Insa Eschebach widmet sich in ihrem kleinen, gut 200 Textseiten umfassenden Buch den Kontinuitäten und Brüchen des öffentlichen Gedenkens an Gewalt und Tod in Deutschland seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Sie charakterisiert Gedenken einleitend als sakrale Praxis, die in mehrfacher Hinsicht die Überschreitung von Erfahrungsgrenzen erlaube: Im Totengedenken werden Wir-Gruppen konstruiert; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gruppe werden zu einer sinnhaften Einheit verbunden. Zudem kann die Grenze des Todes symbolisch überwunden und eine Verbindung zwischen Lebenden und Toten hergestellt werden, durch die diese zu ‚unseren’ Toten werden. Wo der eigenen Toten gedacht wird, wird der Tod ästhetisiert. Entscheidend ist für Eschebach der normative Aspekt, den Gedenken impliziert und den die Religionswissenschaftlerin auf den Begriff der Sakralisierung bringt.
Sakralisierung versteht Eschebach als „Prozeß, der ein Alltägliches in den Status des Heiligen transportiert“ (S. 11) und es damit zur Leitlinie von Deutungen und Handlungen erhebt. Als „geradezu ‚klassischer’ Modus des Umgangs mit dem gewaltsamen Tod“ (S. 49) diene Sakralisierung der Harmonisierung des Unheils und der Legitimierung des sozialen Ordnungszusammenhangs der Gruppe (S. 48ff.). Zum Formenrepertoire der Sakralisierung, das Eschebach nennt, gehören unter anderem Kerzen, Schweigeminuten und heilige Gegenstände (S. 51ff.) sowie Topoi des ewigen Lebens (S. 63), der Treue (S. 78), des unbekannten Soldaten oder später des unbekannten Häftlings (S. 124). Trivialisierung – von Eschebach eindrücklich illustriert anhand der Souvenirkultur, welche sich an den verschiedensten sakralen Erinnerungsorten findet – stehe der Sakralisierung nun aber keineswegs entgegen. Das Verhältnis beider Erinnerungsmodi ist für Eschebach vielmehr ein „supplementäres“ (S. 56). Sakralisierung überhöhe die Toten und lasse sie dadurch entrücken. Im Gegensatz dazu erlaube das Souvenir, das der Gedenkende – als Erinnerungstourist – mit sich nimmt, die Aneignung des Todes durch Veralltäglichung. Ähnliches gelte für das Hinterlassen von Inschriften an KZ-Krematorien (S.121ff.).
Die symbolische Herstellung von Wir-Gruppen beruht immer auf Grenzziehungen. Wie Eschebach betont, basiert auch Gedenken auf Prinzipien und Praktiken des Ausschlusses und bedarf spezifischer Deutungen der Zugehörigkeit. Die Autorin demonstriert dies anhand des Ausschlusses jüdischer Geistlicher von Gedenkfeiern der Weimarer Republik und der damit bewerkstelligten symbolischen Exklusion von Juden aus der imaginären Gemeinschaft der Deutschen (S. 79) sowie anhand der Kontrolle von Gedenkaktivitäten lesbischer Frauen in der DDR (S. 155ff.).
Eschebach hebt die historische Varianz der Formen des Gedenkens mit ihren je eigenen Transzendenzbezügen, normativen Setzungen und Ebenen kollektiver Zugehörigkeit hervor. Entsprechend ist die Studie historisch vergleichend angelegt. Untersucht werden sowohl Symbole und Deutungsmuster als auch performative Praktiken der Sakralisierung. Mit Blick auf den von ihr untersuchten Zeitraum deutscher Geschichte vertritt Eschebach dabei die These, dass im historischen Prozess des Übergangs der „Sakralisierungskompetenz“ von den christlichen Kirchen auf weltliche Instanzen das Modell christlicher Gedenkkultur übernommen worden sei. Die Studie liefert einen Abriss historischer Formen des Gedenkens, den die Autorin in insgesamt neun Punkten darlegt (S. 22ff.). Eschebach zeichnet die antiken, christlich-religiösen, militärischen und nationalen Traditionslinien nach, die ihrer These zufolge in „ein Formenrepertoire einer nationalen Sprache des Gedenkens“ (S. 47) eingegangen sind. Genannt werden hier insbesondere „die Erinnerung an einen Sieg als ein Modus der Totenehrung von geradezu paradigmatischer Bedeutung“ (S. 22) und die Macht der Erinnerung zur Legitimierung politischer Herrschaftsordnungen. Des Weiteren stellt Eschebach die Bedeutung von Namen im Totengedenken heraus, die Bindung an Orte und Daten sowie die Prominenz der Erinnerung in der christlichen Religion. Im Vorgriff auf die folgenden Kapitel wird dies jeweils mit historischen Beispielen illustriert. Präzise auf die Frage des Gedenkens konzentriert, gibt Eschebach dann einen knappen Überblick zu aktuellen kultur- und politikwissenschaftlichen Theoriedebatten (S. 38ff.). Sie betrachtet insbesondere das Verhältnis von Erinnern und Vergessen sowie die Frage der Funktionalisierung von Vergangenheit im Gedenken. Der Ansatz der Studie ist primär ein religionssoziologischer; am Beispiel der Erinnerungskultur wird die „Verflüchtigung der Religion ins Religiöse“1 nachgezeichnet.
Den Hauptteil des Buchs bilden sechs Kapitel mit empirischen Fallstudien. Sie machen das Buch zu einer spannenden und abwechslungsreichen Lektüre, da Eschebach – an die jeweilige historische Phase angepasst – ganz unterschiedliche Formen und Medien, Orte und Anlässe des Gedenkens analysiert. Methodisch lässt sich gegen ein solches Vorgehen nichts einwenden, da die Autorin beim Vergleich sorgsam, differenziert und kontextsensibel vorgeht. Die Datengrundlage liefern zeitgenössische Textquellen, wobei sich Eschebach oftmals auf vorhandene Forschungsliteratur stützt und die dort präsentierten Dokumente in gelungener Weise interpretiert.
Am Beispiel von Gedenkveranstaltungen an zentralen Stätten national orientierter Gedenkkultur der Weimarer Republik zeigt Eschebach, wie Nation im Sinne einer „einstimmigen, spannungslosen Einheit“ inszeniert wurde (S. 70). In den Festreden der Weimarer Republik wurde eine „eigentümliche Defizienzerfahrung“ (S. 77) artikuliert, der – mit Hilfe des Totengedenkens – eine Umdeutung von Niederlage in Sieg und die „Erwartung eines Kommenden“ (S. 87) entgegengestellt wurde. Im Gegensatz dazu wurde in Gedenkveranstaltungen des ‚Dritten Reichs’ die „Gegenwart vor dem Hintergrund der Weimarer Republik als nunmehr erfüllte Zeit“ inszeniert (S. 99): „Das ‚heilige Vermächtnis’ der Toten ist in ‚eine ewige Mahnung des Bekenntnisses zum deutschen Heldentum’ transformiert.“ Charakteristisch waren des Weiteren die Militarisierung und Maskulinisierung des Gedenkens sowie die Marginalisierung christlicher Institutionen und explizit religiöser Handlungen im Rahmen von Gedenkveranstaltungen (S. 96ff.).
Für das in der unmittelbaren Nachkriegszeit einsetzende Gedenken an die Toten des nationalsozialistischen Massenmordes konstatiert Eschebach „Rekurse auf national und religiös tradierte Deutungsmuster“ (S. 109). Mit Verweis auf die KZ-Gedenkstätten Dachau und Ravensbrück zeigt die Autorin, dass an den dortigen Veranstaltungen neben den Alliierten auch Opferverbände beteiligt waren und dass die geschilderten Deutungsmuster bis in die 1980er-Jahre Gültigkeit behielten (S. 115). Anhand der Gedenkfeiern im ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, die immer wieder mit westdeutschen Vergleichsfällen kontrastiert werden, verfolgt Eschebach die Geschichte der deutschen Nachkriegserinnerung (S. 135ff.). In diesem Kapitel zeigt sich besonders eindrücklich die erstaunliche Kontinuität der Formen des (nationalen) Gedenkens – selbst über Systemwechsel hinweg.
Gedenken als wertbildende Praxis gesellschaftlicher Selbstdarstellung impliziert auch „Bilder einer als ideal erachteten Geschlechterordnung“ (S. 15). Diese Geschlechterspezifik des Gedenkens illustriert Eschebach anhand des Gegensatzes zwischen dem „Bild einer männlich-aktiven Selbstbefreiung bewaffneter Helden“ in Buchenwald, dem in der Gedenkstätte Ravensbrück das „karitative, bestenfalls tapfere Handeln der Frauen, ihr Leiden und Sterben“ (S. 151) entgegengestellt wurde.
Die Attraktivität und Deutungsmacht christlicher Symbol- und Ritualpraktiken in der frühen Nachkriegszeit (S. 167ff.) sowie nach der deutschen Vereinigung (S. 174ff.) analysiert Eschebach wiederum anhand von KZ-Gedenkstätten. Hier spielt insbesondere die Inszenierung der Häftlinge als auserwählt und vorbildlich eine Rolle. Ihr Tod wird als imitatio Christi (S. 171) und als Opfer für eine bessere Zukunft dargestellt. Die Identifikation mit den Opfern erlaubt dann die Hoffnung auf Vergebung für eigene Schuld (S. 183). Für die jüngste Vergangenheit konstatiert Eschebach schließlich eine Nationalisierung und Universalisierung des nationalsozialistischen Mordes an den Juden (S. 185ff.). Gedenken werde „zu einer nationalen Aufgabe erklärt“ (S. 186); zugleich ziele es auf die Legitimierung universeller Werte und die „Herleitung ethisch begründeter Handlungsmaxime[n]“ (S. 187). Nach Eschebach „geht mit der Setzung eines negativen Absoluten eine Essentialisierung des ‚Bösen’ wie des ‚Guten’ einher, die nun als Werte sui generis postuliert werden“ (S. 195). Ein solcher Diskurs strukturiert, so Eschebach abschließend, auch das Totengedenken nach dem 11. September 2001 (S. 196ff.).
An der einen oder anderen Stelle der Studie ließe sich Kritik anbringen – etwa wenn Eschebach den Ritualbegriff durch den der Performanz bzw. des performativen Aktes ersetzen möchte (S. 44ff.). Angesichts der konzeptionellen und analytischen Konfusion im Bereich der ‚performance studies’ erscheint eine solche Begriffsstrategie nicht sonderlich verlockend. Derartige Einwände ändern jedoch in keiner Weise den Gesamteindruck einer rundum gelungenen Studie. Der Band liefert nicht nur einen eigenständigen Beitrag zur Forschung über das Totengedenken, sondern ist aufgrund seiner präzisen und klaren Sprache und grundständigen Anlage auch für den Gebrauch in (einführenden) Lehrveranstaltungen zu Erinnerung und Gedächtnis exzellent geeignet.
Anmerkung:
1 Knoblauch, Hubert, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckmanns Unsichtbare Religion, in: Luckmann, Thomas, Die Unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991, S. 7-41.