Eckart Conze, Ulrich Lappenküper und Guido Müller haben viel dazu beigetragen, dass die Erneuerung der Disziplin der Geschichte der internationalen Beziehungen in den letzten Jahren in Deutschland in Gang gekommen ist. Im Jahr 2000 organisierten Ulrich Lappenküper und Guido Müller eine Sektion zu diesem Thema auf dem Historikertag in Aachen, zusammen mit Eckart Conze folgte 2002 eine Konferenz in Königswinter, aus der nun auch ein Sammelband hervorgegangen ist. Nach einer kurzen Einführung der drei Herausgeber werden fünf Richtungen angegeben, in die sich die Geschichte der internationalen Beziehungen erweitern und erneuern könnte und sollte. Ein abschließender Essay von Hartmut Kaelble steht auch für die Hoffnung, dass alte Gräben dauerhaft zugeschüttet sind, eine Hoffnung, die die neuere Debatte um die internationale Geschichte ja von Anfang an begleitet hat.
Die einzelnen Kapitel sind zweigeteilt. Einem ersten theoretischen Aufsatz, der in die methodischen Konstellationen und Probleme einführt, folgt die Anwendung am konkreten Fallbeispiel im darauffolgenden Beitrag. Diese doppelte Ausrichtung ist ein glücklicher Einfall der Herausgeber, der sich hervorragend bewährt. Theorie und historiografische Praxis bleiben auf diese Weise bestens verbunden.
Zu Beginn des ersten Abschnitts, in dem es um die Rolle von Staat und Politik in einer erneuerten Geschichte der internationalen Beziehungen geht, bestimmt Eckart Conze im theoretischen „Impulsreferat“ die Grenzen der Größe Staat in den internationalen Beziehungen. Vor allem plädiert er für eine Historisierung und Dynamisierung der Begriffe Staat und Politik, die eben keine quasiontologischen Kategorien seien. Zudem fragt er nach Politikvorstellungen, die übergreifend (!) außen- wie innenpolitische Konzepte bestimmen können und fordert, die Kategorie der „Erfahrung“ stärker für die Begründung politischen Handelns in der internationalen Politik zu nutzen. Was die Rollenverteilung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren bei der deutsch-französischen Verständigung bis 1963 anbelangt, kommt Ulrich Lappenküper im folgenden „Fallreferat“ dagegen zu eindeutigen Ergebnissen,: „Nein, weder Kultur, noch Gesellschaft, noch Wirtschaft, sondern die Politik zeichnete für dieses geschichtsmächtige ‚Wunder‘ verantwortlich!“ (S. 46) Der Widerspruch zum Artikel von Eckart Conze ist aber nur scheinbar. Bei der Frage nach der Gewichtung der einzelnen Faktoren, kann die Antwort, so Lappenküper, eben auch einmal lauten: Der Staat, die staatlichen Akteure bestimmten die Politik. Es kommt freilich darauf an, andere Aspekte – auch durch die Quellenauswahl – im Blick zu haben.
Teil zwei widmet sich einem Aspekt, der vielfach für das neue Interesse an internationalen Themen verantwortlich gemacht wird, der Globalisierung. Wolfram Kaiser schlägt zu Beginn das Projekt einer „transnationalen Weltgeschichte“ vor, die sich den „Kontakten und Beziehungen zwischen Menschen aus verschiedenen Gesellschaften und Kulturräumen sowie der Analyse von größeren historischen Phänomenen, die grenzüberschreitend wirken“ (S. 79), widmet. Mögliche Themen sind die Globalisierung auf vielen Gebieten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts selbst, andere die Geschichte internationaler Organisationen oder auch die Durchsetzung bestimmter Normen, die schließlich weltweite Akzeptanz erlangten. Eben dieser Dimension ist der thematisch anschließende Beitrag von Niels P. Petersson gewidmet, der anhand des britisch-chinesischen Handelsvertrags von 1902 und des Eisenbahnbaus in China den Prozess der Durchsetzung wirtschaftlicher Normen am konkreten Beispiel untersucht.
Stärker als in vergleichbaren Versuchen, neue Richtungen der Geschichte der internationalen Beziehungen zu zeigen, schließt der vorliegende Band wirtschaftliche Fragen ein. Auch das ist zu begrüßen, drohte die ökonomische Dimension doch zuletzt in der Kultur unterzugehen. Diese Gefahr konstatiert auch Hubert Zimmermann in seinem Beitrag über die „politische Ökonomie der internationalen Geschichte“ und stellt nicht zuletzt deswegen einschlägige politologische Theorien vor. Sie sollen für Historiker der internationalen Beziehungen, die sich „häufig im oft undurchdringlichen Dschungel sozialwissenschaftlicher Theorieangebote verirren“ (S. 115), Anregungen liefern. Mit Blick auf die Stärken und Schwächen beider Seiten – detailverliebter historischer Studien und politik- wie geschichtsabstinenter weltwirtschaftlicher Großtheorien – plädiert Zimmermann für die Verknüpfung der Untersuchung internationaler Wirtschaftsbeziehungen und Machtfragen. Im Anschluss zeigt Guido Thiemeyer an der deutschen Entscheidung für den Goldstandard die Verbindung von Politik, Wirtschaft und Finanzen im Kontext der Reichsgründung von 1871.
Der vierte Abschnitt ist dem Thema „Kulturtransfer und internationale Beziehungen“ gewidmet. Johannes Paulmann stellt sein Konzept des „interkulturellen Transfers“ vor, bei dem nicht der Transfer bestimmter Kulturgüter im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr, wie Paulmann schreibt, der Transfer zwischen Kulturen. Um die Anpassungs- oder Aneignungsprozesse zu verfolgen, schlägt Paulmann die Untersuchung transnationaler "Grenzräume“ vor, d.h. „Übergangszonen verdichteter Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Kulturen“ (S. 183f.). Solche Grenzräume können bestimmte Grenzregionen sein, aber auch McDonald`s Filialen überall auf der Welt, Organisationen oder Zeitschriften bzw. das Internet. Jessica Gienow-Hecht erweitert den Ansatz in ihrem Beitrag um einen weiteren Aspekt, der der Emotion in der transnationalen Beziehungsgeschichte zwischen den USA und Deutschland. Die Vorherrschaft deutscher klassischer Musik, deutscher oder deutschsprachiger Interpreten und Komponisten in den USA sorgte seit Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Art amerikanisch-deutscher Wahlverwandtschaft, die auch über die politischen Verwerfungen, die zwei Weltkriege mit sich brachten, hielt. In anderer Hinsicht wurde Musik aber durchaus politisch. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde just als in Europa über die Amerikanisierung diskutiert wurde, auf der anderen Seite des Atlantik über die Überfremdung der USA durch europäische Hochkultur geklagt. Der nationalistische Diskurs verschonte so auch die Konzertsäle nicht.
Weniger an Transfer als sozialhistorisch am Kontakt zwischen Gesellschaften ist Guido Müllers Beitrag zu einer „internationalen Gesellschaftsgeschichte“ und „internationalen Gesellschaftsbeziehungen“ interessiert, der den letzten Abschnitt einleitet. Ihm geht es vor allem um die Akteure bzw. gesellschaftlichen Gruppen, die an solchen Kontakten beteiligt sind, sowie deren Sozialbeziehungen. Hier setzt auch Marita Krauss an, indem sie innerhalb der Migrationsgeschichte das Augenmerk auf die Kontakte zwischen Emigranten und deren alten Heimat richtet.
In welche Richtung entwickelt sich also die Geschichte der internationalen Beziehungen? Der Sammelband gibt gleich eine ganze Reihe von wichtigen Anregungen und Anhaltspunkten. So wird die Rolle des Staates sicher ein Diskussionspunkt bleiben, wobei das gegenwärtige Interesse für die Bestimmung und Untersuchung von Politik bzw. des Politischen auch der Geschichte der internationalen Politik neue Impulse gibt. Die Frage nach der Vorgeschichte der Globalisierung wird bei allen Bauchschmerzen, die Historiker bei der Übertragung solcher Modevokabeln auf die Geschichte beschleichen, künftige Forschung weiter befruchten. Die Ausbildung und Durchsetzung internationaler Normen und Leitvorstellungen ist hier nur ein mögliches Feld, bei dem, wie mehrere Autoren zurecht feststellen, auch nicht vergessen werden sollte, dass das 19. und 20. Jahrhundert ebenso die Zeit des Nationalismus war. Starkes Augenmerk wird in Zukunft zudem weiter auf die Beschreibung der Vermittlungs-, Beziehungs-, oder Transferprozesse zu richten sein. Das gilt für Gesellschafts- oder transnationale Beziehungen ebenso wie für das klassische Feld von Diplomatie und Außenpolitik, die staatlichen Kontakte also. Theoretisch-methodisch geht der Blick weit über die eigene Disziplin hinaus, neben sozialwissenschaftlichen Modellen wird auch in Zukunft eine Auseinandersetzung mit Konzepten von Anthropologie und Ethnologie die Diskussion voranbringen können. Mit seinem gleichermaßen selbstbewussten wie reflektierten Umgang mit solchen Theorieangeboten fällt der vorliegende Sammelband auch in diesem Bereich positiv auf. Dabei sollte man allerdings auch nicht das Gespräch mit den eigenen Fachkollegen, die sich um andere Epochen kümmern, vergessen. Gerade was Transferprozesse, Grenzräume oder die Formen von Außenkontakten anbelangt, gäbe es hier neben der immer wieder erwähnten Frühen Neuzeit zum Beispiel auch von der Mittelalterlichen Geschichte einiges zu lernen.