzes von Clifford Geertz auf die Kultur eines Technologiekonzern durch G. Kunda (1992) werden als Beispiele herangezogen. Was sich hier für den Organisationsentwickler als ein neues Handwerkszeug darstellt, ist für den ethnologischen Leser ein sehr interessanter Rück- und Fremdblick auf die eigene Fachtradition.
Abschließend kann man festhalten, daß sich die beiden Bücher auf Grund ihres unterschiedlichen Ansatzes gegenseitig ergänzen. Beide leisten Pionierarbeit in dem Versuch, neue Horizonte für die Ethnologie zu eröffnen und sind allein deswegen lesenswert. Beide Bücher vermeiden es aus unterschiedlichen Gründen jedoch, darüber nachzudenken, wie sich denn die Ethnologie als ethnographischer Prozess durch den Wirtschaftskontext positiv und/oder negativ ändern könnte und müßte, und erwecken dadurch indirekt den Eindruck, als könne die ethnographische Forschung in ihrer bekannten Form im Wirtschaftkontext realisiert werden. In einer Veränderung der Ethnologie liegt aber der besondere Reiz und auch die besondere Gefahr, wenn Ethnologen sich aus ihren klassischen Arbeitsfeldern hinaus bewegen. Der Ethnologe wird mit konkurrierenden Prozessen und Verfahren konfrontiert, von denen er etwas lernen kann, gegen die er sich aber auch verwehren muß, wenn es an die Grundfesten des ethnologischen Ethos geht.