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Titel
Rudi Dutschke. Revolutionär ohne Revolution


Autor(en)
Karl, Michaela
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Verlag Neue Kritik
Anzahl Seiten
553 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Als Rudi Dutschke Ende 1979 an den Spätfolgen des knapp zwölf Jahre zuvor verübten Attentats verstarb, insinuierte der konservative Kommentator Erich Maletzke, weitere zwölf Jahre später würde wohl kaum jemand mit diesem Namen noch etwas anzufangen wissen. Er sollte sich täuschen. Schon bald verkörperte der 1940 geborene Dutschke als personalisierte Chiffre den kulturellen Umbruch von „1968“, der oftmals als tief greifendste Zäsur in der nunmehr abgeschlossenen Geschichte des westdeutschen Staatswesens angesehen wurde. Gut drei Jahre nach Dutschkes Tod, 1983, erschien die erste umfassende, zuverlässige und zugleich farbige Biografie, verfasst von dem Journalisten Ulrich Chaussy, die inzwischen mehrfach aktualisiert und neu aufgelegt wurde.1 Nach dem 1986 in der Reihe „Rowohlts Monographien“ erschienenen Überblick aus der Hand Jürgen Miermeisters, eines Freundes, publizierte 1996 die Ehefrau des Protagonisten, Gretchen Dutschke, eine biografische Darstellung, die sich in großem Umfang auf Dutschkes Nachlass stützt.2 Mit Michaela Karls Biografie liegt nun erstmals eine wissenschaftliche Abhandlung zu diesem Thema vor – es handelt sich um die überarbeitete Fassung ihrer 2001 an der Freien Universität Berlin eingereichten politikwissenschaftlichen Dissertation.

Karls Leistung ist enorm. Für ihre vor allem auf die theoretischen und politischen Positionen Dutschkes konzentrierte Abhandlung hat sie neben der großen Menge an publizierten Quellen auch Dutschkes Nachlass akribisch ausgewertet und gewährt so den bislang detailliertesten Einblick in den geistigen Kosmos des prominentesten Repräsentanten der deutschen Studentenbewegung. Ganz ähnlich wie Chaussy strukturiert sie Dutschkes Biografie in „drei Leben“, doch sie periodisiert sie anders, nämlich ausgewogener. Konsequenter als die bisherigen Biografen nimmt Karl die ganze Lebensspanne in den Blick und widmet fast zwei Drittel ihres umfangreichen Buches der Zeit nach dem Attentat vom Gründonnerstag 1968, das für Dutschke eine tief greifende Zäsur darstellte. Schwer verletzt und aus der Bundesrepublik vertrieben, konnte er erst in einer langwierigen Phase der Rekonvaleszenz die Sprachfähigkeit zurückerlangen – vor allem aber war er abgeschnitten von der politischen Bewegung, ihren Ausdifferenzierungs- und Radikalisierungsprozessen. Mit der Minimierung seines politischen Handlungsspielraums konzentrierte er sich zunehmend auf die theoretische Reflexion – sie fand einen Fokus in der Arbeit an seiner Dissertation, die er Ende 1973 abschloss.

Seit der Mitte der 1970er-Jahre griff er wieder stärker in die politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik ein, unterstützte die „neuen sozialen Bewegungen“ und betätigte sich bei den Gründungsvorbereitungen der „Grünen“. Allerdings waren diese theoretischen und politischen Versuche, die Verformungen des Sozialismus nach sowjetischem Muster zu verstehen und einen antiautoritären Sozialismus zu entwerfen, ganz durchwirkt von den Impulsen der formativen Jahre bis 1968. Dutschke war als DDR-„Abhauer“ nach West-Berlin gekommen und amalgamierte dort schon Mitte der 1960er-Jahre surrealistisch inspirierte Aktionskonzepte mit emanzipatorischem Traditionsgut aus der linksradikalen Bewegung. Vor allem die Ideen kommunistischer „Linksabweichler“ der 1920er-Jahre – Georg Lukács, Karl Korsch, Herman Gorter, Karl August Wittfogel – waren und blieben Fixpunkte dieser theoretischen Suchbewegung. Eine aktuelle Perspektivierung erhielt sie durch die Ideen und Bewegungen, die der Dekolonialisierungsprozess seit 1945 freigesetzt hatte und die innerhalb des „sozialistischen Lagers“ entstanden waren. Nach 1968, als sich viele seiner früheren Genossen von den antiautoritären Traditionen abwandten, aus Enttäuschung und der Effizienz wegen dezisionistischer wurden und zur DKP oder den maoistischen Gruppen gingen, hielt Dutschke an der Idee fest, dass der politische Kampf und die Umgestaltung des Lebens im Hier und Jetzt Hand in Hand gehen müssten. Karl rekonstruiert en detail diese ideelle Grundausstattung und all jene Lieblingsprojekte des Protagonisten, die von heute aus gesehen zum Teil weitsichtig, zum Teil bizarr erscheinen – sein von vielen skeptisch betrachtetes Ziel einer deutschen Wiedervereinigung (natürlich auf antiautoritärer Basis), die zeitgenössisch überaus attraktive Idee einer Versöhnung von Christentum und Sozialismus oder auch das Vorhaben, aus West-Berlin eine antiautoritäre Musterrepublik zu machen, die aufgrund ihrer Strahlkraft die politischen Systeme in Ost und West zum Einsturz bringen sollte.

All dies zusammen bildete, auch das macht die Autorin klar, kein konzises politisches Konzept, das einer ebenso konzisen Theorie entsprungen wäre. Vielmehr handelte es sich um ein eklektisches Sammelsurium an Ideen und politischen Optionen – gebündelt durch das Ziel, dem Kapitalismus eine freiheitlich-sozialistische Alternative entgegenzusetzen, und wieder zerzaust durch Notwendigkeiten, die der politische Kampf mit sich brachte. Karl bezieht auch erfreulich deutlich Position zu neueren Versuchen, auf die historische Person Dutschke zum Teil fragwürdige Gegenwartshaltungen zurückzuprojizieren. Weder kann er nachträglich pazifiziert werden, indem man die Tatsache aus der Welt eskamotiert, dass er schon frühzeitig ausdrücklich auch gewaltsame Formen des politischen Kampfes in Betracht zog, noch eignet er sich zur Stilisierung als Vorkämpfer nationalrevolutionärer Ideen, denen manche seiner früheren Weggefährten inzwischen anhängen. Vielmehr bettete sich die für Dutschkes politisches Denken in der Tat wichtige deutsche Frage in einen international ausgerichteten strategischen Horizont ein – von Deutschtümelei war er weit entfernt.

Wer sich über Dutschkes theoretische Überlegungen und politische Optionen gründlich informieren will, wird in Karls Arbeit gut bedient. Auch werden diese Aspekte überzeugend eingebettet in die private Lebensgeschichte des Protagonisten. Allerdings bleibt die Gesellschaft, in der Dutschke agierte und gegen die er sich wendete, leider allzu blass. Sie tritt häufig nur subkutan in Erscheinung, in Adjektiven wie „bieder“, „nichtrevolutionär“, „verschlafen“ u.ä., die so gar nicht zu dem Bild passen, das die Zeitgeschichtsforschung inzwischen von der Bundesrepublik der 1960er-Jahre gewonnen hat. Was das Urteil über die Bundesrepublik angeht, kann sich die Autorin nur selten aus dem Deutungshorizont ihres Protagonisten lösen. So mag beispielsweise Karls Urteil, die SPD habe mit ihrem Beitritt zur Großen Koalition lediglich eine „Anpassung an die vorgegebenen Machtverhältnisse“ vollzogen (S. 68), zeitgenössisch eine gewisse Plausibilität gehabt haben – aus heutiger Sicht besteht wohl kein Zweifel, dass dies der erste Schritt zu jenem „Machtwechsel“ war, mit dem die bisherige CDU-Dominanz in der Regierungspolitik überwunden wurde.

Derartige Fragen sind für die historische Einordnung Dutschkes nicht ganz irrelevant, denn ob und inwiefern er ein „Revolutionär ohne Revolution“ war (so der Untertitel des Buchs), lässt sich erst wirklich ermessen, wenn die Gesellschaft genauer in den Blick kommt, die revolutioniert werden sollte. Hier erweist sich als Nachteil, dass die Arbeit kein theoretisches Konzept hat, das die individuelle Lebensgeschichte mit der Gesellschaft verknüpfen könnte – etwa über die Kategorie der „Generation“. Weil der Zustand der westdeutschen Gesellschaft a priori als statisch angenommen wird, überhöht sich Dutschkes Tun unter der Hand und transportiert zum Teil jenen „Mythos“ weiter, den die Autorin eigentlich durch wissenschaftliche Betrachtung destruieren will. Erst wenn klischeehafte Vorstellungen vom Verhalten westdeutscher Jugendlicher und Studierender einem realistischeren Bild gewichen sind, wird sich auch zeigen, ob Dutschke wirklich zu einem Repräsentanten der Bewegung wurde, weil er sich „asketisch“ von der Masse unterschied, oder weil er eher war wie viele, wenn auch vielleicht konsequenter: wunderbar antiautoritäre Ideen, auch von einem besseren Leben, das nicht im Konsum aufging, aber in seinem Alltagsverhalten weit entfernt von ausschweifendem Sex, Generationskampf und sonstigen imaginierten Praktiken, die die Illustrierten den Studenten per se andichteten. Eine gesellschaftsgeschichtlich balancierte Einordnung des wichtigsten Protagonisten der Studentenbewegung steht noch aus. Doch das Gebäude seiner Ideen und politischen Handlungen hat mit Michaela Karls Arbeit sehr viel deutlichere Konturen erhalten.

Anmerkungen:
1 Zuletzt: Chaussy, Ulrich, Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biografie, Zürich 1999.
2 Miermeister, Jürgen, Rudi Dutschke mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1986; Dutschke, Gretchen, Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke. Eine Biografie, Köln 1996.

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