Wer das Geld hat, hat die Macht. Wer die Macht hat, hat das Recht. Der Sieger schreibt die Geschichte und bestimmt das Vokabular. Solche Faustformeln und Deutungsmuster beherrschen offen oder uneingestanden die öffentliche Meinung. Geschichtswissenschaft versucht ihre bezwingende Macht zu relativieren und differenziertere Sichtweisen zu entwickeln. Gelegentlich wird Wissenschaft nicht zuletzt aus diesem Motiv betrieben, falsche Evidenzen aufzubrechen und den Mehrwert der Macht oder die semantische Prämie auf den Machtbesitz zu relativieren. Links und rechts vom Mainstream wurde die Siegerhistorie kritisch in Frage gestellt und der Versuch gemacht, Alternativen aufzuzeigen. Walter Benjamin forderte in seinen geschichtsphilosophischen Thesen, die Siegerhistorie des „Historismus“ revolutionär „gegen den Strich“ zu bürsten. Unter Berufung auf Tocqueville proklamierte Carl Schmitt 1 nach 1945, nicht 1933, die Aufgabe, Geschichte aus der Perspektive der „Besiegten“ zu schreiben. Reinhart Koselleck formulierte in einem seiner wichtigsten Aufsätze unter Berufung auf Schmitt anschließend sogar ein Programm, den historischen „Erfahrungswandel“ mit einem „Methodenwechsel“2 zu beantworten, und trat dabei den historiografiegeschichtlichen Nachweis an, dass die „Besiegten“ von Thukydides bis Tocqueville die besseren Historiker waren.
Auch jenseits der Wissenschaft gibt es „Geschichtspolitik“. Geschichtspolitische Strategien wurden in den letzten Jahren eingehender untersucht. Das Stichwort gab die exemplarische Habilitationsschrift von Norbert Frei 3 über die „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“. Edgar Wolfrum 4 trieb dann die Erforschung der neueren deutschen Geschichtspolitik weiter voran. Nun liegt ein Längsschnitt durch die Geschichte vergangenheitspolitischer Strategien seit 1848 vor. Der Herausgeber Heinrich A. Winkler beantwortet damit einen nahe liegenden Einwand gegen seine Nationalgeschichte „Der lange Weg nach Westen“5 gewissermaßen mit einer Vorwärtsverteidigung; er begegnet der Kritik an den politischen Motiven seiner Nationalgeschichte, dieser Triumphgeschichte der „Verwestlichung“, mit einer historischen Erinnerung an die politische Funktion von Geschichtsschreibung und wirft damit die alte Grundfrage nach dem Verhältnis von Politik und Geschichtsschreibung neu auf. Die Autoren seines Sammelbandes sind allesamt jung; in den 1970er-Jahren geboren, lassen sie sich wohl überwiegend seinem Seminar zuordnen. So dokumentiert der Sammelband nicht zuletzt Winklers jüngste akademische Wirkung an der Berliner Humboldt-Universität. Winkler übergibt das Thema der „Geschichtspolitik“ seinen Schülern zur weiteren Bearbeitung.
„Alle Geschichte ist eine Geschichte von Kämpfen um die Deutung von Geschichte“ (S. 7), schreibt er einleitend mit Gespür für die Deutungsmacht rhetorisch prägnanter Formeln. Geschichtspolitik definiert er dabei als die „Inanspruchnahme von Geschichte für Gegenwartszwecke“ (S. 11), für ihren Einsatz als Argument. Und er notiert scheinbar beiläufig: „Die Zeit der großen ideologischen Kämpfe ist abgelaufen. Aber Geschichtsbilder sind heute noch wirksam.“ (S. 7) Diese Unterscheidung hat es methodisch in sich. Sie nennt politische Gründe für die Abkehr von der alten Ideen- und Ideologiegeschichtsschreibung und die Hinwendung zu einer breiteren, insbesondere die Tagespresse mit auswertenden „Diskursgeschichte“, wie sie Winkler auch für seinen „langen Weg“ in Anspruch nahm. Eine politische Geschichte der Geschichtsbilder kann sich nicht auf wenige repräsentative Autoren oder gar idealtypische Rekonstruktionen „politischer Ideenkreise“ (Hermann Heller) beschränken. Sie untersucht den politischen Umgang mit Geschichte in allen Zeiten und Parteiungen und hat damit ein potenziell unendliches Arbeitsfeld. Der „Griff nach der Deutungsmacht“ zeigt sich allenthalben. Historische Argumente und geschichtliche „Parallelen“ finden sich fast nach Belieben zuhauf. Da die geschichtlichen Bezüge ihrerseits nicht historisch korrekt sein müssen, um historisch-politisch signifikant zu sein, liegt es am Geschick der Autoren allein, Bezüge zu sehen, die neues Licht auf ihre Hermeneuten werfen. Um zwei „klassische“ Beispiele zu nennen: Machiavellis Bild vom republikanischen Rom oder Rousseaus Sparta-Bild erhellen zweifellos ihre politischen Absichten. Jede „Renaissance“ oder „Restauration“ treibt Geschichtspolitik. Seit dem Historismus, seit der radikalen Verzeitlichung und Historisierung des politischen Denkens aber wird Geschichte in neuer Weise zur Lehrmeisterin. Sie wirft perspektivische Schlaglichter und ist dabei mehr Schreckbild als Vorbild.
Der Sammelband „Griff nach der Deutungsmacht“ thematisiert die historische Erinnerung an neueren „Wendepunkten“ der deutschen Geschichte und beginnt dabei mit 1848. Viele ihrer Akteure befürchteten eine „Wiederkehr des Dreißigjährigen Krieges“, zeigt Hilmar Sack. Bettina Effner untersucht dann die „gespaltene Erinnerung“ an 1848 in der Bismarckzeit. Erst nach der Wende von 1878/79 verbanden die Linksliberalen ihre „offenen Wünsche“ mit einem positiven Revolutionsgedenken. Kay Wenzel unterscheidet zwei Deutungsstränge der historischen Erinnerung der deutschen Kriege gegen Napoleon von 1913 bis 1923: Eine Linie deutete sie nationalistisch als „Befreiung“, eine andere demokratisch als Versprechen der „Freiheit“ aus. Wenzel ortet damit den Streit um die politischen Ziele von Einheit und Freiheit, Nation und Demokratie, der auch im Beitrag von Effner deutlich anklang und Winklers Nationalgeschichte bestimmt. Wenzel zeigt auch, dass die Mobilisierung von „Vergangenheitspolitik“ nicht zur Durchsetzung eines Geschichtsbildes führte, sondern die Geschichtsbilder schon im Kaiserreich fundamental umstritten blieben: „Statt Einigkeit förderte der Bezug auf die Geschichte nur Trennendes zu Tage.“ (S. 88)
Daniel Bussenius zeigt dann, wie SPD, DDP und Zentrum „den großdeutschen Gedanken als verpflichtendes Erbe der 48er Revolution“ (S. 110) für sich entdeckten, während die russische Revolution von 1917 und die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht für die KPD wichtiger wurde. Robert Gerwarth bestätigt diese „Renaissance des großdeutschen Gedankens“ auch im Verhältnis zum „Reichsgründungsmythos“, der der Rechten zur Chiffre für die Destruktion der Weimarer Republik wurde. Friederike Schubert zeigt, wie die Weimarer Republik Feiertage inszenierte – den 11. August als Verfassungstag und den 9. November als Revolutionstag -, die von der Rechten aber erfolgreich gekontert und in ein Gedenken für Turnvater Jahn und für Langemarck nationalistisch umgedeutet wurden. Jens Hacke zeigt dann die rein strategische Aneignung des Revolutionsbegriffs durch die politische Rechte im Nationalsozialismus. Sebastian Ullrich rekonstruiert die Formierung eines „Negativkonsenses“ über das Scheitern Weimars in der frühen Nachkriegszeit.6Claudia Roth erörtert den „Erinnerungsstreit“ über 1848 um 1948, der an die Deutungslinien vor 1933 anknüpfte. 1948 war demnach „das spätere Selbstverständnis der beiden deutschen Staaten“ (S. 226) schon grundsätzlich formuliert. Sebastian Schubert beschließt den Sammelband mit einem Beitrag zum Bismarckbild und Bild der Reichsgründung im geteilten Deutschland von 1965 bis 1974, das auch ein Streit um die staatliche und nationale Einheit bzw. Teilung war. Hier klingt erneut ein Thema an, das den ganzen Sammelband durchzieht: der ständige Zweifel an „kleindeutschen“ Lösungen in der großdeutschen Erinnerung. Ein anderes zentrales Thema ist der Deutungsstreit um 1848, überhaupt die zentrale Bedeutung dieses Datums für die historisch-politische Selbstverständigung. Die Freiheitsfrage war hier mit der Gewaltfrage belastet. Beide Themen verweisen auf das Verhältnis von „Einheit“ und „Freiheit“ als Grundspannung der neueren deutschen Nationalgeschichte. Winklers Nationalgeschichte war ein Versuch, dieses Grundproblem historisch neu zu beleuchten. Seine Teleologie hatte dabei in der Wiedervereinigung von 1990 ihren „Fluchtpunkt“. Winkler erklärte die deutsche Nationalgeschichte, forciert gelesen, mit 1990 für vollendet, weil ihre Grundspannung endlich positiv gelöst sei. Der Sammelband endet nun mit einem Beitrag, der „Abschied vom Nationalstaat?“ überschrieben ist. Der Band zeigt, wie die historischen Kämpfe und Entscheidungen mit einem ständigen vergangenheitspolitischen Kampf um die „Deutungsmacht“ einhergingen. Über die Vielfalt der historischen „Wendepunkte“ hinaus verdeutlicht er die Spannung von nationaler „Einheit“ und demokratischer „Freiheit“ als zentrales Problem der neueren deutschen Nationalgeschichte und ist damit selbst ein Stück „Vergangenheitspolitik“: die „Parallelaktion“ einiger Gesellenstücke zum Hauptwerk des Herausgebers. Eine gelungene Übung!
Anmerkungen:
1 Schmitt, Carl, Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 25ff.
2 Koselleck, Reinhart, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Studie, in: Ders., Zeitschichten, Frankfurt 2000, S. 27-77.
3 Frei, Norbert, „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
4 Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999; Ders., Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2001.
5 Winkler, Heinrich A., Der lange Weg nach Westen, 2 Bde., München 1990; Rezension vom Verf. In: Zeitschrift für Politik 49 (2002), S. 242-245.
6 Dazu jetzt Gusy, Christoph (Hg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003.