A. Steidl: Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks

Titel
Auf nach Wien!. Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt


Autor(en)
Steidl, Annemarie
Reihe
Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 30
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Buchner, Institut für Geschichte, Universität Salzburg

Teile der Handwerksgeschichte beschäftigen sich seit mehr als einem Jahrhundert mit der Migration im Handwerk. Lange Zeit stand dabei eine Tradition Pate, die sich auf die Wanderung der Gesellen konzentrierte und diese eher als Brauchtum im Zunfthandwerk denn als Teil einer allgemeinen Migrationsgeschichte begriff. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten wird von Seiten der Handwerksgeschichte – etwa in den Arbeiten von Josef Ehmer, Rainer S. Elkar, Reinhold Reith oder Wilfried Reininghaus – versucht, das offenkundig große Ausmaß räumlicher Mobilität im Handwerk der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts mit Fragen der gewerblichen Arbeitsmärkte und der allgemeinen Migrationsgeschichte zu verbinden. Demgegenüber hat die neuere historische Migrationsforschung der Mobilität im mitteleuropäischen Handwerk der Neuzeit bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wiewohl mittlerweile eine Perspektive dominiert, die Migration auch für vorindustrielle Perioden als menschliche Grunderfahrung begreift und damit die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts als einzigartigen Prozess der Mobilisierung in der Neuzeit relativiert, werden Handwerker und Handwerkerinnen in einschlägigen Überblicksdarstellungen für gewöhnlich in nur wenigen Sätzen unter dem Stichwort der Gesellenwanderung abgehandelt. Dabei wird vielfach nicht nur das Ausmaß, sondern auch die Persistenz von räumlicher Mobilität im neuzeitlichen Handwerk völlig unterschätzt.

Diese offensichtliche Lücke zwischen Handwerks- und Migrationsgeschichte versucht nun Annemarie Steidl mit ihrer Wiener Dissertation zur „Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt“ Wien zu füllen. Steidl zufolge war „das in Städten ansässige Kleingewerbe [...] Ort und Träger einer sehr hohen, bisher noch immer weit unterschätzten sozialen und räumlichen Dynamik“ (S. 11). Sie stützt sich dabei in erster Linie auf die quantitative Auswertung von Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts aus fünf Wiener Gewerben (Fleischhauer, Rauchfangkehrer, Seidenzeugmacher, Taschner und Schneider), die teils sehr unterschiedliche sozioökonomische Kontexte und Herkunftsräume aufwiesen und demnach ein breites Spektrum des zeitgenössischen (Klein-) Gewerbes repräsentierten.

Steidl begreift Migration – der neueren Forschung folgend – nicht als Phänomen, das mit „push and pull“-Modellen hinreichend charakterisiert werden könnte, sondern als „ein weit gefächertes Phänomen, das von einer Vielzahl unterschiedlichster Bedingungen, die sich je nach Untersuchungsregion, -zeitraum und -gegenstand ändern können, bestimmt wird“ (S. 37). Entsprechend ist Migration auch nicht als „Ausnahme von der Regel“ (S. 32) zu verstehen, sondern „ebenso wie Sesshaftigkeit als Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens“ (S. 37). Konsequenterweise bilden demnach nicht nur – wie in zahlreichen anderen Studien – Gesellen den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, sondern auch Meister, Lehrlinge und Lehrmädchen.

Nach einer ausführlichen Skizzierung der Bevölkerungsentwicklung Wiens (Kap. 3), bei der deutlich wird, dass der große Anstieg der Wiener Bevölkerung im Untersuchungszeitraum vornehmlich auf Zuwanderung aus Regionen, die auch für die handwerkliche Migration wesentlich waren, zurückzuführen ist, zeichnet Steidl die wirtschaftliche Entwicklung der untersuchten Gewerbe nach (Kap. 4). Die Entwicklung Wiens zur größten Stadt in Mitteleuropa zur Mitte des 18. Jahrhunderts und ihre Funktion als Residenzstadt des Habsburgerreiches bedingten eine differenzierte lokale Nachfrage. Dies förderte eine dynamische Entwicklung des Kleingewerbes mit einer steigenden Zahl an Zünften (um 1820: 150), gleichwohl profitierten von dieser Entwicklung auch außerzünftige ProduzentInnen, deren Zahl in Relation zum zünftig organisierten Handwerk bemerkenswert groß ist. Aus dieser Perspektive erscheinen die untersuchten Handwerke bzw. Gewerbe klug gewählt: Während die Taschner ein kleines, spezialisiertes Handwerk mit großer Kontinuität etwa in technischer Hinsicht darstellten, waren die Seidenzeugmacher ein obrigkeitlich gefördertes Gewerbe, das – seit dem frühen 18. Jahrhundert z.T. zünftig organisiert – kaum eine Beschränkung der Betriebsgrößen kannte und im steigendem Maße für den Export produzierte. Um 1800 stellte die Seidenzeugmacherei den dominierenden Produktionszweig Wiens dar. Die Rauchfangkehrer bildeten ähnlich wie die Fleischhauer ein „Realgewerbe“, dessen Gewerbeberechtigung einen Wert darstellte, der beispielsweise belehnt werden konnte, was eine dauerhafte Beschränkung der Betriebszahlen förderte. Im Unterschied zu den Fleischhauern dominierten bei den Rauchfangkehrern aber italienische Zuwanderer, was eine für die Migrationsgeschichte reizvolle Perspektive eröffnet. Die Kleidermacher schließlich waren ein Beispiel für ein kleinbetrieblich organisiertes Massengewerbe mit all den damit verbundenen Charakteristika.

In einem der Kernteile der Arbeit untersucht Steidl den geografischen Einzugsraum der Wiener Handwerker im 18. und 19. Jahrhundert (Kap. 5). Bemerkenswert dabei ist – wie bereits erwähnt -, dass dabei nicht nur die Gesellenwanderung im Mittelpunkt steht: „Regionale Mobilität war im Handwerk nicht nur auf die Gesellen beschränkt, sondern umfasste den gesamten Lebenszyklus der Handwerker vom Beginn der Lehre, über die Gründung der Werkstätte bis zur Beendigung der Erwerbstätigkeit.“ (S. 156) Insgesamt zeigt sich die Annahme der Handwerksgeschichte, von gewerbespezifischen Arbeitsmärkten auszugehen, in der Arbeit von Steidl bestätigt. Grundsätzlich zeigt sich bei den Lehrlingen, dass zwar ein großer Teil nach Wien zugewandert war, jedoch die Fernwanderung eine eher geringe Rolle spielte. Eine Ausnahme bildeten aus unterschiedlichen Gründen die Rauchfangkehrer und die Taschner. Insgesamt zeigt sich, dass einerseits im Untersuchungszeitraum die Bedeutung von Zuwanderung aus Regionen, die außerhalb der Monarchie lagen, tendenziell abnahm, bei einigen Gewerben aber die enge Bindung an die Herkunftsregion eine beispielsweise auf Verwandtschaft oder Nachbarschaft basierende kontrollierbare Rekrutierung der Lehrlinge erleichterte. Besonders hervorzuheben ist, dass Steidl die für das 19. Jahrhundert vorliegenden Daten zu Lehrmädchen in der Seidenzeugmacherei untersucht hat, wobei es in der Frage des geografischen Einzugsraums kaum geschlechtsspezifische Unterschiede gab.

Das Ausmaß handwerklicher Mobilität wird jedoch insbesondere bei den Gesellen deutlich. Steidl errechnet, dass im Vormärz jährlich mindestens 140.000 bis 160.000 Gesellen nach Wien wanderten. Damit „ergibt sich aus der Migration der Handwerksgesellen ein Wandervolumen, das alle bekannten Daten über die Massenmobilität in der Zeit der Hochindustrialisierung weit in den Schatten stellte“ (S. 184). Etwa drei von vier Gesellen, die in Wien arbeiteten, waren somit zugewandert, wobei die süddeutschen Regionen im Verlauf des Untersuchungszeitraums gegenüber Böhmen, Mähren und Schlesien als Herkunftsregionen an Bedeutung verloren. Die Wanderung war insbesondere bei Kleidermachern und Rauchfangkehrern von Bedeutung, während bei den Taschnern und Fleischhauern deutlich höhere Anteile aus Wien oder dem Umland der Stadt stammten. Grundsätzlich stellte die Rheinlinie eine gewisse Grenze des Einzugsraumes dar, was die Annahme zweier unterschiedlicher Migrationssysteme in Süd- und Norddeutschland bestätigt und noch einmal unterstreicht, die Frage der Konfession in der historischen Migrationsforschung ernst zu nehmen. Bei den Meistern wiederum, deren Mobilität bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren hat, zeigt sich, dass insbesondere Massengewerbe einen hohen Anteil an Zugewanderten aufwiesen, während insbesondere bei spezialisierten und reicheren Kleingewerben eine Limitierung des räumlichen Einzugsraumes festzustellen ist.

Steidl untersucht in ihrer Arbeit jedoch nicht nur regionale Mobilität, sondern nähert sich aus den gewonnenen Daten auch der sozialen Mobilität und der Stabilität von Arbeitsverhältnissen im Handwerk an. Sie unterstreicht dabei noch einmal die starken Schwankungen in der Nachfrage nach Gesellen, was sich an den Rhythmen der Wanderschaft erkennen lässt. Bislang kaum systematisch untersucht wurden aus dieser Perspektive die Meister und teilweise auch die Lehrlinge. Steidl zeigt, dass im Untersuchungszeitraum etwa ein Drittel der Taschner- und Seidenzeugmachermeister ihre Werkstätten weniger als zehn Jahre lang führten. Migration und Alter (und damit vielfach verbunden Krankheit und Verarmung) bedingten diese Fluktuation. Bei den Lehrlingen bestätigt Steidl die aus einzelnen internationalen Forschungen bekannten relativ hohen Zahlen an Lehrabbrechern. Bei den Schlossern etwa wurden Ende des 18. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Lehrverhältnisse aufgelöst. Gründe waren vielfach ein Entlaufen aus den bekannten Gründen oder ein Wechsel in ein anderes Gewerbe.

Steidls Arbeit ist insbesondere in drei Aspekten äußerst anregend für weitere Forschungen: Zum ersten stellt sie fest, dass handwerkliche Migration kein vorindustrielles Phänomen ist, sondern – zumindest in Wien – auch oder vielleicht sogar gerade im 19. Jahrhundert ein Massenphänomen war, das von der historischen Migrationsforschung so noch kaum zur Kenntnis genommen wird. Zum zweiten stellt die Arbeit einen Ansatz dar, der regionale und soziale Mobilität verbindet und weitere fruchtbare Ergebnisse erwarten lässt. Schließlich zeigt Steidl, dass das mitteleuropäische Zunfthandwerk ein – je nach Perspektive – dynamisches oder fragiles Phänomen war, was sich insbesondere bei der Frage der Kontinuität von Arbeitsverhältnissen zeigt. Allerdings bleibt die Frage, inwieweit die Großstadt Wien spezifisch war. Gerade die Frage der handwerklichen Arbeitsmärkte würde von einem systematischen länder- und regionenübergreifenden Vergleich profitieren. Dies stellen jedoch nur Möglichkeiten für weitere Forschungen dar, für die Steidl mit ihrer Arbeit eine wichtige Ausgangsbasis geschaffen hat.