F. Crivellari u.a. (Hgg.): Die Medien der Geschichte

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Titel
Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive


Herausgeber
Crivellari, Fabio; Kirchmann, Kay; Sandl, Marcus; Schlögl, Rudolf
Erschienen
Konstanz 2004: UVK Verlag
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knut Hickethier, Institut für Germanistik, Universität Hamburg

Seit einigen Jahren wendet sich die Geschichtswissenschaft, vor allem die Zeitgeschichtsforschung, verstärkt den Medien zu, umgekehrt greift die Medienwissenschaft, die sich ohnehin als eine auch historisch arbeitende Wissenschaft versteht, zeitlich weiter aus in ihren Konstruktionen von historischen Gesamtdarstellungen (vgl. die Veröffentlichungen von Werner Faulstich, Jochen Hörisch u.a.).

Der vorliegende Sammelband macht, als Ergebnis einer Tagung im Jahre 2002 in Konstanz, die Begegnung von Geschichtswissenschaft und Medienwissenschaft zum Thema und versammelt zahlreiche Beiträge jüngerer Forscher im Grenzgebiet beider Wissenschaften. Dies ist schon allein deshalb interessant, weil sie zeigen, in welche Richtungen sich Qualifikationsarbeiten gegenwärtig bewegen, auch wenn die versammelten Beiträge keine Gesamtsicht der neueren Forschungen bieten können.

Die Herausgeber nehmen einleitend eine Standortbestimmung vor, die mit einem Rundumschlag beginnt, der der Geschichtswissenschaft mangelnde Beachtung der Medien vorwirft und der Medienwissenschaft Reflexionsarmut unterstellt. Es ist erstaunlich, dass das Fehlen eines „verbindlichen Konsens[es]“ (S. 23) über Gegenstand und Methoden und damit das Bestehen auf Vielfalt seit einiger Zeit nicht mehr als Vorzug einer jungen und dynamischen Disziplin wie der Medienwissenschaft verstanden wird, sondern als ihr Mangel. Und hatte es früher gegolten, dass sich die Etablierung einer Wissenschaft an der Vielfalt ihrer Einführungen messe (man vergleiche nur einmal die Zahl der Einführung in die Literaturwissenschaft), so gilt dies nun als Zeichen einer „Verunsicherung“ (S. 24) der Disziplin. Solche Rundumschläge, vor allem wenn sie wesentliche Bereiche der Forschung schlicht auslassen, sind ärgerlich und diskreditieren an sich gute Vorhaben.

Die Herausgeber wollen ein neues Modell etablieren, nämlich eine „Universal-Geschichte des Medialen“ (S. 27 – wobei mit dem Medialen ja letztlich Eigenschaften der Medien verstanden werden), und sie verstehen ihn als einen integralen Ansatz, der gleichwohl seine „Ausdifferenzierung in trennschärfere Technik-, Kultur-, Sozial- und Ästhetikgeschichten des Medialen konstruktiv voranzutreiben“ habe (ebd.). Dahinter steht das Postulat eines neuen Paradigmas der „Medialität der Geschichte“ (S. 9). Damit ist mehr gemeint als eine Abkehr von der Fixierung auf schriftliche Quellen und der Orientierung auf schriftliche Darstellungen in der Geschichtsschreibung, sondern die „Medialität der Geschichte“ ist umfassender und zugleich diffuser zu verstehen. „Medialität der Geschichte“ soll analog zur „Historizität der Medien“ (S. 28) gedacht werden. Dabei bedingt das eine nicht unbedingt das andere, denn die Gebundenheit der Quellen in einzelnen medialen Formen wird in der Regel von der Geschichtswissenschaft durch eine Kontextualisierung des medial Vermittelten relativiert. Auch die „Historizität der Medien“ ist im Verständnis der Medienwissenschaft bislang nie alleiniger Untersuchungsaspekt gewesen, sondern diente dazu, die Gegenwärtigkeit der Medien und ihrer verschiedenen Bedingungen und Formen besser zu verstehen.

Das angesprochene Konzept, die Geschichte selbst medial zu denken – und damit eben den Stichworten von der „Gutenberg-Galaxis“ oder dem „Universum der technischen Bilder“ als Geschichte konfigurierenden Modellen zu folgen – wäre spannend gewesen, wenn die Herausgeber es zumindest in den möglichen Umrissen diskutiert hätten.

Doch dies geschieht dann leider nicht. Denn natürlich lässt sich grundsätzlich und in spannender Weise diskutieren, was es bedeutet, dass auch die Geschichtsschreibung von einer Logik des Textes bestimmt wird, lässt sich erörtern, welche Implikationen die Narration für die Geschichtsschreibung hat. Hier hätte auch die neuere Narratologie mehr zu bieten als der im Band stereotyp anzutreffende Verweis auf Hayden Whites Buch über die Narration in der Geschichtswissenschaft von 1970 vermuten lässt.

Auch wäre spannend gewesen, zu diskutieren, was aus der „Visualität“ von filmischen und televisuellen Darstellungen historischer Ereignisse folgt und in welchem Verhältnis diese Visualität zu einer schriftlich entfalteten Historiografie steht. Hier wären die medienwissenschaftlichen Überlegungen zur Bildlichkeit sicherlich einzubeziehen. Es ist ja nicht ganz zufällig – und dies ist nicht als Kritik an diesem Band zu verstehen, sondern steht dafür, dass die in der Einleitung zu findenden Überlegungen nicht wirklich zu Ende gedacht sind –, dass alle Beiträge selbst wiederum der Logik der Schrift folgen und nur wenige Autoren Bilder – und dies zumeist nur in illustrierender Form – einsetzen. In der Einleitung wird ein Paradigma ausgerufen, ohne dass es wirklich sichtbar wird.

Ungeachtet dessen gibt der Band Einblicke in zahlreiche, überaus interessante Forschungen. Die Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den jeweils offensichtlich thematisch gedachten Abschnitten, in denen sie zu finden sind, ist allerdings nicht immer ganz einleuchtend.

Den einzelnen Unterkapiteln vorangestellt ist der Beitrag von Bazon Brock über die „Geschichte des Nichtgeschehenen“, der dafür plädiert, Geschichte nicht von den Ereignissen, sondern vom Unterlassenen her zu schreiben. So hätte der damalige Bundeskanzler Kohl 1989 bei der Öffnung der Mauer nichts tun sollen (das ist so zu verstehen, dass er die deutsche Einheit nicht hätte vorantreiben sollen), dann wäre gerade das „Nichthandeln als [...] eigentlich historische Leistung anerkannt“ worden (S. 50). Eine solche These ist natürlich nur als Spiel im Nachhinein denkbar, wenn man weiß, wie gehandelt wurde, denn nur vor diesem historisch bekannten Handeln erscheint alles andere als Nichthandeln. Hätte Kohl nicht in der Weise gehandelt, wie er es tat, wäre dies nicht als Nichthandeln in Erscheinung getreten, sondern eben als ein anderes Handeln. Auf die bekannte Form der Provokation als ästhetisches Spiel, das der Wuppertaler Ästhetik-Professor hier betreibt, reagierten in einer Podiumsdiskussion Lorenz Engell, Kay Kirchmann, Günter Oesterle und Norbert M. Schmitz, ohne sich aus eben diesem Spiel wirklich lösen zu können. Denn wenn die „Geschichte des Nichtgeschehenen“ als ein Baustein des Konzepts der „Medialität der Geschichte“ gelten soll, dann ist damit wohl doch nur eine Ästhetisierung der Geschichte gemeint (nicht eine Ästhetik der Geschichtsschreibung, die durchaus ihre Berechtigung hat), werden soziale Ursachen und Folgen letztlich weniger wichtig. Engells These, die Öffnung der Mauer sei vom Fernsehen nicht gezeigt worden, weil das Fernsehen erst Bilder gezeigt habe, wie die Menschen „schon da sind, wenn sie schon durch die Öffnung drängen“ (S. 64) bedeutet eine Verkennung der sozialen und historischen Bedeutung der Maueröffnung. Es ging ja nicht darum, dass sich eine Gittertür öffnete, sondern dass die DDR-Bürger massenhaft an der Grenze die Wachmannschaften bedrängten und nach West-Berlin strömten. Gerade ihre massenhafte Präsenz im Westen machte ja aus der Maueröffnung den irreversiblen ‚Fall der Mauer’. Die Bilder von der Öffnung der Grenze waren und sind eben semiotischer Natur: Sie stehen für einen sozialen und historischen Vorgang, sie tragen dazu durch Verstärkung und Verbreitung bei – aber sie sind eben nur Bilder und damit Zeichen und nicht der Vorgang selbst.

Der Abschnitt „Mediale Formationen von Geschichtswahrnehmung“ setzt zunächst mit einer sehr allgemeinen Darstellung der biologischen Grundlagen von Wahrnehmung und Kommunikation durch Bernhard Kleeberg ein, an die Matthias Bickenbach mit einer Erörterung des Begriffs der Medienevolution anknüpft, die zu einer an Niklas Luhmann orientierten Konstruktion führt, in der Variation, Selektion und Stabilisierung zentrale Rollen spielen. Ob dieses Schema medienhistorisch neue Erkenntnisse erschließt, wäre an einem Beispiel vorzuführen gewesen. Gegenüber diesen allgemeinen Ansätzen geht Uwe Hebekus auf Bilder und Bildvorstellungen bei Leopold Ranke ein und zeigt, wie geografische Bilder Rankes Geschichtsvorstellungen prägen. Jens Ruchatz setzt sich mit der Artikulation der Individualität in medialen Formen auseinander und erörtert hier vor allem den Zusammenhang zwischen dem Medienstar und der Starfotografie. Hier hätte ein Blick auf vorliegende deutschsprachige medienwissenschaftliche Untersuchungen zum Medienstar und der frühen Geschichte der Starpostkarten Präzisierungen gerade der die Medien betreffenden Befunde zur Zeit um 1900 ermöglicht.

Lorenz Engell arbeitet die Bedeutung der Serialität für das Historischwerden des Fernsehens heraus bzw. zeigt umgekehrt, dass Historizität sich im Fernsehen als eine Form des Seriellen darbietet. Engell argumentiert dabei auf strukturelle Weise und es stellt sich dort, wo er dann auf wenige/vereinzelte Beispiele wie die Soap Opera rekurriert, die Frage, ob nicht bestimmte Befunde, die er als grundsätzlich für das Fernsehen herausarbeitet, nicht letztlich nur punktuell historisch zu verorten sind. Wenn er z.B. Cantor/Pingrees Formulierung von der „unendlich hervorquellenden Mitte ohne Anfang und Ende“ als Beleg für das „große Beispiel“ (S. 191) der Soap nimmt, ist gerade dieser Befund Ausdruck eines medientheoretischen Erstaunens über die Form der Soap Anfang der 1980er-Jahre gewesen. Gilt dieser Befund denn auch grundsätzlich für das Serielle des Fernsehens? Engells Reflexion der Zeitdimensionen, insbesondere der Verlangsamung der Darstellung (in den Langzeitserien) müsste m.E. zunächst in eine grundsätzliche Diskussion der Ästhetik des Fernsehens eingebunden werden und sollte erst danach auf die Historizität des Mediums bezogen werden. Auch Peter Gendolla setzt sich mit dem Zeitbegriff auseinander. Sein Ausgangspunkt sind Fotos von Uhren, die nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima gefunden wurden, und er schlägt von hier aus den Bogen zu einem globalen „Raum-Zeit-Integral“, das von einer Renaissance-Vorstellung ausgehend, letztlich heute durch das Internet entsteht. Gendolla zeigt, dass sich in der Gegenwart der Medien gängige Zeitvorstellungen auflösen und neu formieren. Gilt dies aber auch für die Geschichtsschreibung und wenn ja, wie sehen diese neuen Zeitvorstellungen aus?

Der Beitrag von Stefan Haas geht als letzter Beitrag dieses Abschnitts auf Narrativität und Bildlichkeit in historischen Darstellungen auf sehr allgemeine wissenschaftstheoretische Art und Weise ein und stellt damit den Übergang zum Abschnitt über „Visualisierung und Narrativierung des Historischen“ her. Steffen Bogen beschäftigt sich kunstwissenschaftlich mit den Bildreliefs auf Kirchentüren, wobei die Tür selbst als Metapher für die Schwelle zwischen verschiedenen Zeiten und Welten auf den Kirchentüren thematisiert wird. Günter Oesterle setzt sich mit dem Volksbuch „Geschichte Friedrich des Großen“, einer Bildergeschichte von Franz Kugler und Adolf Menzel um 1839/1942 auseinander.

Norbert M. Schmitz findet die Fortsetzung des Historienbildes des 19. Jahrhunderts (Hans Makart, Anton von Werner) im Historienfilm und diskutiert vor allem die Filme Eisensteins. Schmitz sieht besonders in der Montage die große Neuerung, interessant wäre es auch gewesen, über den Authentizitätsanspruch der Revolutionsfilme nachzudenken, wenn man sich erinnert, dass die Szene der Erstürmung des Winterpalais, die aus einem Spielfilm stammt, häufig als authentisches Bild des historischen Ereignisses genommen wurde. Nicole Wiedenmann erörtert die Mimetik, das Abbildhafte an der Holocaust-Fotografie, eine seit der Debatte um Lanzmanns Film über die Shoah anhaltende Diskussion. Wiedenmann zeigt, wie zwischen den Fotografien und den ihnen per Bildunterschrift zugewiesenen Bedeutungen Differenzen bestehen. Dieser Beitrag kann als ein Muster für eine beispielhafte Fotografieanalyse genommen werden. Peter Brauns Untersuchung der Arbeiten des Dokumentarfilmers Volker Koepp konzentriert sich auf das reflexive Moment in den Filmen und liefert eine sehr subtile Darstellung der Filmarbeit Koepps. Sven Grampp untersucht schließlich die Thematisierung des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Fernsehrückblicken anlässlich des Endes des Jahrhunderts und zeigt am Beispiel der 3sat-Reihe „100 Wörter des Jahrhunderts“, dass auch das Fernsehen zur Reflexion fähig ist.

Auch der Abschnitt „Mediale Struktur historischer Ereignisse“ widmet sich unterschiedlichen Phänomenen. Michael Kempe legt einen sehr anschaulichen und materialreichen Beitrag über die gelehrte Korrespondenz und ihre Bedeutung für die Wissenschaft vor. Kempe hat das Korrespondenznetz des Schweizer Alpenforschers Johann Jakob Scheuchzer im 17. und 18. Jahrhundert als Beispiel gewählt. Judith Prokasky erörtert an Ernest Pichicos Gemälde der Erschießung der Pariser Communarden die „Illusion der Authentizität“ (S. 431) und zeigt, wie hier zugleich Werbung für die Besiegten betrieben wurde.

Frank Bösch problematisiert am Beispiel der Skandale der Zeit um 1900 das Verhältnis von Geschichte und Medien und entwickelt ein Programm für eine historische Skandalforschung, die dort, wo sie sich auf die Struktur der Medienproduktion einlässt, das eingangs herausgestellte Konzept der ‚Medialität der Geschichte’ einlösen könnte. Axel Jockwer setzt sich mit der Sendung ‚Wunschkonzert’ im NS-Rundfunk auseinander und trägt eine aufschlussreiche Fassette zur historischen Rundfunkforschung bei.

Im Abschnitt „Popularisierung von Geschichtsbildern“ erörtert Rainer Wirtz das Problem von Geschichts-Ausstellungen, Thomas Fischer wendet sich dem „Format Zeitgeschichte“ im Fernsehen zu, Gabriele Rippl untersucht die Geschlechterdarstellung in Rückblickssendungen im deutschen Fernsehen und Günter Riederer liefert mit seinem Beitrag über die Rommel-Filme der 1950er-Jahre einen konkreten Beitrag zur Filmgeschichtsschreibung dieser Zeit.

Judith Keilbach zeigt sehr instruktiv und mit zahlreichen Hintergrundsdarstellungen versehen, wie historisches Bild- und Filmmaterial in unterschiedlichen Filmen und Fernsehsendungen verwendet wurde und wie sich dabei die Bedeutungen des Gezeigten durch „Überschreibungen“ (S. 557) und „Festschreibungen“ (S. 558) verändert haben. Keilbachs Untersuchungen sind vor allem deshalb so aufschlussreich, weil sie auch ganz konkrete Überlegungen zur Bedeutung des Bildbesitzes für die Form der Bedeutungsverschiebungen anstellt.

Die Fülle der Beiträge des Bandes changiert zwischen sehr allgemeinen Überlegungen zur Historizität und Medialität in ganz unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung auf der einen Seite und oft sehr differenzierten Falluntersuchungen auf der anderen Seite. Das Spektrum der Medien ist dabei weit gefasst, die Beispiele selbst sind variantenreich und in ihren Ergebnissen unterschiedlich ertragreich. Die einzelnen Beiträge werden in unterschiedlicher Form von der weiteren Forschung beachtet werden. Sie weisen dort in die Richtung ‚Medialität’ und ihrer Folgen für die Geschichtsschreibung, wo sie sich konkret auf die Bedingungen der Medienproduktion einlassen. Schade, dass sich die Herausgeber nach ihren großen programmatischen Vorsätzen nicht selbst mit eigenen Beiträgen beteiligt haben. Es wäre schön gewesen, Ansätze dafür zu sehen, wie das Konzept „Medialität der Geschichte“ einzulösen ist.

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