R. Grütz: Katholizismus in der DDR-Gesellschaft 1960-1990

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Titel
Katholizismus in der DDR-Gesellschaft 1960-1990. Kirchliche Leitbilder, theologische Deutungen und lebensweltliche Praxis im Wandel


Autor(en)
Grütz, Reinhard
Reihe
Veröffentlichngen der Komission für Zeitgeschichte B, Forschung 99
Erschienen
Paderborn 2004: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád v. Klimo, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Erfurter Dissertation, die am Max-Weber-Kolleg entstand, untersucht erstmals die „verborgene Konfliktgeschichte“ (S. 122) des DDR-Katholizismus. Reinhard Grütz möchte anhand der zahlreichen, kaum nach außen dringenden Konflikte innerhalb der katholischen Diaspora in der DDR die Frage beantworten, warum nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur und der „protestantischen Revolution“ (Neubert) ausgerechnet Katholiken überproportional politische Spitzenämter eingenommen hätten. Denn diese, so eine verbreitete Ansicht, hätten sich doch vor 1989 kaum in der politischen Opposition engagiert, wie auch die katholische Kirche politisch „abstinent“ (Ute Haese) gewesen sei.1

Dieser bisher kaum angezweifelten Sicht stellt Grütz nun eine Pluralisierungsthese entgegen: Trotz „loyaler Distanz“ der katholischen Kirche zum Staat DDR und einem Strukturkonservatismus in der Kirchenleitung, sei bei Priestern, Kirchenmitarbeitern und engagierten Laien ein grundlegender Wertewandel und eine partielle Modernisierung eingetreten. Zusammen mit den „Erfahrungen kognitiver Dissonanz zur nicht-christlichen Mehrheitsgesellschaft“ habe dies im Ergebnis zu einer Vermehrung unterschiedlicher Positionen und Haltungen und zu einem gestiegenen Selbstbewusstsein vieler sozial aufsteigender, akademisch gebildeter Katholiken beigetragen. Aus den Anfängen eines vor allem aus Vertriebenen unterschiedlichster Milieus und Mentalitäten zusammengesetzten Katholizismus hätten sich später durch die begrenzte Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils und nachkonziliarer Protest- und Diskussionsimpulse aus Westdeutschland verschiedene Gruppen und Kulturen herausgebildet, die zur Festigung und Erneuerung eines ansonsten stark schrumpfenden DDR-Katholizismus und zu dessen politischer Geschlossenheit nach 1990 beigetragen hätten; so wählten 74 Prozent der ostdeutschen Katholiken 1990 CDU.

In gewissem Sinn ergänzt Grütz damit die Leipziger Dissertation Wolfgang Tischners, die den Katholizismus in der frühen DDR untersuchte.2 Grütz meint jedoch, Tischner benutze einen „statischen Katholizismusbegriff“ und konzentriere sich zu sehr auf Institutionen und Funktionen, blende dabei aber Inhalte der katholischen „Subgesellschaft“ in der DDR aus (S. 57). Zugleich konzidiert er, dass Tischners Analysemodell zumindest für die frühen Jahre der DDR „zu greifen vermag“ (S. 58). Der Autor selbst nimmt einen von Michel Foucault und Rainer Bucher inspirierten Ansatz auf – das „Dispositiv der Dauer“, ein seit der Französischen Revolution in der katholischen Kirche entstandenes Netz von Diskursen, das zugleich das Herausgehobensein der Kirche aus der Moderne und deren Reaktion auf dieselbe kommunizierbar machte – und untersucht dessen allmähliche Auflösung im internen Diskurs der Katholiken der DDR.3

Dieses in der Einleitung (S. 62f.) nur sehr knapp eingeführte und nicht genauer erläuterte zentrale Theorem wendet Grütz in der innerkirchlichen Presse- und Broschürenlandschaft sowie anhand von kirchlichen Akten und wenigen Experteninterviews für drei zentrale Bereiche katholischer Selbstverständigung an: „Familie“, „Gemeinde“, „Priester“. Zuvor arbeitet er in kürzeren Kapiteln Besonderheiten des DDR-Katholizismus und der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in der DDR heraus. Es gelingt dem Verfasser, die Veränderungen im Selbstbild von Kirche und engagierten Laien, die besondere Bedeutung des „katholischen 1968“ – die zwischenzeitliche Explosion an Diskussionen und Gruppengründungen mit „antiautoritärer“ Stoßrichtung – auch für die DDR und den damit verbundenen Prozess der Pluralisierung herauszuarbeiten. Zu den Schwächen der Arbeit gehören zahlreiche Wiederholungen aufgrund der Gliederung der Arbeit nach Themenbereichen und ein bisweilen etwas diffus anmutendes Bild des DDR-Katholizismus, das wohl mit der Spärlichkeit und der Begrenztheit des Quellenmaterials zusammenhängt.

Insgesamt handelt es sich bei der Dissertation von Reinhard Grütz um einen außerordentlich ehrgeizigen Versuch, erstmals das verborgene Innenleben des DDR-Katholizismus sichtbar zu machen. Sie leistet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des deutschen Katholizismus, sondern auch in einem weiteren Sinne zu einer Mentalitätsgeschichte der DDR.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu: Neubert, Ehrhart, Eine protestantische Revolution, Berlin 1990; Haese, Ute, Katholische Kirche in der DDR. Geschichte einer politischen Abstinenz, Düsseldorf 1998.
2 Tischner, Wolfgang, Die katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1951. Die Formierung einer Subgesellschaft im entstehenden sozialistischen Staat, Paderborn 2001.
3 Bucher, Rainer, Kirchenbildung in der Moderne. Eine Untersuchung der Konstitutionsprinzipien der deutschen katholischen Kirche im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998.

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