M. Meier u.a. (Hgg.): Deiokes, König der Meder

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Title
Deiokes, König der Meder. Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten


Editor(s)
Meier, Mischa; Patzek, Barbara; Walter, Uwe; Wiesehöfer, Josef
Series
Oriens et occiens 7
Published
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Extent
99 S.
Price
€ 28,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hilmar Klinkott, Historisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Mischa Meier, Barbara Patzek, Uwe Walter und Josef Wiesehöfer haben einen kleinen, inhaltlich aber sehr komplexen Band herausgegeben, der - durch Vorträge von Meier und Walter angeregt - sich Herodots Episode vom Aufstieg und der Herrschaft des Meders Deiokes in Form eines historischen Kommentars widmet. Als Ziel erklären sie in ihrem Vorwort, an diesem speziellen Beispiel ein konzeptionelles Muster zu einem wissenschaftlichen intra- und interdisziplinären Gesamtkommentar zum Werk Herodots vorzustellen (S. 7f.). Mit jeweils einem Beitrag versuchen die vier Herausgeber, unterschiedliche althistorische Ansätze zu beleuchten, die sich allein am Beispiel der Deiokes-Episode entwickeln lassen, ohne allerdings Anspruch auf inhaltliche und interpretatorische Vollständigkeit zu erheben. Von allen Beiträgen ist eine enge inhaltliche und ergebnisorientierte Vernetzung bzw. eine gegenseitige Bezugnahme angestrebt. Den Einzelbeiträgen ist die Deiokes-Anekdote im griechischen Text nach der Ausgabe von Hude mit deutscher Übersetzung vorangestellt (S. 10-13).

Der Beitrag von Josef Wiesehöfer ("Daiukku, Deiokes und die medische Reichsbildung", S. 15-26) untersucht in einer Verbindung von griechischen und orientalischen Quellen die historische Existenz des Mederkönigs sowie des Mederreiches und gliedert sich in drei wesentliche Abschnitte. Der erste Teil (S. 15-16) widmet sich der Person des Deiokes und fasst den aktuellen Stand der Forschung zu den verschiedenen sprachlich verwandten Namensformen zusammen. Dabei bespricht Wiesehöfer für den angeblichen König wie auch für Fraortes, Kyaxares und Astyages die griechischen, assyrischen und babylonischen Quellen sowie die elamischen Belege der Persepolis-Täfelchen in ihrem historischen und sprachlichen Kontext. Von dieser Grundlage ausgehend, diskutiert Wiesehöfer im zweiten Abschnitt (S. 16f.) das mögliche historische Verhältnis von Herodots Deiokes zum orientalischen Daiukku, wobei er etliche Widersprüche hervorhebt: Daiukku ist beispielsweise unter Sargon II. nicht als Meder bezeichnet, sondern im syrischen Raum der Mannäer angesiedelt (S. 15, 17). Abgesehen davon klafft eine deutliche zeitliche Lücke zwischen letzterem (um 715 v.Chr.) und Herodots Mederkönig (700-647 v.Chr.). Die Namen im Umfeld des Deiokes helfen ebensowenig weiter, da der Sohn des Königs, Fraortes, nicht mit dem aufständischen Fravartish unter Dareios I. in der Behistun-Inschrift zu verbinden ist. Dieses gilt ebenfalls für eine Gleichsetzung des Thronnamens des "Lügenkönigs" Xshathrita (= Fraortes) mit dem medischen Stadtherren Kashritu aus der Spätzeit Asarhaddons, so dass auch keine Dynastiebildung des medischen Königshauses nachzuvollziehen ist (S. 17).

Der Ausschluss einer Gleichsetzung von Daiukku (selbst des medischen 'Stadtherrn' Daiku) mit Herodots Deiokes führt Wiesehöfer im abschließenden dritten Teil (S. 17-23) zu den Fragen nach der Existenz eines Mederreichs überhaupt, der Struktur des 'Reiches' und dessen Reflexion bei Herodot bzw. dessen historischer Grundlage hierfür. Die neuesten Ergebnisse der Mediendiskussion auf einer Tagung in Padua 2001 1 fasst Wiesehöfer in kompakter Form zusammen (S. 18-21). Aus dem Gesamtbefund ergibt sich in Bezug auf die Historizität der Meder eine Entwicklung in drei Phasen: Die erste (ca. 750-670 v.Chr.) zeigt die medischen Stämme im Zagros ohne einheitliche politische Struktur, allerdings mit befestigten Siedlungen und Speicherbauten. Die wirtschaftliche Grundlage bildeten einerseits die Transhumanz als hochentwickelte Form des Pastoralismus sesshafter Bauernkulturen, andererseits der Handel und die Pferdezucht sowie die Kontrolle der so genannten Khorazanroute. In der zweiten Phase (ca. 670-610 v.Chr.) gibt die vorübergehende Provinzialisierung der Meder durch die Assyrer unter Sargon II. den Anstoß zur sekundären Staatenbildung. Sie bewirkt als Reaktion um 615 v.Chr. den medischen Angriff auf das assyrische Kernland, dem wohl die Etablierung einer gesamtmedischen Königsherrschaft oder zumindest die vorübergehende Vereinigung medischer Verbände zu einer gemeinsamen Streitmacht vorangegangen zu sein scheint. Die dritte Phase (ca. 615-550 v.Chr.) ist schließlich von einer lockeren Konföderation medischer "Kleinstaaten" geprägt. Folgt man diesem Modell, so ergibt sich zwingend die Erkenntnis, dass die Meder in ihrer historischen Rolle nicht - wie bislang angenommen - die prägenden Vorgänger des Perserreiches gewesen sein können. Bei den Griechen sind sie vor allem durch ihre Schlüsselfunktion beim Sturz des Assyrerreiches und durch ihre Niederlage bei der persischen Reichsbildung bekannt. Als entscheidendes Ergebnis für die weitere historische Diskussion um die Deiokes-Erzählung hat Wiesehöfer gezeigt, dass weder ein Mederreich noch onomastische Zusammenhänge zwischen Herodot und den orientalischen Quellen bestanden haben; demzufolge ist die Deiokes-Anekdote als literarische Schöpfung Herodots zu bewerten.

Darauf baut der Beitrag von Meier ("Die Deiokes-Episode im Werk Herodots - Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen griechischer Geschichtsschreibung", S. 27-51) auf. Im Gegensatz zur älteren Meinung von H. Sancisi-Weerdenburg, die noch von babylonischen Archiven als Vorlage Herodots für das erzählerische Rahmenschema ausging, verweist Meier auf die griechische Tyrannentopik und die Elemente des orientalischen Hofzeremoniells griechischer Deutung als wesentliche Bestandteile in Herodots Deiokes-Geschichte. Mit Blick auf die Ergebnisse Wiesehöfers geht Meier der Frage nach, warum Herodot solch ein mythisiertes Kunstprodukt produziert und was es für seine erzählerische Methode zu bedeuten hat. Meier kommt im Vergleich mit der Solon-Erzählung zu der Erkenntnis, dass beide Darstellungen "Vehikel für den Transport spezifischer, in die Historien eingebetteter Aussagen Herodots" sind, wie etwa die Frage nach dem menschlichen Glück (Solon) oder nach der Ausbildung einer politischen Organisationsform (Deiokes). Im folgenden Abschnitt (S. 31-33) wendet sich Meier daher dem antiken Verständnis von Mythos als identitätsstiftendem Bestandteil der Geschichte zu. Mythos bildete eine potentielle Legitimationsgrundlage aus der Vergangenheit und stellt selbst, komplex verdichtet, erinnerte Vergangenheit dar. An diese antike Verbindung der "Mythhistorie" legt Meier die moderne Unterscheidung an, um mit diesem Analysemittel die Entstehung der griechischen Historiografie zu hinterfragen. Meier fasst hierfür die bisher anerkannten vier Wurzeln der Geschichtsschreibung (Epos, Periplus, isonomische politische Ordnung, ionische Naturphilosophie) übersichtlich in ihrem Kontext zusammen (S. 33-35) und kommt zu dem Schluss, dass selbst die so genannte "rationale Geschichtsschreibung" weiter an der Mythhistorie festhielt. Demzufolge werden auch von Herodot die mythhistorischen Ereignisse nicht prinzipiell in Frage gestellt, sondern die jüngeren Ereignisse werden auf erstere als Vorzeit bezogen. Meier sieht deshalb Herodots wesentliche Leistung in der Einordnung der von den Menschen vollbrachten Taten in ein mythisches Vergangenheitsbild, ohne dieses gleichzeitig aufzugeben oder zu modifizieren (S. 40). Durch diese Verbindung gelingt Herodot der Vergangenheitsbezug von der Frühzeit bis in die Zeit der Perserkriege.

Für Meier steht Herodot zudem an einem entscheidenden Wendepunkt der Vergangenheitserinnerung innerhalb der historisch fassbaren Phase (S. 44). Er markiert die Schnittstelle, die durch den Verlust der Zeitzeugen charakterisiert ist und dadurch einen Drang zur Speicherung und Kodifizierung des Wissens motiviert. Voraussetzungen dafür sind die Existenz der Schriftlichkeit, die Ausbildung verschiedener literarischer Gattungen sowie ein markantes, auslösendes Ereignis, das zum Anschluss an mythhistorisches Denken fähig ist. In den Historien steht Deiokes an dem entscheidenden Übergang bzw. der verbindenden Nahtstelle von Mythos zu Vergangenheit. Meier erklärt damit überzeugend den literarisch-historischen Grund für die mythhistorische Darstellung des Deiokes und des medischen Großreiches. Allerdings erläutert er nicht die Kriterien für Herodots Auswahl. Ebenso hätte Herodot für Elam mythische Elemente und einen fiktiv-theoretischen Problemdiskurs entwickeln können und aufgrund der bestehenden Historizität die Verbindung von Geschichte und Mythos tiefer verankern können. Ebenfalls nur ganz am Rande angesprochen werden Herodots bildhafte Mittel des literarischen Konzepts, wie sie R. Bichler aufgezeigt hat.2 Inhaltliche und stilistische Spannungsbögen, Topoi und Motivketten prägen die erzählerische Klimax der griechisch-persischen Auseinandersetzung von Beginn an. Neben der mythisierenden Funktion zur Ausbildung der Geschichtlichkeit könnten freilich auch erzählerische Stilelemente des literarischen Konzepts mit einer inhaltlichen und sinnbildenden 'Langzeitwirkung' in Herodots Werk die Mythisierung der Deiokes-Geschichte erfordert haben.

Dieses Element der historisch-erzählerischen Sinngebung greift der folgende Beitrag von B. Patzek ("Die Deiokeserzählung im Rahmen der Persergeschichten Herodots: eine konsequente Reihe historisch-erzählender Sinngebungen?", S. 53-73) auf. Patzek stellt in einem einleitenden Abschnitt eine Analyse zu Herodots Erzählmethoden vor. Sie konstatiert dabei, dass er Elemente der mündlichen Erzählstruktur und der schriftlichen, literarischen Kultur in seiner Darstellung verbindet. Besonders die Umsetzung mündlicher Erzählungen in den literarischen Gesamtrahmen führt sie zu der Frage nach Herodots Quellen und deren Umgebung. Aus letzterem resultiert die methodische Frage, wie Herodot die aus Tatsachen und Fiktion konstruierte "historiografische Wirklichkeit" in eine historisch-narrative Sinnbildung des Gesamtwerkes eingepasst hat. Als interpretatorische Grundlage versucht Patzek, Herodot als historischen Erzähler auf einer modern-abstrakten Definitionsebene zu beschreiben. Sie stützt sich dabei vornehmlich auf die Erzähltheorie des neuzeitlichen Romans (S. 55), ohne allerdings zu begründen, warum diese bedenkenlos auf antike Autoren zu übertragen ist. Auf dieser Grundlage definiert Patzek Herodots Erzählstruktur als "selektiv" und "konstruktiv" bezüglich der Geschichtsschreibung (S. 55f.) und unterscheidet zwischen einer "Erzählsituation" und einer "Erlebnissituation" des Erzählers (S. 57). Herodots Ziel der erzählerischen Konstruktion sei die Darstellung von Kausalitäten am konkreten Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Griechen und Persern. Dagegen formuliert Patzek als Herodots hervorstechende Leistung, dass er eine "Verbindung von Erzählung mit Tatsachen- und Geschehensanalyse in einem objektiven wissenschaftlichen Sinn" erreicht habe (S. 58). Abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass Patzek die Ergebnisse aus Meiers und Walters Beiträgen nicht rezipiert, sind die Postulate von Objektivität und Wissenschaftlichkeit 3 bei Herodot verfehlt. Gleichwohl scheint ihr dies bewusst zu sein, denn sie räumt es im Folgenden selbst ein, indem sie Herodots griechische Perspektive - also seine Subjektivität - betont (S. 58). Für ihren interpretatorischen Ansatz der erzählerischen Sinnbildung nimmt Patzek eine konstruierte "Korrelationshandlung" (S. 58f.) an, die aus dem Hintergrund die eigentliche Erzählung beeinflusse. Herodots Ziel sei es, durch die literarische Verbindung die Entwicklung von Macht im diachronen Vergleich darzustellen, was Patzek als "Fähigkeit zu Objektivieren" bezeichnet und darin einen "Ausdruck des historischen Vorstellungsvermögens" sieht. Allerdings sind doch der literarisch gestaltende Einfluss des Autors und seine Selektion des Darzustellenden bereits ein Ausdruck subjektiver Gestaltung! Erst recht ist es unmöglich, dieses objektivierende "historische Vorstellungsvermögen" als "historische Phantasie" zu bezeichnen und gleichzeitig als "zeitlose geschichtliche Analyse" zu verstehen (S. 59 mit Anm. 29).

Insgesamt gelangt der Leser zu dem Eindruck, dass Patzek ihren Standpunkt im Verständnis Herodots nicht festlegen will, zumal sie auf S. 59f. sogar ihr Postulat von Herodots Objektivität zurücknimmt: Seine Vorstellungen, so Patzek, müssen nicht dem modernen Verständnis von systematischer, wissenschaftlicher Objektivität entsprechen. Der Forschungsbegriff wird damit in Patzeks Definition willkürlich verwendbar. Ihr Interpretationsstandpunkt wird in der Aussage am besten verständlich, den Herodot-Text als eine "erzählerische Diagnose geschichtlichen Geschehens" zu sehen, "die auf erkannte Wesensmerkmale der fremden Kultur ausgerichtet" sei (S. 60). Sie vermutet zwar realhistorische Begegnung, Austausch und Fragen an Vertreter und Kenner des antiken Orients und erklärt die literarische Verarbeitung bei Herodot mit einem "weitgehend unerkannten Begriffsystem", da sie aber dieses System nicht im Detail erläutert oder in seiner regelhaften Existenz nachweist, wirkt Patzeks Erklärung als 'interpretatorische Flucht ins Unbekannte'. Abgesehen davon steht Patzek mit dieser Ansicht nicht nur im Gegensatz zu den grundlegenden Arbeiten von R. Rollinger und H. Sancisi-Weerdenburg4, sondern auch zu den Beiträgen von Wiesehöfer und Meier, ohne auf diese allerdings zu verweisen oder die abweichenden Ergebnisse zu diskutieren.

Im Folgenden wendet sich Patzek der Aufgabe zu, die Deiokes-Erzählung zwischen "Wirklichkeit und deutender Phantasie" einzuordnen. Sie erläutert hierfür den Aufbau der Historien mit ihren inhaltlichen und erzählerischen Spannungsbögen. Ausgehend von einer Anlehnung an die assyrischen Königsannalen, die sie als "Selbstbericht und Propaganda" und damit als "unwissenschaftliche Geschichtsschreibung" bezeichnet (S. 57), sieht sie besonders die Deiokes-Geschichte als "erzählerische Erforschung der Vorgeschichte der eigenen, griechischen Geschichte durch die Daten einer fremden, bereits dokumentierten Geschichte" (S. 61f.). Abgesehen von einer problematischen Gleichstellung der orientalischen Annalen mit der griechischen Geschichtsschreibung und dem auffallenden Gegensatz zu Wiesehöfers Beitrag, impliziert diese Aussage fälschlicherweise, dass Herodot die "fremde Dokumentation" lesen und rezipieren konnte. Besonders die Arbeiten von R. Rollinger und R. Schmitt haben aber gezeigt5, dass Herodot nicht in der Lage war, keilschriftliche Quellen zu lesen und einzuarbeiten. Zudem lehnt Patzek damit Meiers Konzept der „Mythhistorie“ als der Einbindung der Historie in die mythische Vorzeit in Herodots Werk ab, ohne allerdings argumentativ auf seine Darstellung einzugehen. Die "Rekonstruktion fremder historischer Daten" (S. 62) betrifft dabei allerdings nur Informationen, die allgemein das Hauptthema der Persergeschichte betreffen. Sie sind nur in nicht-griechischem Sinne als "fremd" zu verstehen, eine Perspektive, die wiederum zu Patzeks eigenem Objektivitätspostulat im Gegensatz steht. Stattdessen erklärt sie, wie die Griechen und ihr Konflikt mit den Persern immer mehr in den Vordergrund der Erzählung rücken, ohne auf den Auslöser dieses Konfliktes einzugehen, was jedoch im Kontext der 'vorzeitigen' Deiokes-Anekdote von Bedeutung wäre.

In diesem (von Patzek unglücklich formulierten) "damaligen zentralen weltgeschichtlichen Geschehen" versteht sie den Griechen-Perser-Gegensatz als "epochale Wende", wobei beides allein für die griechische Perspektive zutrifft, die eine Öffnung nach Osten erfuhr (S. 63). Der Mederlogos soll die Perser mit dem assyrischen Großreich in "historischer (!) Tiefendimension" verbinden (S. 63f.). Patzek nimmt hierfür historisch gesicherte Ereignisse zum Mederreich, Fraortes und Kyaxares an 6 und verweist sogar auf Wiesehöfers Beitrag, ohne aber zu erläutern, weshalb sie im Gegensatz zu diesem zumindest für den ersten Teil der Gründungsgeschichte von einer Historizität der herodoteischen Darstellung ausgeht. Sie glaubt, Herodot habe sein - sie meint: "historisches" - Wissen von den Medern (direkt?) aus den assyrischen und babylonischen Quellen bezogen.7 Doch allein das Wiederfinden historischer Einzelinformationen in assyrischen und babylonischen Quellen ist kein Nachweis dafür, dass Herodot diese tatsächlich benutzt hat. Über den offensichtlichen Gegensatz von Historischem und Fiktivem, besonders in der modellhaften Beschreibung vom Aufstieg des Deiokes, flüchtet sich Patzek schließlich in den Kompromiss, Züge der Erzählung "aus Wahrscheinlichkeitsgründen in die historischen Gegebenheiten einzuordnen" (S. 68). Sie betont dabei selbst, dass die Erzähltopoi von Herodot in ein historisches Milieu eingebettet würden. Allerdings wird ihr in Bezug auf ihre These von der Historizität der Deiokes-Geschichte nicht bewusst, dass es sich eben um literarische Topoi und gerade nicht um historische Tatsachen handelt. Die Komplexität dieses literarischen Entwurfes hat dagegen Walter in seinem Beitrag deutlich herausgearbeitet.

Laut Patzek habe Herodot im zweiten Teil der Anekdote seine Nachrichten aus "Anschauungsquellen" bezogen (S. 68). Sie verweist damit allgemein auf Herodots Rückgriff auf die "zeitgenössische Anschauung der persischen Monarchie" (S. 68). Somit rückt die Deiokes-Anekdote in ein diffuses Bild zwischen Fiktion und historischer Konstruktion. Patzek versteht die Erzählung als eine Gründungsgeschichte, die aber von den Mythen durch die rationalisierte Gedankenführung zu unterscheiden sei (S. 69). Dieser Schluss - eigentlich fehlt ein solcher als abschließendes Fazit ihrer Darstellung - ist für Patzeks Artikel insgesamt symptomatisch. Die Vernetzung zu den anderen Beiträgen fehlt nicht nur formal, sondern scheint geradezu inhaltlich vermieden zu werden, so wie auch ansonsten eine Diskussion widersprüchlicher Ansätze ausbleibt. Stattdessen zieht sich Patzek in eine theoretisierende, sprachliche Abstraktion zurück, die sowohl den Bezug zu ihrem Material als auch ihre interpretatorischen Theorien nur schwer nachvollziehbar macht und künstlich verkompliziert. Besonders ärgerlich sind hierbei zahllose Widersprüche, sachliche oder formale Fehler sowie ihr argumentativer 'Schlingerkurs'.8 Als Fazit bleibt nur: Herodots Vorlagen, seine historischen Kenntnisse und ihre Verarbeitung bleiben nach Patzeks Darstellung unklar, ebenso sein literarisches Konzept und sein Umgang mit Fiktionalität und Geschichte bzw. deren explizite Definition. Über die Deiokes-Geschichte, dem eigentlichen Thema des Bandes, erfährt der Leser so gut wie nichts.

Der abschließende Beitrag von Uwe Walter ("Da sah er das Volk ganz in seiner Hand - Deiokes und die Entstehung monarchischer Herrschaft im Geschichtswerk Herodots", S. 75-95) geht von den zentralen Fragen griechischer Autoren zu Institutionalisierung, Partizipation und Legitimation von Macht bzw. Herrschaft aus. Demnach habe Herodot, im Gegensatz zu Thukydides, das Problemfeld der Macht in einer ethno-politischen Dimension differenziert und daher weitaus komplexer dargestellt. Anhand der Verfassungsdebatte zeigt er, dass Herodot die Ausbildung von Macht sowie ihre "polar entgegengesetzte Möglichkeit von Freiheit" als kulturübergreifende Universalien voraussetzt (S. 77f.). Dieser theoretischen Grundlage lässt Walter eine kurze, kommentierte Paraphrase der Deiokes-Geschichte folgen (S. 78f.) und erweist dabei, dass sie eine scharf konturierte Skizze darstellt, in der alle Details ihren Platz haben (S. 78f.). Ebenso überzeugend zeigt er, ganz im Gegensatz zu Patzeks Argumentation, dass die abstrakte und rationale Sprache dieser Anekdote eine mündliche Überlieferung ausschließt.9 Die vagen Splitter einer Vorstellung vom historischen Deiokes lassen erkennen, daß von Herodot keine "begehbare Brücke" zur realen Geschichte des Vorderen Orients, im Besonderen zur Medergeschichte zu schlagen ist (S. 80). Vielmehr wird die Situation um den Zusammenbruch einer Herrschaftsorganisation literarisch instrumentalisiert, um die Voraussetzungen für einen konstruierten Neuanfang zu schaffen.

Mit der Deiokes-Erzählung als politischem Exkurs wird, ausgehend von der Emanzipierung von assyrischer Fremdherrschaft als "Nullstand" (S. 82), ein dynamischer Prozess der sozio-politischen Konsolidierung eingeleitet. Und trotz bester Voraussetzungen erzählt die Deiokes-Geschichte in einem "negativen Demokratiediskurs" vom Scheitern der Freiheit bei den Medern (S. 83). Herodot, der die Begriffe Tyrann, Basileus und Despot in der Anekdote annähernd synonym verwendet, rekurriert damit nicht nur auf das Bild des orientalischen Herrschers, sondern auch auf das des typischen, griechischen Tyrannen in spezieller Parallelität zur Figur des Peisistratos (S. 86). Zugleich entspricht der Herrscherhabitus dem griechischen Bild vom persischen Großkönigtum Dareios' I. Die Bezüge zu Peisistratos und Dareios I. - im Besonderen mit Blick auf die Verfassungsdebatte - lassen als Grundthema die Auseinandersetzung zwischen Tyrannis und Aristokratie erkennen. Deiokes dient hier als inhaltlich verbindender, aber ansonsten "beziehungsloser Modellmonarch" (S. 89). In Herodots Reflektieren über die politischen Grundkonstellationen verweisen die Deiokes-Geschichte als "Modell" und die Verfassungsdebatte des Dareios als "Theorie" aufeinander. Sie verkörpern die Hauptantipoden Demokratie und Monarchie, die erste durch die Folge der verschiedenen Phasen, letztere durch das Gegenüberstellen der Alternativen (S. 90).

Die Deiokes-Anekdote, das zeigt Walters Beitrag unzweifelhaft, ist eine typisch griechische, literarische Konstruktion aus athenischer Perspektive, die eine vorzeitige, in Meiers Worten mythhistorische Charakterisierung der Perserherrschaft vorbereitet. Das belehrende Fazit der Deiokes-Anekdote führt dem Leser folgende moralische Erkenntnis vor: Der Erhalt der Demokratie ist mühsam, der leichtere Weg aber, Herrschaft und Politik an einen Monarchen zu delegieren, führt zwangsläufig zu Willkür und zum Verlust der politisch aktiven Sphäre. Walters Beitrag verbindet mit dieser literaturtheoretischen Interpretation eines griechischen Verfassungsdiskurses harmonisch die Beiträge von Wiesehöfer und Meier zu einer komplexen Deutungseinheit als historischem Kommentar. Gerade diese interessante und anregende Kombination einer derartigen Herodotkommentierung weckt den Wunsch nach mehr. So hätte die Bandbreite der intra- und interdisziplinären Kommentierung durchaus noch weiter ausgeführt werden können. Die detailreiche Intensität der Interpretationen verlangt z.B. nach Beiträgen der griechischen Philologie, Archäologie und Altorientalistik, was umso deutlicher den Erfolg des interpretatorischen Ansatzes bestätigt. Der anregende Band macht als exemplarische Skizze die Notwendigkeit solch eines Vorhabens in gelungener Weise bewusst. So bleibt nur zu wünschen, dass ein derartiges Kommentarprojekt auch tatsächlich angegangen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Lanfranchi, G. B.; Roaf, M.; Rollinger, R. (Hgg.), Continuity of Empire (?). Assyria, Media, Persia, Padova 2003 (vgl. die Rezension von M. Schuol, H-Soz-u-Kult, 12.07.2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-033).
2 Bichler, Reinhold, Herodots Welt, Berlin 2000, S. 285-288, 332f.; ebenso Bichler, Reinhold; Rollinger, Robert, Herodot, Hildesheim 2000, S. 34-36, 66; Bichler, Reinhold, Der Synchronismus von Himera und Salamis. Eine quellenkritische Studie zu Herodot, in: Weber, E.; Dobesch, G. (Hgg.) Römische Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik (FS A. Betz), Wien 1985, S. 59-74.
3 Siehe dagegen Herodots Prooemium.
4 Rollinger, Robert, Herodotus, in: Encyclopaedia Iranica XII, 3, New York 2003, S. 254-288; Ders., Herodots babylonischer Logos (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 89), Innsbruck 1993; Sancisi-Weerdenburg, Heleen, The orality of Herodotus' Medikos Logos or: The Median empire revisited, in: Sancisi-Weerdenburg, H.; Kuhrt, A.; Root, M. C. (Hgg.), Continuity and change (Achaemenid History 8), Leiden 1994, S. 39-55.
5 Rollinger, Robert, Herodots babylonischer Logos (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 89), Innsbruck 1993, S. 46-66, 168f.; Schmitt, Rüdiger, Assyria grammata und ähnliche. Was wußten die Griechen von Keilschrift und Keilinschriften?, in: Müller, C. W.; Sier, K.; Werner, J. (Hgg.), Zum Umgang mit fremden Sprachen in der griechisch-römischen Antike (Palingenesia 36), Stuttgart 1992, S. 21-35.
6 Vgl. auch S. 53, wo sie die Deiokes-Geschichte als "historisch recherchierte Geschichte" und als "historisch-authentisch" ansieht.
7 Vgl. dagegen die Beiträge in Lanfranchi; Roaf; Rollinger (wie Anm. 1) zur auffallenden Bedeutungslosigkeit der Meder in den orientalischen Quellen: Liverani, Mario, The Rise and Fall of Media (S. 1-12), Radner, Karen, An Assyrian View on the Medes (S. 37-64), Lanfranchi, Giovanni B., The Assyrian Expansion in the Zagros and the Local Ruling Elites (S. 79-118), Jursa, Michael, Observations on the Problem of the Median "Empire" on the Basis of Babylonian Sources (S. 169-180).
8 Um nur einige Beispiele aufzuführen: Patzek datiert den Angriff der Meder auf das Assyrerreich in das Jahr 614 v.Chr., während Wiesehöfer das Datum 615 v.Chr. angibt; ebenso begründet sie die Historizität der herodoteischen Meder aus den assyrischen Texten mit deren Angabe zu Deiokes als Mannäer. Gerade dies war allerdings für Wiesehöfer und Meier aufgrund der großen räumlichen Distanz zu Medien ein entscheidendes Argument gegen eine Gleichsetzung von Deiokes mit Daiukku; schließlich zitiert sie wörtlich Amélie Kuhrt, vergisst aber die zugehörige Literaturangabe (S. 66). Während sie stets eine Rezeption der assyrischen Königsannalen voraussetzt, nimmt sie diese auf S. 70 unerwartet zurück. Auch als Gesprächspartner orientalischer Berichterstatter, so Patzek auf S. 70, sei Herodot plötzlich ungewiss. Dies gipfelt schließlich in dem krassen Widerspruch, dass Herodots Sprache der Perser nicht ihrem eigentlichen Habitus entspreche (S. 70), obwohl Patzek selbst auf S. 60 - ebenso wenig begründet - die Echtheit der persischen Sprach- und Umgangsformen bei Herodot betont hat.
9 Diesem Widerspruch schien Patzek entgehen zu wollen, indem sie am Ende ihrer Darstellung selbst die von ihr postulierte mündliche Überlieferung historischer Angaben bei Herodot plötzlich leugnet (S. 70).

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