A. Landwehr u.a.: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte

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Titel
Einführung in die Europäische Kulturgeschichte.


Autor(en)
Landwehr, Achim; Stockhorst, Stefanie
Erschienen
Paderborn 2004: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marian Füssel, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Eine Einführung zum Thema der Europäischen Kulturgeschichte – hier speziell der Frühen Neuzeit – stellt hohe Anforderungen, denen die Autoren des vorliegenden Bandes auf überaus kompetente Weise gerecht werden. Europäische Kulturgeschichte sei dabei nicht als neue „Superdisziplin“ verstanden, sondern als „Interdisziplin“ (S. 8), die Traditionen und Fragestellungen ganz unterschiedlicher Fächer aufgreift. Nach einem inhaltlichen Hauptteil, untergliedert in (1.) Theorie und historiografische Tradition der Kulturgeschichte, (2.) Themenfelder der Kulturgeschichte und (3.) Umrisse einer Europäischen Kulturgeschichte, enthält der Band zudem eine Einführung in zentrale Arbeitstechniken und Hilfsmittel und wird durch eine umfangreiche Auswahlbibliografie abgeschlossen.

Gerade eine Einführung in die Europäische Kulturgeschichte muss zunächst eine Klärung des Begriffs der Kultur vornehmen, der wohl wie kaum ein anderer zu unterschiedlichen Interpretationen und Deutungen Anlass gibt. Zur Präzisierung dieses Begriffs werden vier Bedeutungsaspekte herausgestellt: eine ergologischer, ein interpretativer, ein soziativer und ein temporaler. Kurz gefasst: Kultur wird von Menschen gemacht, ist von deren Wahrnehmungen und Deutungen bestimmt, bezeichnet eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit und unterliegt vor allem stets dem historischen Wandel. Die Autoren ergänzen diese Aspekte durch vier weitere Bedeutungsebenen – praktisches Handeln, rituelle Verehrung, Bildung/Sozialisation und soziale Beziehungen. Zentral erweist sich dabei die Feststellung, dass die Kulturgeschichte weniger „inhaltlich“ durch ihre Objekte bestimmt sei als vielmehr „methodisch“ durch ihren Fragehorizont. Jeder historische Gegenstand kann so zu einem Gegenstand der Kulturgeschichte werden, stellt man die „Prozesse der Bedeutungsgebung“ ins Zentrum der Analyse (S. 14). Darauf hinzuweisen bleibt solange unabdingbar, wie sich in weiten Teilen einer – gleichsam in einem Jargon der Eigentlichkeit befangenen – Forschung die Überzeugung hält, Kulturgeschichte beschäftigte sich nur mit symbolischen Inszenierungen oder Geschlechterkonstruktionen, nicht aber mit den vermeintlich harten Faktoren von Ökonomie oder Politik. 1

Zur weiteren Präzisierung der Kulturbegriffs und der Kulturgeschichte geben die Autoren zunächst einen historiografiegeschichtlichen Überblick, der von den Anfängen im 18. Jahrhundert bei Vico und Voltaire bis hin zur modernen Alltagsgeschichte und Historischen Anthropologie führt. Im Unterschied zu vergleichbaren Darstellungen wie etwa Ute Daniels ‚Kompendium Kulturgeschichte‘ setzt die Problematisierung der Kulturgeschichte hier also nicht erst bei Kant ein. 2 Die historische Rekonstruktion des Kulturbegriffs vollzieht sich dabei in drei Etappen. In einer ersten stehen Vico, Voltaire, Rousseau und Herder für die Kulturgeschichte der Aufklärung, in einer zweiten wird am Beispiel von Weber, Cassirer, Burckhardt, Lamprecht und Huizinga die vom Historismus geprägte kulturwissenschaftliche Debatte um 1900 vorgestellt. Der dritte Abschnitt ist der kulturgeschichtlichen Diskussion nach dem zweiten Weltkrieg gewidmet und behandelt vor allem Denker wie Elias, Bourdieu, Foucault oder einzelne Strömungen wie den New Historicism, die Cultural Studies, die Schule der Annales oder die „Neue Kulturgeschichte“ (Darnton, Chartier). Dieser ausladende Parforceritt durch rund zwei Jahrhunderte Kulturgeschichtsschreibung ist übersichtlich strukturiert und gibt einen guten Überblick über komplexe wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungslinien. Umso erstaunlicher ist jedoch, dass etwa ein Denker wie Luhmann, dem inzwischen zweifellos eine erhebliche Bedeutung für die historischen Kulturwissenschaften zukommt, mit keinem Wort erwähnt wird.

Der Gegenstandsbereich der Kulturgeschichte wird durch sieben zentrale Begriffspaare organisiert: Natur und Umwelt, Kommunikation und Medien, Wissen und Wissenschaft, Staat und Nation, Identität und Alterität, Körper und Geschlecht sowie Wahrnehmung und Gedächtnis. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob man noch den einen oder anderen Begriff hinzufügen könnte oder der eine oder andere entbehrlich ist. Leicht ließen sich beispielsweise Themenfelder wie Normen und Werte, Macht, Gewalt oder Ökonomie ergänzen. Über die Frage, warum gerade diese und nicht andere Kategorien ausgewählt wurden, wird der Leser allerdings weitgehend im Unklaren gelassen.

Das Kapitel über Natur und Umwelt ist entlang der vier natürlichen Elemente strukturiert: Über die Entwicklung des Gartenbaus, die veränderte Wahrnehmung des Meeres, die Theorie des Fegefeuers und die Entwicklung des Blitzableiters werden exemplarische Stationen im Wandel der Wahrnehmung von Natur abgeschritten. Die Behandlung von Kommunikation und Medien beginnt zunächst mit einigen kommunikationstheoretischen Ausführungen im Anschluss an Lasswell, Watzlawick, McLuhan und Maletzke. Am Beispiel von Leseforschung und Zeitungsgeschichte wird anschließend ein Einblick in die Entwicklung der Printmedien gegeben. Allerdings bleiben Medien und Kommunikation trotz weitreichender theoretischer Überlegungen hier im Sinne der traditionellen Publizistik weitgehend auf Schriftkommunikation reduziert. Im Kapitel zu Wissen und Wissenschaft wird Wissen definiert als „ein Ensemble von Überzeugungen […], das Objekte mit bestimmten Eigenschaften versieht und von einer sozialen Gruppe als gültig und real anerkannt wird“ (S. 148). Ein entsprechendes Verständnis von „Wissen als Kultur“ wird unter anderem am mittelalterlichen Drei-Stände-Modell, an Lorraine Dastons Forschungen zur Genealogie der wissenschaftlichen Objektivität und anhand der Wissensordnung der Encyclopédie veranschaulicht.

Der Vergleich zwischen den Begriffspaaren Staat und Nation einerseits und Identität und Alterität andererseits macht deutlich, dass die gewählten Begriffe analytisch keineswegs immer auf der gleichen Ebene angesiedelt sind, jeweils aber einen engen Bezug zueinander aufweisen können. So wird die Logik der Identitätskonstruktion anhand nationaler Stereotypen ebenso nachvollziehbar gemacht wie an Erinnerungskulturen oder Geschlechtermodellen. Spätestens wenn im gleichen Zusammenhang auch noch Begriffe wie Symbol, Ritual oder Mythos abgehandelt werden, zeigen sich jedoch auch deutlich die Schwierigkeiten, komplexe theoretische Diskussionen in Schaukästen zusammenzufassen und damit eine notwendig verknappte Auswahl zu treffen (S. 198f., vgl. auch Konstruktivismus/Dekonstruktivismus, S. 229).

Der dritte, noch einmal eigens mit „Europäische Kulturgeschichte“ betitelte Teil problematisiert zunächst die Vorstellung von Europa selbst. Dies wird vertieft durch die Darstellung kultureller Austauschprozesse innerhalb Europas, exemplarisch dargestellt anhand der Rezeption der französischen Revolution und des Verhältnisses gegenüber „Außereuropa“ – von der europäischen Expansion bis hin zur „Amerikanisierung“ des 20. Jahrhunderts. Die zu Beginn der Einführung entwickelten Argumente für die Relevanz der kulturgeschichtlichen Perspektive – gesellschaftliche Orientierungsfunktion, das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten oder das Einüben von Selbstreflexivität – treffen im Grunde ebenso für die Funktion der Beschäftigung mit der Vergangenheit im Allgemeinen zu. Der spezifische Gewinn des Kulturbegriffs tritt nun vor allem bei der Fokussierung auf die Geschichte Europas und bei der dabei gewonnen Sensibilisierung für Alterität als Schlüsselbegriff der Kulturgeschichte hervor (S. 358f.). Bereits die Frage nach der Definition Europas zeigt, wie die Autoren überzeugend herausstellen, das geringe Erklärungspotential, das scheinbar so eindeutige Kennzeichen wie geografische Lage oder politische Bündnisse aufweisen. Auch für die Konstitutionslogik von Grenzen eröffnet die Problematisierung von Wahrnehmungen und Sinngebungen einen wesentlich hilfreicheren Zugriff (S. 178f.; 286).

Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein bunter Strauß aus unterschiedlichen Theorien, Forschungsfeldern und Beispielen wirkt, offenbart sich bei näherer Betrachtung als repräsentativer Überblick über die zentralen Themenfelder moderner Kulturgeschichtsschreibung. Insgesamt präsentiert sich der Band damit als ein überaus nützliches Hilfsmittel für Studium und Lehre. Besonders hervorzuheben ist die reiche Bebilderung sowie die zahlreichen längeren Quellenzitate, Diagramme und Schaubilder, die zum einen eine höhere Anschaulichkeit und Übersicht der vorgestellten Informationen gewährleisten, zum anderen dem Leser zusätzlich die Möglichkeit geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Aufgrund des hohen Voraussetzungsniveaus gewinnt man allerdings den Eindruck, dass der Band insgesamt eher die von den Autoren genannte Funktion eines Repetitoriums als die einer Einführung für Studienanfänger besitzt. Ja, es wäre zu hoffen, dass der durchweg lehrreiche und informative Band nicht nur von Studierenden gelesen werden würde, sondern auch von manch praktizierendem Historiker. So kann einer teilweise immer noch unverständigen Ignoranz gegenüber der Kulturgeschichte künftig vielleicht Abhilfe geschaffen werden.

Anmerkungen:
1 Um zu ermessen, wie weit das Unverständnis tatsächlich reicht, sei nur auf folgendes einschlägige „Aufsatzduell“ um die Kulturgeschichte des Politischen verwiesen: Landwehr, Achim, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Nicklas, Thomas, Macht – Politik – Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 1-25.
2 Daniel, Ute, Kompendium Kulturgeschichte. Theorie, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001.

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