Im tirzu, ejn zo agada – wenn Ihr wollt, dann ist es kein Märchen. Dies eignete Theodor Herzl Juden zu. Mehr noch. Der Vater des politischen Zionismus legte ihnen seine Vision in seinem Roman “Altneuland” dar. Im Jahre 1902 vollendet, hatte er darin alles so schön erträumt. Im Land der Altvorderen, das die zionistischen Pioniere des Fortschritts neu zu gewinnen hätten, würde der neue Mensch und die neue Gemeinschaft erschaffen werden. Das neue Jerusalem wäre eine sehr moderne Metropole: elektrische Straßenbahnen flitzen durch baumschattige Alleen und bringen glückliche Menschen zu Boulevards, Gärten und Parks. Froh leben Araber und Juden in Kooperativen miteinander. Gesandte der Nationen treffen sich im Jerusalemer Friedenspalast – und bestärken dieses konstruktive Heute und Morgen.
Als Albtraum gilt die Stadt der Städte einhundert Jahre darauf. Die Straßen der Altstadt sind menschenleer, Geschäfte mit Holzverschlägen gesichert. Ehrenwerte Touristenführer haben keine Kunden und bitten in den Gassen um Kleingeld. Im modernen Westteil der Metropole bewachen schwer Bewaffnete die Cafes und Restaurants. Die Hotels sind leer. Niemand weiss, wo der nächste Selbstmordbomber zuschlägt: im Bus, im Kino oder in der Diskothek. In den Augen der Bevölkerung ist jeder von den noch in Israel arbeitenden Arabern ein potentieller Mörder. Eine unwirkliche Stille über der Stadt wird gelegentlich durch Sirenen der Polizei oder der Ambulanzen unterbrochen. In diesem Klima entsteht “Occidentalism”.
In Jerusalem trafen sich Ian Buruma und Avishai Maragalit, um ihren gleichnamigen Aufsatz aus dem New York Review of Books von Mitte Januar 2002 zum vorliegenden Buch zu erweitern. Das Duo stand da noch ganz unter dem Eindruck der Großanschläge auf Amerika, wo Buruma im Bard College unweit von New York lehrt. Dieser Journalist und Professor Buruma wurde durch seine Publikationen über den Fernen Osten, insbesondere zu China und Japan bekannt. Sein Kollege lehrt Philosophie an der Hebräischen Universität von Jerusalem und trat auch durch seine Werke über den Liberalismus und den Holocaust hervor. Damit waren die beiden gut gerüstet, um dem Okzidentalismus auf den Grund zu gehen: der eine brachte sein Wissen um die Entwicklung von asiatischen Gesellschaften ein, der andere seine Kenntnis der Wirkung deutscher und europäischer Philosophen/innen in den Weltregionen. Allein für Mittelost tat sich da eine Lücke auf, und die schlug sich im Text auch nieder.
Okzidentalismus nennen es die beiden Gelehrten, wenn Eliten in anderen Regionen ein entmenschlichendes Bild des Westens zeichnen. Daher wollen sie die damit verbundenen Vorurteile und historischen Wurzeln erkunden. In sechs Teilen erhellen sie Krieg gegen den Westen, die okzidentale Stadt sowie Helden und Händler. Dann folgen Gedanken zum Geist des Westens, zur Rache Gottes und zu Samen der Revolution. Dieses Buch ist ideengeschichtlich anregend. Nunmehr werden drei der Kernthesen und zwei ungelöste Probleme berührt.
Nach dem japanischen Anschlag auf Pearl Harbor traf sich eine Gruppe Intellektueller in Kyoto, um die “Moderne” zu überwinden. Die, so stellen es die Autoren dar, bedeutete für jene romantischen und buddistisch-hegelianischen Nationalisten der Westen. Wie hier ihre Debatte gezeigt wird, stemmten sie sich gegen die Verwestlichung und die vergiftete materialistische Zivilisation, die auf der jüdischen finanziellen Kapitalmacht beruhe. Sie waren sich einig, dass die japanische Kultur hingegen eine grundlegende und spirituelle sei. Ganz anders als die oberflächliche, wurzellose und zerstörerische des Westens. Vor allem die Kultur Amerikas wäre kalt und mechanisch. Ein vereinter, traditioneller Orient unter der Reichsmacht Japans könne die warme organische Gemeinschaft zur geistigen Gesundheit führen. Wie einer der Teilnehmer meinte, gäbe es einen Kampf zwischen dem japanischen Blut und dem westlichen Intellekt, zumal der Westen mit dem Kolonialismus einherging.
Dieses Treffen hätte so ungefähr auch in der Türkei, in Iran oder in Arabien stattfinden können. Klar werden das Unbehagen von Einheimischen in der Moderne und der Einfluss deutscher Ideologien. Daraus leiten beide Autoren ihre erste Hauptthese ab, die hier etwas verkürzt so formuliert werden kann: Okzidentalismus (Occidentose, um den Neologismus des Iraners Ahmad Djalal Ali zu benutzen, der damit auf einen inneren Befall wie bei der Tuberkulose angespielt hat) kann keineswegs auf Mittelost beschränkt werden, sondern er wurde wie weitere “-ismen” in Europa geboren, bevor er andere Erdräume befallen hat. Der Westen war sowohl Quelle der Aufklärung und ihrer säkularen, liberalen Varianten, als auch die Quelle starker “Anti-”Einstellungen. Und beide, die westliche Moderne und ihre hasserfüllte okzidentalistische Karikatur sind dann in anderen Weltregionen adaptiert worden.
Für eine anstehende Geschichte des Okzidentalismus bedeutet das: man muss zunächst den Werdegang der westlichen Erdregionen und ihrer Ideologien kennen, sodann gleiches im Orient aufdecken, um die ideelle Wechselbeziehung zwischen beiden herausfiltern zu können – was wo und wie zur Synthese kam. Genau das gelingt Buruma und Margalit in einigen Beispielen. In anderen, vor allem mittelöstlichen Fällen, vermögen sie nicht den Diskurs zu überschauen. Das führt zum ersten offenen Problem, die dortige Struktur der Debatte und ihre Termini. Beispiel: Ägyptens Philosoph Hasan Hanafi stellte sich in die Reihe von Orientalen, die ab 1655 dazu aufgerufen haben, den Westen zu studieren und von ihm zu lernen. Der Kairiner Professor legte 1991 sein Werk muqaddima fi ilm al-istighrab vor. Diese Einführung in die Okzidentalistik sollte in Mittelost die Wissenschaft vom Werden des Westens begründen. Das heisst, dass dort Forscher längst über die Stufe des Okzidentalismus hinaus waren, um die es Buruma und Margalit geht. Dies haben sie übersehen. Sie setzten sich kaum mit Vorläufern 1 und deren Bezug zum Orientalismus auseinander.
Damit komme ich zu einem zweiten offenen Problem, das sich aus der Lektüre ergibt. Mit Hanafi kann man im Orient aufrufen, den Westen zu studieren und die Geheimnisse seiner Entwicklung zu lüften Dies mag im Orient zu area studies führen. Aber es ist sehr fraglich, ob eine eigene Wissenschaft zum Westen entsteht. Denn der Okzident durchlief einen einzigartigen rationalen Prozess, der mit seiner sich beständig selbst kritisierenden und universalisierenden Forschung Weltmaßstäbe für Inhalte, Prinzipien und Methoden setzt. Dies kam in Amerika und Europa seit dem 18. Jahrhundert in Schwung – und ist nicht wiederholbar. Oder anders: das Lokomobil, der Otto-Motor, die Vererbungsgesetze, das Periodensystem der Elemente, der Computerchip, die Philosophie und Demokratie werden nur einmal erfunden. Auf diesem Westen beruht alles, was vorher war, und was folgt. Daher kann es im Orient nur eine Wissenschaft vom Westen nach den westlichen Prinzipien geben. Das ist eine inhaltlich und strukturell bittere Pille für Antimodernisten: sie wollen den Westen überwinden. Das haben manche erkannt, so Hisham Sharabi und Sadiq Jalal al-Azm.
Nun hoben Buruma und Margalit ja nicht an, gar eine Geschichte des Okzidentalismus vorzulegen. Sie gingen bewusst ausgewählten Orten und Zeiten nach. Ihre zweite These fasse ich so zusammen: Japan ist ein hoffnungsvolles Beispiel eines Landes, das noch vor anderthalb Jahrhunderten zum orientalischen Teil der Welt zählte und heute offenkundig zum Westen zählt. Brütete es einst mörderischen Kamikaze-Okzidentalismus aus, so ist es jetzt im Lager jener, die eine bevorzugte Zielscheibe der Okzidentalisten aller Arten sind.
Die dritte Kernthese könnte wohl lauten: hinter dem Okzidentalismus verbirgt sich eine sehr universelle Story, nämlich der immer währenden Kulturkampf zwischen alt und neu, zwischen der authentischen Kultur und der metropolitanen Schickeria, ja zwischen Land und Stadt überhaupt. Stalin verdarb die Kultur wie das Leben auf der urbanen, Mao und Pol Pot auf der dörflichen Seite. Das Aufbegehren gegen die verführerische, aber doch so gewöhnungsbedürftige Verwestlichung (Westoxification nennen es Buruma und Margalit auch) oder Hitlers Versuche ihrer völkisch-industriellen Kanalisierung appellierten an die urtümlichen Abwehrinstinkte gegen alles Neue, das vermassende Babylons zu verkörpern scheinen.
Was Wunder, dass Metropolen wie New York und Jerusalem Hauptziele für religiöse und säkulare Okzidentalisten bilden. Der Westen lieferte ihn viele Mittel dazu, materiell und ideell. Letzteres auch in der Idee der Zerstörung des Westen durch den Westen selbst. War es nicht im Ersten Weltkrieg, als der deutsche Diplomat Max von Oppenheim seinen Meisterplan zur Inszenierung des Jihads im islamischen Hinterland der Feinde umsetzte? Legitimierte er damit nicht den Heiligen Krieg im globalen Koalitionskrieg als Schwert gegen die judäo-christliche Tradition? Vier Jahre lang liess er den Geist der Antimoderne aus der Flasche, gleichwohl auf zigtausenden Flugblättern in den Sprachen des Islams. Antichristliche und antijüdische Bruderschaften hatte er im Auge, informelle Banden und reguläre Heere wie Kriegsminister Enver Paschas al-jaish al-islami. Da war es nicht mehr weit zu Muslim-Brüdern, zu Martyrerbrigaden, zur Hamas und nach Jerusalem 2002, wo dieses Buch entstand und Herzls Traum mit dem blutigen Heute konfrontiert. Doch mit dessen Utopie steht und fällt der Westen, denn wenn ihr wollt, dann ist es kein Märchen.
Anmerkung:
1 Carrier, James G. (ed.), Occidentalism. Images of the West, Oxford 1995.