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Titel
Divorce in Japan. Family, Gender, and the State, 1600-2000


Autor(en)
Fuess, Harald
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Conrad, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Modernisierung einer Gesellschaft, so lautet nach wie vor eine übliche Annahme, löst traditionelle und familiale Bindungen auf und führt im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung zu einer individualisierten, säkularen Einstellung zu Familie und Partnerschaft. Der statistisch messbare Ausdruck dieses Zusammenhangs ist der Anstieg der Scheidungsrate. Für die Vereinigten Staaten und die westeuropäischen Nationen beschreibt diese Annahme die Entwicklung recht präzise. In Japan aber, wie Harald Fuess in seiner über vier Jahrhunderte reichenden sozialgeschichtlichen Untersuchung zeigt, verhielt es sich genau umgekehrt. Eine traditionell hohe Scheidungsrate erlebte erst als Folge der Modernisierung unter westlichen Auspizien einen massiven Einbruch. Erst seit den 1960er-Jahren, nach über sechs Dekaden sinkender Ziffern, nimmt auch in Japan die Scheidungsfrequenz wieder zu und nähert sich allmählich wieder dem ‚vormodernen’ Niveau.

Der Zusammenhang von Familie, Geschlechterpolitik und ehelichen Beziehungen ist ein wichtiges Thema – zumal in Japan, wo lange Zeit (und auch heute) die „japanische Familie“ als ein privilegierter Schauplatz eines japanischen Einzigartigkeitsdiskurses herhalten musste. Die traditionelle Konstruktion der Familie als patriarchalisches „Haus“ (ie), das vor allem die Linie (und nicht so sehr die einzelne Ehe) schützte, wurde in ihren zivilrechtlichen Dimensionen 1947 unter amerikanischer Besatzungsherrschaft abgeschafft. Als Teil einer ideologischen Struktur hat sie jedoch überlebt. So verweigerte das japanische Bildungsministerium im Jahre 1997 vier Schulbüchern die Zulassung, weil sie die aktuellen steigenden Scheidungsraten zu sehr in den Vordergrund stellten – damit stünden sie im Widerspruch zu „traditionellen japanischen Werten“.

Wenn es je „erfundene Traditionen“ gab, dann diese. In der Tokugawazeit, also Japans vormoderner Epoche, waren Scheidungen ein unspektakuläres und weit verbreitetes Ereignis. Die japanischen Scheidungsraten, so hieß es im Rückblick, waren vor 1900 die höchsten der Welt. Die einfachen Prozeduren der Auflösung ehelicher Bande waren auch ein funktionales Korrektiv zu der in der Regel arrangierten Hochzeit, die nicht selten Versuchscharakter besaß. Scheidung schien nicht mit einem sozialen Stigma besetzt, und zwar durch alle Schichten hindurch. Westlichen Besuchern, von den Jesuiten im 17. Jahrhundert bis zu den diplomatischen Vertretern der Großmächte nach 1853, fiel die Leichtigkeit, mit der Ehen in Japan gelöst werden konnten, meist unvorteilhaft auf. Die japanischen Männer, so schien es dem britischen Gesandten A. B. Mitford, legten ihre Frauen ab „wie ein gebrauchtes Hemd“.

Dies änderte sich, mehr oder weniger schlagartig, im Jahre 1898. Die Einführung neuer zivilrechtlicher Bestimmungen führte innerhalb von nur zwei Jahren zu einem fünfzigprozentigen Einbruch der Scheidungsraten. Das neue Gesetz setzte die Zustimmung beider Parteien voraus, um zu einer außergerichtlichen Einigung zu kommen. Die Gerichte wurden nur im Konfliktfall tätig – diese Fälle machten jedoch in der prozessscheuen japanischen Gesellschaft nie mehr als ein Prozent aus. Seitdem sanken – anders als in anderen modernen Gesellschaften – die Scheidungsraten kontinuierlich, und erst 1963 war erstmals wieder ein leichter Anstieg zu vermelden.

Unterschiedliche Theorien sind ins Feld geführt worden, um diese radikale Zäsur in der Geschichte von Familie, Ehe und Häuslichkeit zu erklären. Die konventionelle Sicht beschreibt die Abnahme der Scheidungszahlen als Fortschritt, als Beitrag zur Emanzipation der Frau, der das traditionelle System keinerlei rechtlichen Schutz angedeihen ließ. Der Sozialist Sakai Toshihiko beispielsweise begrüßte die zivilrechtliche Neuerung von 1898, welche die Position von Frauen stärke und die „Moderne“ nun auch in die Familien trage. Allerdings stimmen nicht alle Kommentatoren mit dieser kritischen Perspektive auf die Tokugawazeit überein. Man könnte die hohe Scheidungsrate in Japans Vormoderne auch als Ausdruck der hohen Beschäftigungsrate von Frauen lesen, die erst im Zuge der westlich induzierten ‚Modernisierung’ und der damit einhergehenden Assoziation der Frau mit der Privatsphäre wieder aufgegeben worden sei.

Fuess zeigt, dass der Prozess komplexer verlief und sich durch Fortschritts- oder Niedergangserzählungen nur unvollständig charakterisieren lässt. So war beispielsweise der veränderte Stellenwert der Scheidung auch eine Reaktion auf die veränderte Einstellung zur Ehe selbst. Erst 1898 wurde die Heirat durchgängig durch offizielle Registrierung definiert. In den Jahrhunderten zuvor waren visuelle Markierungen häufig das wichtigste Zeichen für den verheirateten Status einer Frau, die sich dem Brauch entsprechend die Augenbrauen rasierte und die Zähne schwärzte. Im Vergleich zu Westeuropa war die Ehe in Japan übrigens eine beinahe universale Institution, allein stehende Frauen waren selten.

Die wichtigste Entwicklung im 20. Jahrhundert war dann die sukzessive Durchsetzung der „Liebesheirat“ (renai), die seit den 1960er-Jahren die arrangierte Hochzeit nach und nach abgelöst hat. Die Vorstufe dazu war das so genannte miai, ein arrangiertes Treffen vor der Hochzeit, das den zukünftigen Ehepartnern einen ersten Eindruck von einander vermitteln sollte. Häufig bestand diese Zusammenführung allerdings nur in einem flüchtigen Blick, von einem intensiven Kennenlernen vor der Eheschließung kann keine Rede sein. Fuess argumentiert daher auch, dass die sinkenden Scheidungsraten nicht auf die häufigeren sozialen Kontakte vor der Ehe zurückgeführt werden könnten. Der wichtigste Faktor war eine Veränderung der Werte und Mentalitäten, eine steigende Bedeutung der Familie seit der Jahrhundertwende.

Indikatoren für diese neue Wertschätzung waren die nun gebräuchlichen Hochzeitsrituale. Vorher hatte es weder eine religiöse noch eine staatliche Zeremonie gegeben. Die öffentliche Sanktionierung der Ehe gehörte daher auch zu den Forderungen von Sozialreformern in der späten Meijizeit. Ein zweiter Indikator war die Erhöhung der Mitgift, nicht zuletzt in Nachahmung westlicher Bräuche. Der entscheidende Kontext für die Veränderung sozialer Normen war jedoch die komplexe Dynamik des japanischen Modernisierungsprozesses. Die hohe Scheidungsrate galt für eine Nation, die ihren zivilisierten Status nachweisen wollte, als nationales Stigma. Amerikanische und europäische Besucher, allen voran die Missionare, übten heftige Kritik an der japanischen Scheidungspraxis, die als Zeichen einer kulturellen Rückständigkeit aufgefasst wurde. Insbesondere das informelle Prozedere und die hohe Zahl außergerichtlicher Verfahren erweckten das Misstrauen der westlichen Beobachter.

Die Inkompatibilität von herkömmlicher Praxis und dem Diskurs der modernen Zivilisation, so kann Fuess suggerieren, war für die Veränderung der Einstellung zur ‚modernen Familie’ von entscheidender Bedeutung. Die fallenden Scheidungsraten waren nicht nur eine logische Folge veränderter sozialer Strukturen und der ‚Modernisierung’, sondern zugleich auch ein Effekt der globalen Einbindung Japans und der Internalisierung eines westlichen Blicks. Dass sich inzwischen die rechtlichen Rahmenbedingungen (etwa die außergerichtliche Einigung oder die geringere Bedeutung der ‚Schuld’ eines der Partner), aber auch die Scheidungsfrequenz, in den USA und Europa der japanischen Praxis der Tokugawazeit angenähert haben, mag vor diesem Hintergrund als eine modernisierungstheoretische Ironie gelesen werden.

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