P. Rambeaud: De la Rochelle vers l'Aunis

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Titel
De la Rochelle vers l'Aunis. L'histoire des réformés et de leurs églises dans une province française au XVIe siècle


Autor(en)
Rambeaud, Pascal
Erschienen
Anzahl Seiten
602 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Friedrich Mißfelder, Historisches Seminar, Universität Zürich

Drei Viertel der städtischen Bevölkerung waren verhungert oder durch Krankheiten ums Leben gekommen, als die große Belagerung von La Rochelle am 28. Oktober 1628 nach über einem Jahr zu Ende ging. Mit der Stadt am Atlantik fiel die letzte große Festung des politischen Calvinismus in Frankreich, die Religionskriege waren endgültig zu Ende. Mit der Belagerung ging auch die fast drei Generationen währende Geschichte des reformierten La Rochelle zu Ende: eine zentral gelenkte Peuplierungspolitik bevölkerte die Stadt von nun an mit königstreuen Katholiken, 1648 wurde La Rochelle Bischofsitz. Nur ein „noyeau dur de protestants“ konnte sich erhalten (S. 526).

Rambeaud erzählt hier systematisch und auf eigenen Vorarbeiten aufbauend1 die Geschichte von Aufstieg und Fall des reformierten La Rochelle, von den ersten, noch klandestinen Gemeinden über die stolze Quasi-Stadtrepublik, die mehreren Königen von Frankreich die Stirn bot, bis hin zum langsamen Niedergang und zur zunehmenden Isolation des „französischen Genf“. Mehr noch: der Autor beschreibt die Reformation in La Rochelle nicht ausschließlich als „urban event“, sondern nimmt vor allem die konfessionellen Stadt-Umland-Beziehungen zwischen der städtischen Mutterkirche und der umgebenden Provinz des Aunis in den Blick. Er fragt demnach nach den Ursachen des dortigen „calvinisme rural“ (S. 20) und seinen Wurzeln: Wie gestaltete sich die konfessionelle, aber auch die wirtschaftliche, soziale und politische Verflechtung zwischen Stadt und Umland? Welche Gründe lassen sich für die spezifische politische Kultur einer „exception politique“ (S. 491) angeben, die schließlich in das Desaster von 1628 mündete?

Die Reformation erreichte den äußersten Atlantiksaum vergleichsweise spät: erste Anzeichen für reformierte Aktivität in und um La Rochelle lassen sich erst im Zusammenhang mit der Affaire des Placards von 1534/35 bemerken. Die langsame Ausbreitung reformatorischer Ideen gelang im Verlauf der 1530er- und 1540er-Jahre vor allem innerhalb des urbanen Milieus von Kaufleuten und Handwerkern und sickerte erst langsam ins Umland ein. Hier spielten vor allem wirtschaftliche und soziale Verbindungen zwischen La Rochelle und dem Aunis eine entscheidende Rolle: reiche städtische Kaufleute besaßen Grund im Umland, Bauern und ländliche Handwerker kamen aus wirtschaftlichen Gründen in die Stadt oder waren dort in Patronagenetzwerke eingebunden, was Rambeaud anhand von Taufregistern und Patenschaften nachweisen kann. Über diese Kanäle konnten reformatorische Ideen auch auf dem Lande verankert werden. Dieser Prozeß erhielt entscheidenden Auftrieb, nachdem 1558 die erste reformierte Gemeinde in La Rochelle selbst gegründet worden war. La Rochelle hatte seither eine starke Zentralitätsfunktion für das Aunis inne: Die Stadt stellte das kirchliche Personal, bildete es zeitweise sogar in einer eigenen Akademie aus, war Anlauf- und Fixpunkt für Handel und religiöses Leben und in Krisenzeiten auch Rückzugs- und Rettungsort.

In den beginnenden Religionskriegen verhielt sich die Stadt vorerst neutral, bis die städtische Regierung schließlich 1568 handstreichartig von radikaleren calvinistischen Kräften übernommen wurde. Diese führten La Rochelle hinüber in das Lager des Prinzen von Condé und der Königin von Navarra, Jeanne d’Albret, die für sich und ihren Sohn, den späteren Heinrich IV., die Stadt als Exilort wählte. Durch diese klare Positionierung während der Religionskriege wurde La Rochelle zum zentralen Fluchtort für Konfessionsflüchtlinge aus ganz Frankreich, vornehmlich aber – wie Rambeaud nachweisen kann – aus den umgebenden Provinzen Aunis, Saintonge und Poitou. Diese Exulanten bildeten in den 1570er-Jahren eine eigene Bevölkerungsgruppe in der Stadt und waren vergleichsweise isoliert. Allerdings nutzten sie ebenso wie die reformierte Bevölkerung des Umlands die konfessionelle und administrative Infrastruktur von La Rochelle, um zu heiraten, ihre Kinder taufen zu lassen oder Patenschaften eintragen zu lassen.

Nach der relativen Entspannungsphase in den späteren 1570er-Jahren wurde die Stadt während der Troubles de la Ligue in den 1580er-Jahren erneut zum Fluchtort. Das Edikt von Nantes schließlich brachte, wie Rambeaud plausibel argumentiert, für La Rochelle und sein Umland mehr Schwierigkeiten als Vorteile, mußte doch die nach und nach gefestigte alleinige Vormachtstellung der reformierten Konfession wieder aufgegeben werden. Hinzu kam ein chronischer Mangel an kirchlichem Personal, so dass das Edikt erst die Stagnation und schließlich den Niedergang der reformierten Konfession in und um La Rochelle einläutete. Dies ging aber zugleich mit einer zunehmenden politischen Radikalisierung einher, die 1628 schließlich einen katastrophalen Schlußpunkt fand.

Methodisch hält sich Rambeaud in seiner Untersuchung weitgehend an das Arsenal der historischen Demographie, jedenfalls so lange es die durchaus disparate Quellenlage für seine Fragestellung zuläßt. Probleme in dieser Hinsicht ergeben sich für La Rochelle vor allem durch das vollständige Fehlen von wichtigen Quellenbeständen zur innerkirchlichen Entwicklung, vor allem von Konsistorialprotokollen. Bis zu einem gewissen Grade ausgefüllt werden kann diese Lücke durch überaus reiche Bestände an Notariatsakten, von denen Rambeaud wie auch schon andere Stadthistoriker von La Rochelle vor ihm2 ausgiebigen Gebrauch macht. Vor allem anhand von Heirats- und Taufregistern sowie von anderen Notariatsakten kann er die enge Verflechtung von Stadt und Umland mit ihren Folgen für die konfessionelle Geographie der Region aufzeigen. Namensgebung – sogar für Schiffe – wird als erprobter Indikator konfessioneller Prägungen ebenso analysiert wie die Entwicklung des Buchdrucks in La Rochelle als Multiplikator religiöser Inhalte.

Zum eigentlichen Bereich der Konfessionskultur geben die fragmentarischen Quellen leider nur wenig Substantielles her, so dass Rambeaud hier kaum über das Insinuieren von „was anderswo so ist, wird auch hier schon so sein“ hinausgelangen kann. Ohnehin führt die schwierige Quellenlage den Autor oftmals dazu, seine Befunde eher zu präsentieren als zu analysieren. So besteht ein knappes Viertel des Buches aus Listen von Hunderten von Namen, Funktionen und Aufzählungen von Besitzverhältnissen, die aus den Notariatsakten rekonstruiert wurden. Dies wäre als solches durchaus sinnvoll und zumindest im Sinne einer sorgfältigen Lokalgeschichte auch begrüßenswert, wenn nicht im Text selbst auch vielfach das Name-dropping überhandnehmen würde. Je mehr Namen und Daten geliefert werden, desto bohrender wird die Frage nach dem Wert solch präziser Information.

Welche neuen Erkenntnisse kann Rambeauds Studie über den engeren lokalhistorischen Kontext hinaus liefern? Leider nur wenige. Die Analyse der sozialen Zusammensetzung der städtischen und ländlichen Bevölkerung birgt wenig Überraschungen: Händler und Handwerker in der Stadt, Bauern, Winzer und Landarbeiter im Umland. Auch der Nachweis der Zentralitätsfunktion von La Rochelle in wirtschaftlicher, sozialer und konfessioneller Hinsicht ist keine wirklich revolutionäre These. Einzelne Ergebnisse sind hingegen durchaus bemerkenswert. So kann Rambeaud zeigen, dass die gängige These, die Reformation sei in der Hafenstadt La Rochelle vor allem über Fernhandelsbeziehungen in die Niederlande und nach Norddeutschland importiert worden, auf falschen Annahmen beruht. Dominierend sei stets eher der Handel mit der standhaft katholischen Bretagne gewesen. Reformatorische Impulse kamen dagegen vielmehr von calvinistischen Wanderpredigern, die den weiten Weg von Genf bis an den Atlantik geschafft hatten. Auch die sozialhistorische Analyse der „refuge“-Zeiten, also vor allem 1568–1574 und 1585–1589, ergibt das interessante Bild einer einerseits konfessionell radikalisierten, andererseits aber sozial eher undurchlässigen Stadtgesellschaft, die die Glaubensflüchtlinge stets auch und vor allem als Belastung für das soziale Gleichgewicht begriff.

Insgesamt bleibt der Eindruck einer Darstellung, die zwar von einer beeindruckenden Gründlichkeit und Redlichkeit ist, aber doch ein wenig hinter den selbst gesteckten Zielen einer Gesamtgeschichte der Reformierten und ihrer Kirchen in und um La Rochelle zurückbleibt. Die Idee, städtische und ländliche Reformationsgeschichte stärker zu verzahnen, bleibt dabei durchaus reizvoll. Welche Ergebnisse ein solcher Ansatz erbringen kann, ist jüngst am Beispiel der westschweizerischen Waad zwischen den reformatorischen Zentren Genf und Bern eindrucksvoll demonstriert worden – allerdings bei weiter reichender Fragestellung und erheblich dankbarerer Quellenlage.3

Anmerkungen:
1 Rambeaud, Pascal: La Rochelle fidèle et rebelle, Paris 1999.
2 Robbins, Kevin P.: City on the Ocean Sea: La Rochelle, 1530–1650. Urban society, religion and politics on the French Atlantic Frontier, Leiden u.a. 1997; Meyer, Judith Pugh: Reformation in La Rochelle. Tradition and Change in Early modern Europe, Genève 1996.
3 Bruening, Michael W.: Calvinism’s First Battleground. Conflict and Reform in the Pays de Vaud, 1528–1559, Dordrecht 2005.

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