M. E. Gründig: Verwickelte Verhältnisse

Titel
Verwickelte Verhältnisse. Folgen der Bikonfessionalität im Biberach des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Gründig, Maria E.
Erschienen
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Grüne, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Die Koexistenz mehrerer christlicher Konfessionen auf engem städtischen und dörflichem Raum war seit der Reformation und den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens und des Westfälischen Friedens ein Merkmal der deutschen Geschichte. Während dieses Phänomen für die Frühe Neuzeit recht gründlich untersucht wurde 1, fehlte es für das 19. und 20. Jahrhundert bisher an vergleichbarer Grundlagenforschung. Im Unterschied zu gemischtkonfessionellen Landgemeinden, die neuerdings verstärkte Aufmerksamkeit erfahren 2, müssen die Konfessionsbeziehungen zumindest im städtischen Bereich als unterbelichtet gelten. Maria E. Gründig, die bereits mit ihrer Dissertation religionshistorisch hervorgetreten ist 3, liefert nun in einer umfangreichen Studie zum oberschwäbischen Biberach wichtige Bausteine zur Aufarbeitung dieses Desiderats.

Auf einer breiten Materialbasis lokaler, mittel- und zentralbehördlicher Quellen kirchlicher und staatlicher Provenienz geht Gründig der Frage nach, wie sich das Verhältnis zwischen Lutheranern und Katholiken seit der Mediatisierung Biberachs 1802 und – nach kurzem badischen Intermezzo – seit der Eingliederung in das Königreich Württemberg 1806 gestaltete und in welcher Form diese Konstellation auf andere Bereiche des städtischen Lebens ausstrahlte. Durch zahlreiche Einzelfallanalysen vollzieht sie eine „Annäherung an die alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Strukturen“ (S. 14) und arbeitet heraus, wie die Biberacher „aufgrund der konfessionellen Sondersituation [...] spezifische [...] Denk- und Verhaltensweisen [ausbildeten], die sie von den Bewohnern des katholischen oberschwäbischen Umlandes unterschied(en)“ (S. 21f.). Nach einem Rückblick auf die Entfaltung der Bikonfessionalität im reichsstädtischen Biberach seit dem 16. Jahrhundert (S. 30-40) und einem Abriss zentraler Entwicklungstendenzen des 19. Jahrhunderts (S. 41-64) werden sechs Problemfelder abgeschritten, auf denen sich die ambivalente Prägekraft des konfessionellen Dualismus manifestierte: I. Simultaneum in der Stadtpfarrkirche (S. 65-97); II. gesetzliche und informelle Paritätsregelungen (S. 98-125); III. Entflechtung kommunaler und kirchlicher Vermögen (S. 126-141); IV. Umgang mit gemischtkonfessionellen Ehen (S. 142-201); V. Sonn- und Feiertagsordnung (S. 202-231); und VI. Zusammenhänge zwischen Konfession und politischer Orientierung (S. 232-282).

An den Beispielen von Parität und politischer Orientierung wird besonders deutlich, wie die alten Erfahrungen von Selbstbehauptung und Kooperation der Bekenntnisgruppen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster hervorbrachten, die noch unter den veränderten Rahmenbedingungen des 19. Jahrhunderts lange fortbestanden. Bis 1802 hatte eine 1649 fixierte Paritätsformel vorgesehen, dass die etwa 200 Posten der städtischen Verwaltung jeweils doppelt von Vertretern beider Konfessionen bekleidet wurden. Die württembergische Bürokratie schränkte dieses kostspielige Privileg allerdings rasch ein und hob dessen Reste 1817 im Zuge der Kommunalreform endgültig auf. Durch einen 1819 in Biberach getroffenen Vergleich wurde das nun eigentlich verbindliche Mehrheitswahlrecht jedoch insofern unterlaufen, als künftig alle Ämter konfessionell alternierend und alle Wahlgremien paritätisch besetzt werden sollten. Obwohl der Kompromiss gleich im ersten Härtetest, der Stadtschultheißenwahl von 1823, scheiterte und von der Regierung 1825 noch einmal als rechtswidrig verurteilt wurde (S. 118-122, 234f.), pendelte sich die vereinbarte Balance in den kommenden Jahrzehnten doch so weit ein, dass sich an dieser Frage nur noch selten gravierende Streitigkeiten entzündeten. Auf eine zunächst der protestantischen und seit den 1870er-Jahren der schneller wachsenden katholischen Bürgerschaft numerisch mögliche Blockade der anderen Seite wurde freiwillig zugunsten des innerstädtischen Friedens verzichtet.

Dies hing auch damit zusammen, dass sich die Biberacher trotz der wiederholten Initiativen interessierter Kreise kaum entlang der konfessionellen Scheidelinie ideologisch mobilisieren und instrumentalisieren ließen. Bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg übte das religiöse Bekenntnis keinen dominierenden Einfluß auf das Abstimmungsverhalten bei Kommunal-, Landtags- und Reichstagswahlen aus. Selbst um 1900 gelang es der andernorts florierenden Zentrumspartei nicht, das Gros der katholischen Wählerschaft für sich zu gewinnen. Als zu robust erwies sich über den gesamten Zeitraum die auch aus ehemals reichsstädtischer Distanz zum Zentralstaat genährte Affinität zu liberalen und demokratischen Positionen, die gerade in der Auseinandersetzung mit außerstädtischen Strömungen und Instanzen „interkonfessionelle Solidarität“ und „bürgerschaftlichen Zusammenhalt“ (S. 318) förderte.

Hier wie in den meisten anderen Untersuchungsbereichen zeichnet sich Gründigs Arbeit methodisch dadurch aus, dass sie – soweit die Quellen es erlauben – eine konsequent akteurszentrierte Perspektive einnimmt und damit sehr genau die Rolle individuellen Handelns und generationeller Wechsel im Kontext übergreifender Veränderungsprozesse gewichten kann. Mitte der 1840er-Jahre etwa war die zwischenzeitliche Belastung des Konfessionsverhältnisses untrennbar mit dem Auftreten des neuen katholischen Stadtpfarrers Georg Kautzer verknüpft (S. 154-177). In der für Biberach besonders sensiblen Frage konfessionsverschiedener Ehen steuerte er anders als seine Vorgänger einen kämpferisch-restriktiven Kurs und trat auch allgemein als Speerspitze des politischen Katholizismus in Erscheinung. Selbst ein Großteil seiner Gemeinde verweigerte ihm nach anfänglichen Erfolgen jedoch die Loyalität; Kautzer wurde 1846 nach nur gut zweijähriger Amtszeit versetzt. Der Fall Kautzer verweist damit stellvertretend nicht nur auf die Bedeutung einzelner Führungspersonen für die lokale Stimmungslage, sondern zudem auf die enormen Schwierigkeiten, denen sich auch die nächste Generation romtreuer Stadtpfarrer in Biberach seit den 1880er-Jahren noch gegenüber sah, wenn sie versuchte, den mehrheitlich gemäßigten Biberacher Katholizismus in ultramontane Bahnen zu lenken.

Die vielfältigen Einzelbelege verdichten sich letztlich zu dem Gesamteindruck, dass ungeachtet aller Spannungen und Friktionen im „Sondermilieu des konfessionellen Miteinanders“ (S. 284) eine bemerkenswerte „Toleranz und [...] interkonfessionelle Solidarität“ (S. 321) vorherrschten, die einer nachhaltigen Polarisierung der Bekenntnisgruppen den Boden entzogen. Besonders fest verankert war die aus alltäglichen Kommunikationserfahrungen gespeiste Duldsamkeit bezeichnenderweise im Wirtschaftsbürgertum und – später – in der Arbeiterschaft, denen jeweils bei einer gravierenden Verschlechterung des interkonfessionellen Klimas ökonomische Einbußen drohten. Ohne dauerhaften Erfolg betrieben dagegen namentlich katholische Politiker und Funktionäre seit den 1840er-Jahren auch vor Ort jene „Dramatisierung der Konfessionsgrenze“, die nach einer neueren Charakterisierung des 19. Jahrhunderts als eines „Zweiten Konfessionellen Zeitalters“ nicht nur in religiöser Hinsicht der Epoche ihren Stempel aufdrückte. 4 Um so bedauerlicher ist es, dass Gründig zwar die gängigen Modellvorstellungen von katholischem Inferioritätskomplex und kompensatorischer Milieubildung relativierend mit ihren Ergebnissen konfrontiert (S. 304-306), auf eine ausführlichere Forschungsdiskussion in diesem Punkt jedoch verzichtet. Denn über den potentiell deeskalierenden, geografisch aber begrenzten Effekt der Bikonfessionalität hinaus wecken die Biberacher Befunde prinzipielle Zweifel an der gesellschaftlichen Tiefenwirkung des modernen Konfessionalismus jenseits der Polemik kirchlicher Amtsträger und Aktivisten – Bedenken mithin, denen es in jedem Fall empirisch weiter nachzugehen lohnt.

Anmerkungen:
1 Für den städtischen Bereich vgl. etwa François, Etienne, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806, Sigmaringen 1991; Heller-Karneth, Eva, Drei Konfessionen in einer Stadt. Zur Bedeutung des konfessionellen Faktors im Alzey des Ancien Régime, Würzburg 1996; Warmbrunn, Paul, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Protestanten und Katholiken in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl 1548-1648, Wiesbaden 1983; Zschunke, Peter, Konfession und Alltag in Oppenheim. Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1984.
2 Z.B. Dietrich, Tobias, Der Zwang zum Frieden? Dörflicher Interkonfessionalismus in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zwischen Aufklärung und Hungersnot (1780-1830), in: Haag, Norbert; Holtz, Sabine; Zimmermann, Wolfgang (Hgg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500-1850, Stuttgart 2002, S. 309-324; Ders., Konfessionelle Gegnerschaft im Dorf im 19. Jahrhundert, in: Blaschke, Olaf (Hg.); Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 181-213.
3 Gründig, Maria E., „Zur sittlichen Besserung und Veredelung des Volkes“. Zur Modernisierung katholischer Mentalitäts- und Frömmigkeitsstile im frühen 19. Jahrhundert am Beispiel des Bistums Konstanz unter Ignaz H. von Wessenberg, Stuttgart 1997.
4 Vgl. programmatisch Blaschke, Olaf, Das 19. Jahrhundert. Ein zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38-75, Zitat S. 68.

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