Titel
Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence


Autor(en)
Sloterdijk, Peter
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
66 S.
Preis
€ 5,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Gerlich, Freiburg im Breisgau

Europa, einstmals „Reich der Mitte“, ist seit 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, aus seiner überlieferten Stellung in der Mitte der Welt herausgefallen (S. 7). Vor diesem faktischen Hintergrund fragt Peter Sloterdijk in seinem erstmals 1994 veröffentlichten Essay: Wie kann Europas Stellung heute beurteilt werden?

„Welt ist nichts anderes als der naturgegebene Horizont der äußersten europäischen Ambitionen“, so lautet die überholte Weltsicht des römischen und eo ipso europäischen Herrschaftsstandpunkts (S. 8). Die Welt war, mit anderen Worten, fast ein halbes Jahrtausend lang - 1494 bis 1945 - ein Experiment der neugierigen Europäer gewesen. Europa war das Hauptquartier einer imperialen Angriffsbewegung, die alles, was sie anfasste, in Ressource und Einflusszone verwandelte - „Wehe den Entdeckten“. Doch das europäische Privileg der Weltanschauung brachte auch herrschaftliche Pflichten mit sich, die vor allem in der Erklärung und Verfechtung der Menschenrechte ihren Ausdruck fanden (S. 10).

Das Ende des Zweiten Weltkrieges fällt mit einer umstürzenden welt- und geopolitischen Lektion zusammen. Die Alte Welt wird von neuen Weltmächten im Westen und im Osten in die Zange genommen, wofür der Wettlauf der sowjetischen und der westalliierten Armeen nach Berlin im Frühjahr 1945 ein Symbol ist. Nicht nur die Deutschen, sondern die Europäer allgemein erlitten die Doppelerfahrung der Befreiung und der endgültigen Aufgabe der Vormachtstellung Europas. Europa ist vom einstigen Akteur zum Objekt eines säkularisierten Kreuzzugs geworden, zu einem halbmündigen Objekt von Moskauer und Washingtoner Kalkülen: „Tatsächlich lebt Europa noch viele Jahre nach dem Ende des Weltkriegs wie in einem Schock dahin - es muss sein Heil in Abstraktionen und Routinen suchen.“ (S. 13)

Sloterdijk beschreibt die Routinen, ein System von Ersatzhandlungen, als Vakuum- oder Absence-Ideologien. Sie haben im Zeitraum von 1945 bis 1989, der vom europäischen Dezentrierungs-Schock geprägt ist, die Aufgabe, den Absturz Europas aus der Mitte der politischen Welt zu interpretieren und zu rechtfertigen. Der Existentialismus des „zur Freiheit verdammten“ Menschen (Sartre) und die rechten Doktrinen vom heilsamen Rückgang zu den Quellen der christlichen Demokratie im altabendländischen Humanismus sind die Basis der Ideologien. Dem Existentialismus folgte der Konsumismus, mit dem die Europäer die neueste, immer noch anhaltende Hochebene ihrer alles durchdringenden Nachkriegs-Nichtigkeit erreicht haben. „In seiner Eigenschaft als Verbraucher nimmt der Europäer des Jahrhundertendes seine Stellung im Vakuum wahr. Nicht mehr zur Freiheit ist er verdammt, sondern zur Frivolität. Frivol ist, wer ohne ernsten Grund in der Natur der Dinge sich für dies oder das entscheiden muss [...]. Durch die Metaphysik des Verbrauchs verdunstet der alte ernste Mensch.“ (S. 21f.)

Heute, nach dem so genannten Kalten Krieg, besteht die Klammer der Supermächte nicht mehr. Die Europäer und ihre Spitzen der politischen Klasse müssen ihren Quasi-Urlaub vom „Zwang zur großen Politik“ (Nietzsche) abbrechen (S. 25). Sie müssen den Text ihrer Rolle im Welttheater, das unter der Regie des liberal-kapitalistischen anglo-amerikanischen way of life spielt, neu lernen (S. 26, 29). Sloterdijk entwirft dazu, auf einer politischen Prozess-Philosophie aufbauend, eine Vorlage, welche die Realpolitik seit 1994 teilweise verifiziert hat.

Europa ist demnach ein Theater für Imperium-Metamorphosen - translatio Imperii (S. 34). Beim Spiel der Reichsübertragung seien mehrere Überträger miteinander in Wettbewerb getreten, so dass dynastische, territoriale und nationale Differenzen gegenüber den Einungsmotiven eines Zentrums stets die Oberhand gewonnen hätten (S. 35f.). Das alte Brüssel, pars pro toto für die alte Europäischen Gemeinschaft (EG), hätte nie etwas anderes darstellen können als die Hauptstadt der Ersatzhandlungen; Brüssel, eine Kurklinik für Erkrankungen des Bewegungsapparates, stehe für die gewollte Inoffensivität der europäischen Politik in der Umklammerungs-Epoche (S. 43f.). Andererseits: „An einem ‘supranationalen Leviathan’ namens Europäische Union kann kein einsichtiger Zeitgenosse im Ernst ein Interesse haben. [...] In einem anspruchsvollen Sinne Europäer sein heißt heute: die Revision des Imperiums-Prinzips als höchste Aufgabe der Theorie wie der Praxis begreifen.“ Die Imperialität selber ist auf eine trans-imperiale oder nach-imperiale politische Großform zu übertragen, das Prinzip Reich ist durch das Prinzip Staaten-Union im Sinne Hegels aufzuheben (S. 48f.).

Falls Europa aus seinem Schock erwache, würden sofort die Hilfskonstruktionen der Vakuum-Ära - vor allem die EG der Römischen Verträge samt Weiterungen bis hin zum Maastrichter Vertrag - in Richtung auf ein realistisch und somit größer formatiertes Europa überschritten, würde sich die absurde und lustlose Nachahmung der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Vereinigten Staaten von Europa des Straßburg-Brüssel-Typus in kürzester Zeit erschöpfen (S. 53). Falls Europa erwache, würde eine neue Achse Berlin-Brüssel-Paris zu einer Kraftlinie, um die ein großeuropäischer Staatenbund sich fortschreitend auskristallisiert. Falls, dann wird es seine möglichen Mitgliedsstaaten neu durchzählen und es könnten statt der jetzigen 12 tatsächlich 26 sein (S. 54). „Im Grunde gleicht die Lage Europas der eines Großunternehmens, das sich veranlasst sieht, mit Hilfe von Corporate-Identity-Techniken seine Schwunglosigkeit zu überwinden.“ (S. 55)

Auch wenn Sloterdijk den in der Europäischen Union (EU) immer wichtiger werdenden Aspekt der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vernachlässigt, ist ihm dennoch eine prägnante historisch-visionäre Beschreibung des politischen Akteurs Europa auf der Bühne einer künftigen Weltinnenpolitik gelungen. Dabei hat er es vermieden, konkrete politische Handlungsszenarien für die Zukunft zu formulieren, wozu vielmehr die Abgeordneten des EU-Parlaments aufzufordern wären. So beendet man die Lektüre des Essays mit dem Verlangen, mehr über den, soeben grandios nachgezeichneten, historisch bedingten politisch-ökonomischen Integrationsprozess Europas bis hin zur aktuellen EU-Tagespolitik zu erfahren.

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