Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Frage nach Prozessen der Herstellung und Veränderung von Räumlichkeit in verschiedenen kulturellen Kontexten. Es beginnt mit einem Vorwort von Benno Werlen, der im Anschluss an Heidegger feststellt, dass Raum als soziale Kategorie immer ein Ergebnis von „räumen“ ist (S. 6). Damit muss die Frage nach Raum in den Sozialwissenschaften immer eine Frage nach Praktiken und Wahrnehmungen sein, durch die Raum angeeignet und gestaltet wird. Das Buch nimmt diese empirische Herausforderung an und stellt die Frage nach der Herstellung und Veränderung von Räumlichkeit an verschiedenen Orten in der Südsee und in Indien.
Brigitta Hauser-Schäublin geht in ihrem Artikel der Frage nach dem Zusammenhang von Ritual und Räumlichkeit nach, die in der Ritualdiskussion bisher kaum behandelt wurde. Ihre Beispiele von den Abelam in Papua Neuguinea und von Bali veranschaulichen die Verschränkung von Raumaneingung und sozialen Hierarchien. Hauser-Schäublin argumentiert, dass Rituale, sakrale Gebäude, heilige Orte etc. religiöse Topographien schaffen, die gleichzeitig die Leerstellen von Alltagstopographien markieren. Die „Zentren“ in diesen religiösen Topographien können im Zeithorizont unterschiedlich aktiviert werden und erzeugen so verschiedene ineinander verschachtelte Raumwahrnehmungen, die je unterschiedliche soziale Beziehungskontexte aktivieren, veranschaulichen und stabilisieren.
Auch Wolfgang Kempf und Martin Rössler beschäftigen sich mit mehreren überlappenden Raumaneignungen, die hier aus historischen Veränderungsdynamiken hervorgegangen sind. Das interessante an ihren Artikeln ist, dass sie sich auch der Frage zuwenden, welche Konflikte entstehen, wenn verschiedene Gruppen ihre je eigenen Ansprüche und Vorstellungen vom Raum in die soziale Arena einbringen. Wolfgang Kempf behandelt die Umsiedlung von Banabans nach Fiji auf die Insel Rabi und die daraus folgenden heterogenen Aneignungen des Ortes als neue Heimat der Banabans, als Teil des Territoriums Fijis und als Ort, an dem westliche Kolonialmächte ihre Spuren hinterlassen haben. Alle drei Inskriptionen sind ineinander verschachtelt und werden so zunehmend zur Ursache und zugleich zum Austragungsort von Konflikten. Martin Rössler analysiert die Situation der Makassar in Süd-Sulawsi (Indonesien). Er beleuchtet, wie politische Aktivitäten des indonesischen Nationalstaates in Territorien lokaler Gruppen eingreifen und zeigt Formen des Widerstandes, die den nationalen Akteuren alternative Raumkonzepte entgegen bringen. Beide Artikel zeigen sehr überzeugend, wie soziale Dynamiken sich in Räumlichkeit einschreiben und welche Folgen Raumkonzepte für die Gestalt von Interessenkonflikten haben bzw. wie sie auf Identitätskonstruktionen einwirken.
Auch Michael Dickardt diskutiert den Zusammenhang von Raum und Identität. Sein Material stammt von der fijianischen Insel Kadavu. Er zeigt auf, wie im Ineinandergreifen ganz unterschiedlicher Formen ritualisierten Handelns Lokalität produziert wird. Thematisiert werden die Sitzordnung bei formellen Anlässen und religiöse Topographien im Zusammenhang mit christlichen und vorchristlichen Glaubensvorstellungen. Dickardt gelingt eine sehr anschauliche Darlegung von tatsächlichen Aushandlungsprozessen, die dem Leser eine Vorstellung davon geben, wie soziale Hierarchien in situ immer wieder neu im räumlich gerichteten Handeln angegangen und gestaltet werden.
Im Gegensatz dazu kommt die Analyse von Klaus Hess äußerst statisch daher. Hess beschreibt die Raumgestaltung der historischen Stadt Mandi als Folge von sozialer Klassifikation. Soziale Strukturen schreiben sich im Handeln in das Territorium ein, so lautet die für meine Begriffe sehr stark vereinfachte These. Er nimmt als einziger das Thema, den wechselseitigen Einfluss von Raum und Kultur in der Praxis zu ergründen, nicht an, sondern konstruiert ein Bild von scheinbar unumstrittenen klaren und eindeutigen Strukturen und Räumen.
Erklärtes Ziel des Buches ist es, mit diesen empirischen Studien zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Raum und Kultur beizutragen. Die Herausgeber sehen ihr Buch als einen Gegenpol jedoch keinesfalls Gegensatz zu jüngeren Debatten über die De-territorialisierung von Kulturen. Sie reklamieren eine Anerkennung der fundamentalen Bedeutung von Lokalität für alle kulturellen Prozesse. Damit treten sie in gewisser Weise der durch die Globalisierungsdebatten fossierten Vorstellung entgegen, Kulturen seien aufgrund der schnelleren Bewegung von Menschen, Waren und Ideen entlokalisiert. Zwar würden Raumwahrnehmung und Raumgestaltung heute auf vielfache Weise verändert, dennoch bleibt Raum ein fundierendes Element kultureller Vorstellungen und Praktiken. Von dieser Annahme ausgehend richten die Autoren hier bewusst den Blick auf konkrete Orte und analysieren, wie Kulturen und Räume in Praktiken verschränkt erzeugt werden. Dabei wird auch ausdrücklich auf gegenwärtige globale Veränderungen eingegangen, die die Lebensrealität (und damit die Raumgestaltung) von Menschen beeinflusst.
Die Ambitionen der Herausgeber gehen jedoch über eine empirische Erforschung von Räumlichkeit im kulturellen Prozess hinaus. Erklärtes Ziel ist es, eine neue „Theorie kultureller Räumlichkeit“ (S. 18) anzuregen und damit die Basis für „einen umfassenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs über die Räumlichkeit“ (S. 18) zu schaffen. Dickhardt und Hauser-Schäublin schlagen vor, „Modi der Räumlichkeit“ (S. 38) herauszuarbeiten. Gemeint sind typische und kulturübergreifend anzutreffende Räumlichkeitsaneignung, die Formmomente wie Ausdehnung, Annäherung, Distanzierung und Positionierung in vergleichbarer Weise verwirklichen. Dieses Thema wird jedoch im Weiteren nicht ausgeführt. Es erscheint auch nicht als Instrument für einen Kulturvergleich oder als Brücke zwischen den Artikeln.
Michael Dickhardt spricht als einziger in seinem Artikel vom Modus der „Lokalität“ als einer typischen Weise, Handeln im Raum zu situieren, ohne diese Idee jedoch weiter zu vertiefen (S. 221). So bleibt die Idee einer neuen Theorie der Räumlichkeit eher ein Wunsch als eine tatsächliche Leistung des Buches.
Damit sei nicht gesagt, dass hier keine interessanten neuen Anregungen gemacht würden. Meiner Ansicht nach liegt der Verdienst des Buches vor allem darin, dass hier die Bedeutung praxiologischer Ansätze für die Diskussion von Räumlichkeit aufgezeigt und exemplarisch ausgeführt wird. Zudem wird ein neuer Akzent in die derzeitige Diskussion eingeführt, indem hier explizit auf Fragen nach der Produktion von Lokalität eingegangen wird, die - wie überzeugend gezeigt wird – immer Teil kulturellen Ordnungsverhaltens ist, auch dort wo Erfahrungen von Dislokation vorliegen. Die Mehrzahl der Artikel bietet eine wirklich gelungene Verschränkung von Materialdarstellung und Theoriediskussion. Die Fallbeispiele sind auch für Leser ohne regionale Vorkenntnisse sehr gut verständlich und geben zugleich interessante Anregungen für eine kulturvergleichende Diskussion von Räumlichkeit.